# taz.de -- Familienroman „Das Nest“: Geschwister mit Geldsorgen | |
> Das späte Debüt von Cynthia D’Aprix Sweeney ist ein New Yorker | |
> Familienroman. Darin geht es um ein Erbe, das schmaler ist als gedacht. | |
Bild: Eine Straßenecke in Brooklyn | |
Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Aber man kann sicher | |
schlechter fahren als die vier Geschwister Plumb, allesamt Angehörige der | |
New Yorker intellektuellen Mittelschicht, die von ihrem Vater eine | |
ordentliche Summe Geld geerbt haben. | |
Jedenfalls im Prinzip. Doch zu dem Zeitpunkt, als die angesparten 2 | |
Millionen laut Verfügung des Verstorbenen ausgezahlt werden sollen – | |
nämlich zum 40. Geburtstag der jüngsten Tochter Melody –, ist nur noch ein | |
Zehntel davon übrig. Die Mutter hat das Geld verwendet, um dem ältesten | |
Sohn Leo, Charismatiker und Tunichtgut der Familie, aus einer größeren | |
Kalamität zu helfen. | |
Leos Geschwister stürzt das unerwartete Ausbleiben des Geldes in teilweise | |
große Schwierigkeiten. Vor allem die stets recht angestrengte Melody, | |
Mutter zweier Teenager, die ihren Töchtern unbedingt eine gute | |
College-Ausbildung finanzieren will, hatte sehr mit ihrem Anteil gerechnet. | |
Aber auch ihr Bruder Jack hat ernste Sorgen, da er hinter dem Rücken seines | |
Lebenspartners das gemeinsame, geliebte Sommerhaus verpfändet hat. | |
## Subversiv unterfüttert | |
Als einzige der Geschwister ist Bea nicht auf das ererbte Geld angewiesen, | |
eine ehemals vielversprechende, aufstrebende Schriftstellerin, die seit | |
ihrem glanzvollen Debüt vor vielen Jahren nichts mehr zustande gebracht | |
hat. Immerhin hat sie von ihrem verstorbenen Ehemann eine Wohnung in | |
Brooklyn geerbt und verfügt als Redakteurin einer kleinen | |
Literaturzeitschrift über ein bescheidenes, aber ausreichendes Auskommen. | |
Die spät debütierende Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney kennt das Milieu sehr | |
gut, über das sie schreibt, denn sie gehörte lange Zeit selbst dazu. | |
Sozialisiert in der Brooklyner Medien- und Kulturschaffendenszene, | |
verdiente die geborene New Yorkerin ihre Brötchen viele Jahre in der | |
PR-Branche. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in Los Angeles – der | |
Job ihres Mannes machte einen Umzug erforderlich. Aber dafür hat Cynthia | |
D’Aprix Sweeney in diesem Jahr, mit 55 Jahren, ihren ersten Roman | |
veröffentlicht – und gleich, wie allerorten zu lesen ist, einen | |
siebenstelligen Vorschuss dafür kassiert. | |
„Das Nest“ ist auf Anhieb ein Bestseller geworden und hat seine | |
Anfangsinvestition vermutlich schon wieder hereingebracht. Entstanden ist | |
der Roman übrigens, zumindest teilweise, im Rahmen eines | |
Creative-Writing-Programms, das die Autorin zwei Jahre lang besuchte. | |
Wenn man betont kritisch an die Sache herangehen möchte, so wäre | |
wahrscheinlich als Erstes anzumerken, dass diese Herkunft dem Roman auch | |
ein wenig anzumerken ist. So perfekt konstruiert scheint manches, so gut | |
passen hier viele Dinge zusammen, dass der Handlungsaufbau sich auch als | |
eine handwerklich ambitionierte, gut gedrechselte Bastelarbeit beschreiben | |
ließe. Aber dieses oberflächlich ein bisschen zu glatt polierte Gerüst ist | |
sehr gut und sogar ein bisschen subversiv unterfüttert. Eine unprätentiöse, | |
mit natürlichem Schwung daherkommende Erzählsprache sorgt dafür, dass jeder | |
noch so zögerliche Leser umstandslos einfach mitgenommen wird. | |
Wahrscheinlich bräuchte es dafür nicht einmal die aufs Romanganze gesehen | |
ziemlich spektakuläre Anfangsszene, welche Leos großen Fehltritt schildert | |
und in der er sowohl mit heruntergelassener Hose erwischt wird als auch | |
eine junge Frau ihren Fuß verliert. Der Rest des Romans hat rein gar nichts | |
von dieser Sorte großen Dramas. In wechselnder Perspektive folgt die | |
Erzählung den Geschwistern durch die Mühen ihres jeweiligen Alltags und bei | |
der Bewältigung ihrer Existenzsorgen. | |
Der einst so erfolgreiche Leo muss, nach Jahren des Geldverprassens mit der | |
falschen Frau, feststellen, dass die New Yorker Medienwelt sich ohne ihn | |
weitergedreht hat und niemand ihn braucht. Immerhin ist er erfolgreich bei | |
einer Exfreundin untergekrochen, die zwar eigentlich keinen Mann braucht, | |
sich aber gern schwängern lässt. | |
In der Zwischenzeit hat Schwester Melody schlaflose Nächte, weil ihre | |
Familie wahrscheinlich ihr Haus verkaufen und aus der „guten“ Wohngegend | |
wegziehen muss. Bruder Jack entdeckt rein zufällig eine beim Anschlag auf | |
das World Trade Center verschwundene Rodin-Skulptur und prüft die | |
Möglichkeit, sich mit illegalen Methoden seiner finanziellen Probleme zu | |
entledigen. Und Schwester Bea schreibt endlich wieder eine neue Geschichte | |
– mit Bruder Leo in der Hauptrolle, so wie früher. | |
## Feier der Existenzen | |
Es ist einerseits so, als würden die Geschwister auf verschiedenen Planeten | |
leben, so radikal unterschiedlich sind ihre jeweiligen Lebensentwürfe. Doch | |
dies ist New York, und „Das Nest“ ist eben nicht zuletzt ein | |
New-York-Roman, in dem genau dies gefeiert wird: die gleichzeitige Existenz | |
unzähliger kleiner Paralleluniversen, nebeneinander auf engstmöglichem | |
Raum. | |
Das Konzept „Familie“ ist darin nur eine Teilmenge dieser möglichen Welten. | |
Dass es im Laufe dieses Romans ein bisschen mehr wird, dass die | |
Paralleluniversen in der Familie stärker zusammenwachsen – das liegt einzig | |
und allein am „Nest“. Auf diese zärtliche Bezeichnung hatten die | |
Geschwister einst das väterliche Erbe getauft, als sie noch darauf hoffen | |
konnten. | |
Und es ist die große erzählerische Ironie des Romans, dass erst die | |
finanziellen Bedrohungsszenarien, die durch das Ausbleiben des scheinbar | |
sicheren Geldsegens entstehen, die Familie wieder enger zusammenrücken | |
lassen – (womit die einst rein pekuniäre Metapher „das Nest“ schließlich | |
noch mit ganz neuer, alter Bedeutung gefüllt wird). | |
Leider geht das alles natürlich nicht ohne große persönliche Verluste ab. | |
Aber Schwund ist im Leben immer. Und man kann immer neu anfangen. | |
Schließlich ist das hier New York. | |
18 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Literatur | |
Familienroman | |
New York | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Familie | |
Niederlande | |
deutsche Literatur | |
Maxim Biller | |
Teheran | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“: Ganz tief unten im Tal | |
Reinhard Kaiser-Mühlecker porträtiert stille Lebenskämpfe: Sein Roman | |
„Fremde Seele, dunkler Wald“ ist für den Buchpreis nominiert. | |
Roman „Marie“ von Steven Uhly: Das Mädchen aus dem Müll | |
Der Schriftsteller Steven Uhly schreibt über eine einsame Mutter und das | |
Leben ihrer Kinder. Das Übel der Familie ist ein lang gehütetes Geheimnis. | |
Romanepos von J. J. Voskuil: Sieben Ziegelsteine Büroalltag | |
„Seifenoper für Intellektuelle“ oder Weltliteratur? In „Das Büro“ sch… | |
der Niederländer J. J. Voskuil minutiös ein jahrzehntelanges Berufsleben. | |
Thema Familie in der deutschen Literatur: Diktaturen in unserem Wohnzimmer | |
Von Uwe Timm bis Katja Petrowskaja, von Frank Witzel zu Guntram Vesper – | |
warum ist deutsche Literatur so vernarrt in Familiengeschichte? | |
Kritik „Biller Papers“, Teil 8 und Schluss: Wunderbar, witzig, groß | |
Maxim Billers Roman „Biografie“ ist 896 Seiten lang, eine Sprachwand | |
schwerer Themen. Die Kritik gibt es deshalb „in progress“. | |
Deutsch-iranischer Roman: Aus dem grünen Notizbuch | |
Endlich mal eine Autorin, die Aussicht und Zuversicht schenkt: Shida | |
Bazyars vielstimmiger Roman „Nachts ist es leise in Teheran“. |