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# taz.de -- Thema Familie in der deutschen Literatur: Diktaturen in unserem Woh…
> Von Uwe Timm bis Katja Petrowskaja, von Frank Witzel zu Guntram Vesper –
> warum ist deutsche Literatur so vernarrt in Familiengeschichte?
Bild: Ein Blick ins Familienarchiv
Manchmal kann man Literaturgeschichte auf den Tag genau datieren. Der
Literaturkritiker Volker Hage stellte am 16. März 2003 im Spiegel unter dem
Titel „Die Enkel wollen es wissen“ fest, eine „Enkelgeneration“ von
Schriftstellern interessiere sich neuerdings besonders für die Erlebnisse
ihrer in Weltkrieg und Nationalsozialismus verstrickten Großväter und
-mütter. Der Artikel ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Einfluss von
Literaturkritik auf literarische Produktivität. Denn Hage postulierte an
jenem Montag – auf denkbar begrenzter Textgrundlage, die man ganz gut auch
anders (oder gar nicht) hätte interpretieren können – ein neues Genre. Er
erfand die Bücher, die man seither dem „neuen deutschen Familienroman“
zurechnet.
Und tatsächlich: von Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ aus dem Jahr
2003 bis zu Per Leos „Flut und Boden“ und Naomi Schencks „Mein Großvater
stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 13“ hat Volker Hages Anregung eine
ausgedehnte familienhistorische Literaturproduktion hervorgebracht. Fast
alle bedeutenden Literaturpreise der vergangenen Jahre gingen an Bücher,
die Volker Hage 2003 prophezeit hat: Frank Witzels „Die Erfindung …“, Uwe
Tellkamps „Der Turm“, Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, K…
Petrowskajas „Vielleicht Esther“, „Frohburg“ von Guntram Vesper.
In den neuen deutschen Familienroman ist das neue Interesse an nicht
fiktionaler Literatur ebenso eingegangen wie das literarische Vorbild W. G.
Sebalds, die Tradition der Mikrohistorie, das Interesse an der
„Erinnerungskultur“, der Erfolg der „Generationenbücher“ Florian Illie…
und David Wagners, die Neuentdeckung historischer Tagebücher und
Alltagsdokumente durch Walter Kempowski und nicht zuletzt die Erfahrungen
einer jüngeren Schriftstellergeneration mit der Psychoanalyse.
Ihre Erinnerungsarbeit bearbeitet einen Zeitraum, den die
Überlieferungsforschung als den Three Generations Reachback bezeichnet.
Drei Generationen – dieser Abstand scheint der Entstehung historischen
Bewusstseins besonders günstig zu sein. Er ist kurz genug, einen
persönlichen und familiären Bezug zur Geschichte zu ermöglichen, und lang
genug, die Ereignisse historisch, das heißt im Licht ihrer fortdauernden
Bedeutsamkeit zu betrachten.
## Ungewohnte Normalität
Dabei ist das starke zeithistorische Interesse der deutschen Literatur in
den ersten beiden 2000er Dekaden nicht schwer zu erklären. Beide
totalitären Bewegungen des zurückliegenden Jahrhunderts,
Nationalsozialismus wie Kommunismus, waren in Deutschland an der
Staatsmacht gewesen; und zum ersten Mal seit den zwanziger Jahren nahm
jetzt ein vereinigtes Deutschland die Chance wahr, seine europäische und
globale Rolle als demokratische Mittelmacht zu spielen.
Nach langer Befangenheit wegen der Nachwirkungen des Nationalsozialismus
(und einer kürzeren und oberflächlicheren durch die sich schnell
verflüchtigenden Erinnerungen an den deutschen Kommunismus) war eine
erfreuliche, aber auch ungewohnte Normalität zustande gekommen. Sie löste
gleichsam unvermeidlich literarische Tiefenbohrungen in die Geschichte,
familiäre Suchbewegungen und individuelle Selbstbefragungen aus. Die dem
Land überraschend zugewachsene neue Rolle erforderte eine nachholende
Selbstreflexion.
Weniger auf der Hand liegt die Erklärung dafür, dass sich das neue
historische Interesse seit Beginn des Jahrhunderts in dieser auffälligen
Weise gerade familienhistorisch ausprägte. Vermutlich ist sie im
totalitären Charakter beider deutscher Diktaturen zu suchen. Indem das
„Dritte Reich“ und die DDR ihre Untertanen ganz, mitsamt ihren
Lebensmenschen, ihren Gefühlen, ihren innersten Gedanken und privaten
Lektüren in sich hineinzuziehen versuchten, drangen sie ununterscheidbar in
ihr Innenleben. Sie wurden sozusagen Teil der Familie. Die Bilder Hitlers
und Stalins hingen nicht nur in den Büros der Obrigkeit, sondern oft auch
in den Wohnzimmern der Beherrschten. Die nachholende literarische Kritik
der beiden deutschen Diktaturen führte zwangsläufig auf die Familie, weil
faschistische wie kommunistische Machthaber sie zur Agentur ihres totalen
politischen Anspruchs gemacht hatten.
## Literarische Selbsterforschung der Berliner Republik
Auch das eigenartige Changieren zwischen Fiction und Non-Fiction im neuen
Familienroman scheint sich aus der Struktur ihrer beiden geschichtlichen
Gegenstände zu erklären.
Denn die literarische Selbsterforschung der Berliner Republik reagierte auf
zwei politische Bewegungen, die sich in verschiedener Weise als
Gesellschaftstheorien verstanden. Der Nationalsozialismus war eine
Pseudotheorie der Rasse, der Kommunismus eine der Klasse. Wahrscheinlich
hängt der auffällig oft nicht fiktionale oder dokumentarfiktionale Zugriff
der mit den zeithistorischen Reflexionsstimmungen der Nullerjahre
sympathisierenden Literatur damit zusammen, dass jene Schriftsteller und
Leserinnen es unternahmen, die wissenschaftsförmigen Grundannahmen von
Nationalsozialismus und Kommunismus durch eine Überprüfung anhand der
Wirklichkeit ideologiekritisch zu zerstören.
Dafür boten sich die verschiedenen nicht fiktionalen Erzählverfahren
besonders an: die mikrohistorische Analyse von Familiendokumenten, die
dichte psychoanalytische Beschreibung von Gefühlen und Atmosphären. Sowohl
das Interesse an der Familie wie die Orientierung an mikrohistorischen
Verfahren bearbeitete die Erinnerung an Unterdrückungssysteme, deren Wesen
darin bestand, ebenso rücksichtslos auf das Privatleben durchgreifen zu
wollen, wie sie pseudowissenschaftlich untermauerte Wirklichkeitsentwürfe
propagierten.
## Familienarchiv als Geschichtsquelle
Literatur als Psychohistorie und das Familienarchiv als Geschichtsquelle –
die jüngste Auflösung der Grenzen zwischen Belletristik und
Geschichtsschreibung eröffnet interessante Forschungsperspektiven für
Literaturgeschichte, Psychologie und Geschichtswissenschaft. Das Textkorpus
der neuen deutschen Familienromane – entstanden im Abstand eines knappen
Jahrhunderts vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Ende jenes alten
Europa, das Stefan Zweig „das goldene Zeitalter der Sicherheit“ genannt hat
– bietet künftiger Forschung die einmalige Gelegenheit, die vielfältigen
Prozesse der Idealisierung, Selbsttäuschung, Legendenbildung, jene Geister
und Träume des historischen Bewusstseins zu erforschen, die zeitgenössische
Schriftstellerinnen und Leser mit der Vergangenheit ebenso verbinden wie
sie uns von ihr trennen.
Dass familiäre historische Erinnerung nicht „vollständig analysiert“ werd…
kann, wie Wittgenstein es ausdrückte, bietet einer neuen Form historischer
Literatur gerade an ihren nicht zu vermeidenden „Unbestimmtheitsstellen“
(Roman Ingarden) poetische Chancen. Deshalb sind diese Bücher zugleich auch
ein besonders fruchtbares Forschungsgebiet für die komplizierten
Umwandlungsprozesse, die Fiktionalität von literarischer Non-Fiction
trennen und diese beiden – in der zeitgenössischen Literaturkritik zu oft
dogmatisch unterschiedenen – Modi des Literarischen in Wahrheit zugleich
auch eng aneinanderknüpfen.
Insofern hat das neue Genre des deutschen Familienromans – man könnte es
als das Leitgenre der frühen Berliner Republik bezeichnen – nicht nur die
Möglichkeiten der Literatur erweitert, sondern auch diejenigen der
Literaturwissenschaft, der Sozialpsychologie und der Geschichtsschreibung.
24 Jun 2016
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
## TAGS
deutsche Literatur
Familie
Literatur
Buch
Literatur
Romanverfilmung
Venezuela
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Buchpreis
Literatur
Holocaust
Katja Petrowskaja
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