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# taz.de -- Deutscher Buchpreis für Eugen Ruge: Was will man mehr
> Eugen Ruges souveräner, lebenskluger Roman "In Zeiten des abnehmenden
> Lichts" erhält den Deutschen Buchpreis - das ist super.
Bild: Hat völlig zu Recht den diesjährigen Deutschen Buchpreis bekommen: Euge…
Man muss den deutschen Literaturbetrieb nicht immer verstehen. Eugen Ruges
"In Zeiten des abnehmenden Lichts" ist ein Roman, über den man sich absolut
freuen kann. Er macht Geschichte begreifbar. Er erzählt, so interessant wie
glaubwürdig, von menschlichen Lebensläufen aus dem verdammten vergangenen
Jahrhundert. Er ist lebensklug und souverän geschrieben. Er findet
großartige künstlerische Lösungen für die Anordnung des komplexen
Materials.
Völlig zu Recht hat er nun also den diesjährigen Deutschen Buchpreis
bekommen. Und doch ist nun ein Vorbehalt spürbar und so etwas wie ein
schlechtes Gewissen. Ein bisschen so, als habe man mit Ruge die deutsche
Literatur unter Wert verkauft. Aber das ist überhaupt nicht wahr. Eher
scheint sich in dem Vorbehalt noch ein uneingestandener Rest an
Kunstgläubigkeit und Genieästhetik auszutoben, von dem der deutsche
Literaturbetrieb offenbar nicht lassen kann.
Der erstaunlich oft mit Besserwissermiene vorgetragene Vorwurf lautet:
Ruges Roman sei "so ein bisschen konventionell erzählt". Was man dazu
wissen muss: Diese Wendung ist im deutschen Literaturbetrieb nicht als
These gemeint, über die man dann diskutieren kann, sondern als Todesurteil.
Sie lautet im Klartext: Dieser Roman ist vielleicht "ganz nett" und "gut
lesbar", aber im Grunde etwas für Doofis, für den Mainstream, nichts für
die literarisch Eingeweihten, für die die "Sprache" zählt oder die
"Literarizität". Wirklich wahr: Der Satz, ein Roman sei "ganz wunderbar
literarisch", gehört zu den größten Floskeln, die man hierzulande in
Literaturhäusern und auf Lesefestivals hören kann. Er ist längst mindestens
genauso Mainstream wie Frank Schätzing.
## Realistisches Erzählen
Was hier durchschlägt, ist ein irgendwie automatisierter Affekt gegen
realistisches Erzählen an sich. Es wird der Seite des Mainstreams
zugeschlagen und gleichzeitig als Affirmation des Bestehenden gewertet,
weil dadurch der Wirklichkeit keine zweite Ebene entgegengehalten werde.
Positiv wird davon - weil man Avantgarde nicht mehr sagen kann, ohne hinter
vorgehaltener Hand zu kichern - ein experimentelles Erzählen abgegrenzt,
das Schaffen eines Sprachkunstwerks; mehr oder minder heimlich traut man
diesem nichtrealistischen Erzählen dann auch noch utopische Potenziale zu,
weil es sich gegen das Reale wenden soll - hier wirken Reste einer
idealistischen Ästhetik nach.
Vor einer Literaturkritikergeneration wurde einmal versucht, das
realistische Erzählen, vor allem US-amerikanischer Herkunft, gegen das
experimentelle Erzählen auszuspielen, sprich: nicht mehr Fragment, Hermetik
und Riss der Moderne, sondern John Updike und Philip Roth als Maßstäbe
durchzusetzen; wahrscheinlich rühren von dieser Zeit noch die inzwischen
ins Unbewusste eingesickerten Frontlinien her. Dieser Vorstoß hat
allerdings genau diese starre Unterscheidung zwischen realistischem und
experimentellem Erzählen wiederholt, nur mit umgekehrten Wertungen - dabei
ist doch genau die Starrheit dieser Unterscheidung das Problem. Sie ist
längst nicht mehr zeitgemäß.
Man schaue sich das Spiel mit den Figurenperspektiven und die
unterschiedlichen Zeitebenen bei Eugen Ruge nur einmal genauer an. Vieles,
was für die Handlung dieses Familienromans aus der DDR wesentlich ist, wird
nur indirekt erzählt: die Trennung von Alexander und Melitta, der Tod des
kommunistischen Familienpatriarchen, die Bandbreite von sozusagen
offizieller literarischer Systemopposition bis zum dissidentischen
Bohemeleben im Prenzlauer Berg der 70er und 80er Jahre. Das ist schon alles
sehr gut gemacht, hochreflektiert und in den allermeisten Wendungen sehr
subtil (es gibt ein paar Ausnahmen, Kurts traumatische Leiden in der
sibirischen Verbannung sind etwas zu durchsichtig erzählt). Auf drei
Zeitebenen arbeitet Ruge, aus einem halben Dutzend Figurenperspektiven
setzt er das Mosaik der Handlung vom Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 2001
zusammen.
Konventionell? Nein. Eugen Ruge muss seinen literarischen
Gestaltungswillen, der diesem Projekt, Lebenserfahrungen des vergangenen
Jahrhunderts erzählbar zu machen, zugrunde liegt, nur nicht so prunkend in
den Vordergrund schieben. Er muss sich nicht so in die Kunstanstrengung
retten wie Uwe Tellkamp mit seinem "Turm", muss keine Trostperspektiven und
keine dissidentischen Heldengeschichten anbieten.
Dieser Roman hat etwas zu erzählen. Er erzählt es großartig. Was will man
mehr? Dieser Deutsche Buchpreis ist super.
11 Oct 2011
## AUTOREN
Dirk Knipphals
Dirk Knipphals
## TAGS
Romanverfilmung
deutsche Literatur
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