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# taz.de -- Neues Buch von Uwe Timm: Das direkte taktile Verlangen
> Uwe Timm erinnert sich an seine Kürschnerlehre in den Fünfzigern. Sein
> Erinnerungsbuch „Alle meine Geister“ verbindet Pelze, Literatur und Jazz.
Bild: Eine Ahnung von Wildnis, bevor „Mörder“ an die Pelzgeschäfte geschr…
Uwe Timm hat ein ordentliches Handwerk gelernt, nämlich Kürschner. Das
blitzte ab und zu schon in seinen Texten auf, so im Bestseller [1][„Die
Entdeckung der Currywurst“] von 1993. Da findet der Vater in den
Trümmerhäusern nach dem Zweiten Weltkrieg eine alte Pelznähmaschine,
schneidert der Frau eines englischen Besatzungsoffiziers ohne irgendeine
Ausbildung einen Eichhörnchenpelz zusammen und schafft sich dadurch ein
Auskommen.
In Timms neuem Buch „Alle meine Geister“, das in der Ich-Form erzählt ist
und autobiografische Erinnerungen und Fragestellungen in derselben
kunstvollen Form arrangiert, wie nach langen Vorarbeiten mit komplizierten
Schnittmustern Pelze hergestellt werden, spielt nun der Beruf des
Kürschners die zentrale Rolle.
1955, als der Autor 15 ist, schickt ihn sein Vater in die Lehre zu dem
weitaus etablierteren Pelz- und Modehaus Levermann in der Hamburger
Innenstadt. Die dreijährige Ausbildung erweist sich im Rückblick als eine
umfassende Schule des Lebens.
Der Laden des Vaters, mit der milchweißen Neonröhrenschrift „Pelze“ in
schwungvollen Schreibbuchstaben, hatte im Schaufenster jahrzehntelang eine
kopflose Puppe, die wechselnde Mäntel trug – das zeitgemäßere Geschäft
Levermanns drang dann in den achtziger Jahren zu Echthaarperücken und
schwarz bestrumpften Beinen unter halb geöffneten Pelzmänteln vor, und zwei
Jahrzehnte später gab es nur noch abstrakte Stahlgestelle.
## Aufbruch und Befreiung
Uwe Timms Pelzzeit aber lag in jenen fünfziger Jahren, als noch nicht zu
ahnen war, dass einmal „Mörder“ an die Schaufenster von Pelzgeschäften
geschmiert werden würde. Seine Beschreibungen der Techniken eines
Kürschners und der äußerst präzisen Pelznähmaschinen haben etwas ungemein
Suggestives und zeitlos Entrücktes, fast so, als ob er Adalbert Stifters
Glorifizierung des Handwerklichen vom Kopf auf die Füße stellen wollte.
Es sind Fragmente, die Timm in seinem Band zusammenfügt, und neben den
Pelzen, die eine Eigendynamik entwickeln, geht es um die Erfahrung der
ersten Lektüren, etwa von [2][Salingers „Fänger im Roggen“], und in einem
lustvollen Seitenstrang auch um Jazz. Swing und Bebop standen in Timms
frühen Pelzjahren für Aufbruch und Befreiung, noch ohne den
konsumaffirmativen Beiklang des späteren Pop, und wenn der Geselle namens
Drechsler einen Plattenspieler mitbringt und Charlie Parker oder Miles
Davis auflegt, liegt so etwas wie Entgrenzung in der Luft.
Der „rote Erik“, der vorübergehend in der Pelzwerkstatt auftaucht und schon
in den USA in diesem Gewerbe gearbeitet hat, ist ein „angry young man“: Er
hat in einer Garage ein Klavier stehen und verführt den sich erinnernden
Erzähler dazu, hier schon Vorboten des Free Jazz zu erkennen. Erik
zerstreitet sich mit dem Werkmeister und ist von einem auf den anderen Tag
weg. Er gehört zu denen, deren Schicksal den Erzähler heute umtreibt, und
zählt damit zu jenen „Geistern“, die im Titel aufgerufen werden und einen
Einfluss ausgeübt haben, der erst jetzt so richtig bewusst wird.
Die Pelze, die Literatur und der Jazz spinnen in diesem Buch feine Fäden,
die sich zu einem verführerisch schwebenden literarischen Netz
zusammenfügen. Der Autor improvisiert, reißt verschiedene Themen an, bricht
in unerwartete und virtuose Soli aus. Und an der Wand von Gregor Samsa in
Kafkas „Verwandlung“, die eine gewisse Rolle spielt, hängt nicht von
ungefähr das Bild einer „in lauter Pelzwerk gekleideten Dame“.
Man weiß längst, dass Uwe Timm ein sehr sinnlicher Erzähler ist, der
bestimmte Situationen atmosphärisch ungemein verdichten kann. Hier bekommt
man nun eine Ahnung davon, woher diese Fähigkeiten rühren. Das „Weiche, das
Tierhafte, eine Ahnung von Wildnis, von einer reflexionsfernen Vorzeit“ –
die Tätigkeit des Kürschners ist eng mit dem Erotischen und Sexuellen
verbunden.
## Tanztee und Antrittsbesuche
In den detaillierten Beschreibungen der verschiedensten Tierfelle und ihrer
Verwandlung zu künstlerischen Produkten, mit denen der Handwerker zu seiner
Autonomie gelangt, schwingt viel Untergründiges mit. Die Raffinesse
bestimmter Mäntel und Capes wecken „das direkte taktile Verlangen“. Und
deshalb ist es von einer bezwingenden Logik, dass die Schilderung
literarischer Erweckungserlebnisse von ersten Begierden, die junge
Näherinnen in der Pelzwerkstatt oder Studentinnen an der Modehochschule
auslösen, nicht zu trennen sind.
Als in der Werkstatt eine um wenig Jahre ältere neue blonde Pelznäherin
eingestellt wird, reagiert der Protagonist mit allen Fasern seines eigenen
Körpers. Ein berüchtigter Frauenaufreißer unter den Gesellen nennt sie bald
die „Unberührbare“, und es gehört zu den Hauptmotiven von Uwe Timms Buch,
dass sich der Erzähler beim Jahrzehnte später erfolgenden Schreiben des
Textes an konkrete Namen, die mit frühesten Reizen und Sehnsüchten
verbunden sind, nicht mehr erinnert.
Wie eine Beziehungsanbahnung in den fünfziger Jahren vonstattenging, wird
auf beklemmende Weise vorgeführt: die Tanztees, die Antrittsbesuche bei den
Eltern und die Verlobungen, die Knickse und die Verbeugungen. Bei der Feier
nach der Gesellenprüfung ist die Verheißung nah: Die „Unberührbare“
erscheint und fordert den frisch gebackenen Gesellen bei der Damenwahl zum
Tanz auf. Doch was bleibt, sind nur uneingelöste Sehnsüchte, unverarbeitete
Geschehnisse, lange vergessene Pein.
Es ist typisch für den Erzähler Uwe Timm, dass er nie zynisch wird und dass
die Gefühlsgeschichte immer in die Gesellschaftsgeschichte eingeflochten
ist. Zu den „Geistern“, die er aufruft, gehört auch der Meister Walther
Kruse, die unangefochtene Autorität in der Werkstatt: Betriebsrat,
Sozialist und wegen seines fachlichen Könnens unantastbar. Und auch ein
gewisser „Jensen“ ist prägnant: ein Lebemann, der sich um keine
Konventionen kümmert, aber äußerst gewinnend auftreten kann. Eine
gemeinsame Fahrt nach Schweden hat etwas Horizonterweiterndes, und dass
eine gewisse Kristina dem Helden zum Abschied einen Gedichtband schenkt,
ist in diesem Buch von einer unwiderlegbaren Konsequenz.
## Freundschaft mit Benno Ohnesorg
Vielleicht die schönste Figur heißt mit Spitznamen „Johnny-Look“, weil man
sich über sein Wolkenguckertum lustig macht, ein Staunender, ein Grübler
und Leser – ein Künstlertyp, der in der Pelzwerkstatt immer nur gehänselt
werden würde, wenn er nicht so herausragende Fähigkeiten hätte. Mit
Johnny-Look zieht der Protagonist durch die Kneipen und die Jazzclubs, und
er erhält vor allem lang nachwirkende Literaturhinweise. Irgendwann ist
Johnny-Look nicht mehr auffindbar und nach Westberlin verschwunden.
Mit Westberlin ist auch [3][der Name von Benno Ohnesorg] verknüpft, durch
seinen Tod nach dem Schuss eines Polizisten während einer Studentendemo
1967. Uwe Timm hat schon vor Jahren ein Buch über seine Freundschaft mit
Benno Ohnesorg veröffentlicht, mit dem er auf einem Ganztagskolleg in
Braunschweig in zwei Jahren das Abitur nachholte. Dass die
Literaturzeitschrift, die er mit Benno Ohnesorg gründete und die nur eine
Nummer lang Bestand hatte, den Titel „teils-teils“ trug, nach einem Gedicht
von Gottfried Benn, hat etwas mit der Kürschnerlehre zu tun und mittelbar
auch etwas mit Johnny-Look.
So schließen sich die Kreise, wenn auch nie ganz vollständig. Es bleiben
die Leerstellen, die nur durch die Literatur ausgefüllt werden können. Uwe
Timms „Alle meine Geister“ ist teils wehmütig und teils erfrischend, aber
vor allem ein sehr schönes Buch, das die Gegenwart auf wunderbare Weise
aufhebt.
24 Oct 2023
## LINKS
[1] /Buch-Zwischen-Himmel-und-Elbe/!5714558
[2] /100-Geburtstag-von-J-D-Salinger/!5562297
[3] /Todestag-von-Benno-Ohnesorg/!5411802
## AUTOREN
Helmut Böttiger
## TAGS
Literatur
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Geschichte
Literatur
Schwerpunkt Rassismus
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deutsche Literatur
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