| # taz.de -- Deutsch-iranischer Roman: Aus dem grünen Notizbuch | |
| > Endlich mal eine Autorin, die Aussicht und Zuversicht schenkt: Shida | |
| > Bazyars vielstimmiger Roman „Nachts ist es leise in Teheran“. | |
| Bild: Teheran bei Nacht | |
| Drei Jahre lang trug Shida Bazyar dieses grüne Notizbuch und diese grüne | |
| Mappe bei sich. Für eine Geschichte, die sie schon sehr viel länger mit | |
| sich trägt. | |
| „Nachts ist es leise in Teheran“, Bazyars Debüt, erzählt von der | |
| Islamischen Revolution 1979 in Iran; aber auch vom schwierigen Ankommen | |
| einer geflohenen Familie in Deutschland 1989; davon, wie Laleh, die älteste | |
| Tochter, mit ihrer Mutter 1999 die Großfamilie in Teheran besucht; und wie | |
| es Mo, ihren Bruder, durch die Grüne Revolution nach den iranischen Wahlen | |
| 2009 doch noch aus seinem dahinplätschernden Studi-Leben reißt. Bazyar ist | |
| eine politisch denkende junge Autorin, man spürt es auf so vielen Seiten – | |
| aber nicht minder ist das Buch ein Familienroman, wenn auch vor | |
| historischem Hintergrund. | |
| Wer nun denkt, Bazyar habe schlicht ihre eigene Familiengeschichte | |
| aufgeschrieben, macht es sich wiederum zu leicht. Natürlich hat vieles | |
| irgendwie auch mit uns und mit Bazyar selbst zu tun, die 1988 im | |
| rheinland-pfälzischen Hermeskeil geboren wurde, deren Eltern aber wie die | |
| Roman-Eltern Behsad und Nahid aus dem Iran flohen. Es wurde für sie, die ab | |
| 1979 auf der Seite der Kommunisten kämpften, gefährlich, als die | |
| schiitischen Fundamentalisten mächtig wurden und mit ihren Gegnern, selbst | |
| den vormals gegen den Schah Verbündeten, kurzen Prozess machten. | |
| Angefangen mit dem Roman hat Shida Bazyar 2012. Mit 15 Seiten daraus wurde | |
| sie prompt ausgewählt zum Literaturkurs in Klagenfurt. In Hildesheim, wo | |
| sie Kreatives Schreiben studierte, hatten ihre Dozierenden ihr vom | |
| vielstimmigen Familienroman abgeraten: „Das ist zu viel. Das ist kein | |
| Erzählkonzept.“ Aber sie wollte es nicht anders. „Auch ein bisschen aus | |
| Trotz“, sagt sie heute bester Laune. | |
| ## Zweifel und Trotz | |
| Jedes der vier Großkapitel im Roman ist mit einer eigenen Stimme erzählt, | |
| innere Monologe unterschiedlicher Familienmitglieder. 1979, 1989, 1999 und | |
| 2009 sind Bazyars Erzählpunkte. „Ich glaube, ich brauche Struktur“, sagt | |
| sie und lacht. 1979 und 2009 standen wegen der politischen Ereignisse in | |
| Iran von Anfang an fest. Bazyar hat sich jede der vier Erzählungen einzeln | |
| vorgenommen, viel recherchiert und sich treiben lassen. | |
| Begonnen hat die Autorin mit dem Jahr 2009: Mo, 23, kommt mit seinem | |
| Geografiestudium in Deutschland nicht in die Gänge, führt ein verlottertes | |
| WG-Leben und kapiert erst spät, was da gerade passiert auf den Straßen in | |
| Iran, noch vor dem Arabischen Frühling. Und was all dies auch mit seiner | |
| Familie und der Zermürbung seines Vaters Behsad zu tun hat. Wer ältere | |
| Erzählungen von Bazyar kennt, weiß, warum sie mit diesem Kapitel begonnen | |
| hat: Der Tonfall eines verpeilten männlichen Ich-Erzählers geht ihr locker | |
| von der Hand. | |
| Bazyar ist 2012 auch selbst mit ihrer Mutter nach Teheran gereist. Als | |
| Touristin, aber auch zur Recherche für den Roman: Stimmung aufnehmen, Teil | |
| der Atmosphäre werden, Gedanken sammeln. Um selbst den Straßenverkehr | |
| beschreiben zu können oder die Rituale, wenn man in Iran Gäste hat. Erst | |
| der Tee, dann das Obst, dann die Nüsse. In Hermeskeil spielte so was keine | |
| Rolle. | |
| ## Jeden Tag drei volle Seiten | |
| Für ihre Arbeit am Roman hat Bazyar alte Nachrichten gesehen, Bücher | |
| gewälzt, Autobiografien von Jasmin Tabatabai bis Bahman Nirumand gelesen | |
| und Familienromane. Eugen Ruge etwa. Um zu sehen, wie man so was erzählen | |
| kann und wie sie es selbst machen will. Vor allem aber hat sie Zeitzeugen | |
| interviewt, natürlich auch Mutter und Vater. Immer mit Diktiergerät. Wenn | |
| sie im Arbeitsmodus war, wie sie sagt, kam Bazyar auch mit hartem Tobak | |
| klar. Im Roman bringt man den Freund des Vaters zu Tode. | |
| Bazyars Wohnungswände hingen schließlich voller Zitate, die sie | |
| collagierte. Rasch musste sie sich verabschieden von der Idee, alles | |
| reinzukriegen in den Roman. „Ich wollte auch nicht, dass es so nah an dem | |
| ist, was meine Eltern wirklich erlebt haben“, sagt sie. | |
| Bazyars Figuren behalten allesamt etwas in ihrem Inneren, das sie nie nach | |
| außen tragen. „Man könnte fast sagen, sie haben etwas Verlogenes“, urteilt | |
| die Autorin selbst wohl etwas zu hart. Schließlich geschieht das leicht in | |
| inneren Monologen: dass wir als Lesende dichter in den Gedanken der Figuren | |
| sind als irgendwer sonst innerhalb der Fiktion. Seit zehn Jahren habe sie | |
| nicht mehr aus einer auktorialen Perspektive geschrieben, kokettiert | |
| Bazyar. Es gibt keine Anführungszeichen im Roman für direkte Rede. Bazyar | |
| sagt, sie wollte keine Distanz zu den Figuren. Sie hat ihre | |
| selbstauferlegten Regeln als Künstlerin. Dazu gehörte im Schreibprozess | |
| auch: Jeden Tag drei volle Seiten. Egal, ob es frühmorgens schon klappte | |
| oder sie um 23 Uhr noch haderte. „Aber selbst wenn die Hälfte davon Müll | |
| war“, sagt sie „bin ich den Figuren näher gekommen.“ | |
| ## Hoffnungsvolle Volte | |
| Shida Bazyar schreibt Geschichten, seit sie klein war. „Im Pubertätsalter | |
| hab ich halt Pubertätstexte geschrieben.“ Drei Jahre lang beschlich sie nun | |
| das Gefühl, als hätte sie selbst ein kleines Kind. Etwas, das in ihrem Kopf | |
| Aufmerksamkeit sucht. Jetzt ist sie froh, dass die Figuren endlich in die | |
| Welt gelangen. | |
| Neben den vier Großkapiteln gibt es übrigens noch einen undatierten Epilog: | |
| drei Seiten nur, durch die der Roman aber doch noch eine optimistische | |
| Volte schlägt. „Es fühlt sich auch gut an“, sagt Bazyar, „mit Hoffnung … | |
| enden.“ | |
| Dass ihr Buch jetzt von manchen im Literaturbetrieb ob der Fluchtgeschichte | |
| als besonders aktuell gelabelt wird, irritiert Bazyar aber dann doch: „Das | |
| finde ich fast ignorant. Wie eingeschränkt ist denn die Sicht! Neu ist | |
| vielleicht, dass seit letztem Jahr niemand mehr sagen kann: ‚Das betrifft | |
| mich nicht.‘ “ Und wenn andere jetzt erwarten, dass sie immer auch über | |
| Migration schreibt? „Ich bin einfach nicht empfänglich für | |
| Erwartungshaltungen“, kontert sie. „Ich kann mir auch vorstellen, | |
| irgendwann wieder über deutsche weiße WGs zu schreiben | |
| oder’nenabgedroschenen Berlin-Roman.“ Dann lacht sie aber doch so sehr, so | |
| hoch, dass man ihr kein Wort davon glauben will. | |
| Das hingegen schon: dass sie als Schriftstellerin nicht für Debatten | |
| herhalten will, auch wenn sie die wichtig findet und „ihren Senf dazugeben | |
| will“: Ja, das mache einen Unterschied, ob man als nichtweiße Frau durch | |
| Berlin geht oder durch Hildesheim: „Wie unverhohlen man dort angestarrt | |
| wird! An manchen Tagen hatte ich keinen Bock, das Haus zu verlassen. Ich | |
| war dann aber dreist und starrte zurück, dachte ‚Gewonnen!‘ “ | |
| ## Politisch denkende Autorin | |
| Auch der Literaturbetrieb habe viele Barrieren und Schranken. Sie selbst | |
| hatte das Privileg, sagt sie, „so’nenQuatsch studieren zu dürfen. Das haben | |
| viele Leute nicht, deren Geschichten wichtig wären.“ Bazyar hält inne und | |
| man spürt Traurigkeit. „Und auch wenn sie gehört werden, werden sie | |
| trotzdem in einer Schublade wahrgenommen. Das ist vielleicht auch | |
| menschlich, aber trotzdem eine weiße Perspektive. Wenn du selbst geflüchtet | |
| bist oder Kind von Geflüchteten, ist das für dich keine Schublade, sondern | |
| die Normalität.“ | |
| Es tut gut, dass Shida Bazyar, sicher eine der großen jungen Autorinnen, so | |
| politisch denkt. Und mindestens genauso gut, dass man ihr das nicht einmal | |
| zugutehalten muss, um schätzen zu können, mit welch literarischer Bravour | |
| sie uns in leisen und lauten, rebellischen, aber öfter poetisch subtilen, | |
| abgeklärten wie auch Aus- und Zuversicht schenkenden Sätzen in eine | |
| erzählte und noch zu erzählende Welt zieht, die viel weiter reicht als | |
| unser oder ihr eigenes Leben. | |
| 21 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
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