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# taz.de -- Der Lesewettbewerb Open Mike in Berlin: Dichten und Preisen
> Wie schön ist es doch, stillzusitzen und jungen Autoren zuzuhören. Etwa
> beim Open Mike, dem wichtigsten deutschsprachigen
> Literaturnachwuchswettbewerb.
Bild: So sehen Siegerinnen aus: Christina Böhm beim Open Mike.
BERLIN taz | Angeblich gibt es 8.000 Schriftsteller in Berlin. Vielleicht
sind es auch nur 1.000. Berlin ist jedenfalls die Stadt mit der höchsten
Autorenquote in Deutschland. Seit 1993 findet hier zudem der internationale
Open-Mike-Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik statt, der
als wichtigster Literaturnachwuchswettbewerb im deutschsprachigen Raum
gilt.
Teilnahmeberechtigt sind Menschen bis 35, die noch kein eigenes Buch
veröffentlicht haben. Drei Preise teilen sich 7.500 Euro miteinander. Jedes
Jahr bewerben sich etwa 700 AutorInnen. Die 23 eingeladenen Dichter
erhalten 100 Euro Startgebühr, sind meist privat untergebracht und die
Preisträger fahren direkt danach nach Wien, Zürich und Frankfurt, um dort
ihre Texte zu präsentieren.
Teils ist der Open Mike wie eine Buchmesse im Kleinen – mit Verlegern,
Agenten, Lektoren, Juroren, Kritikern und Autoren, die sich in den
Zwischenräumen meist immer noch rauchend austauschen, teils auch wie ein
ambitioniertes Kurzfilmfestival mit 15-Minütern. Das Publikumsinteresse ist
groß; der oktagonförmige Veranstaltungssaal "Wabe" im Ernst-Thälmann-Park
war fast immer leicht überfüllt mit mehr als 250 Zuschauern.
Das Setting für die Lesungen ist hervorragend; das Bühnenlicht weich, das
Publikum ist aufmerksam, klatscht sehr gerne und feiert – zu Recht – mehr
Texte als es Preise gibt.
Ich war ziemlich lange nicht mehr bei solchen Wettbewerben und wundere mich
darüber, dass es keine Dissonanzen zu geben scheint, keine
Fraktionierungen, keine Ablehnung des Betriebs etwa seitens der Autoren;
dass das Etwas-toll-Finden nicht wie früher so oft von der entschiedenen
Ablehnung eines anderen begleitet wird. Höchstens gibt es mal ein
vorsichtiges Nichts-damit-anfangen-Können, wie bei dem sprachartistischen
Text "Die Ameise" des aus Polen stammenden Mathematikers Peter Parczewski.
## Seltsam klingende Nichtse
Sein Text handelte von einem Waldspaziergang in der Kindheit plus Ameise.
Beim Zuhören verlor man oft den Zusammenhang, aber erkannte doch eine ganz
eigentümliche Melodie. Ganz seltsam, wie seine mit Fremd- und komischen
Wörtern gespickten, grammatisch vernünftigen (Nebensatzkaskaden) Sätze sich
manchmal in seltsam klingenden Nichtsen auflösten.
"Der Weltzwischenraum war lebendig umfinstert, vom Almanach der Purzelbäume
bestimmt, ein Bombast von bacchantisch röchelndem Schaum, und nur die
fähigsten Miniaturen, so ist die Natur allemal, schwangen erweiternd sich
auf, um borealen Wolken, in bitterer Milde, Fügung zu verliehen." Man
schwankte, ob man das manieriert oder genial finden sollte.
Die meisten anderen Texte waren sehr klar und oft, wie moniert wurde, mit
einer "erschreckenden Professionalität" geschrieben und vorgetragen.
Manchmal freute man sich schon, wenn sich jemand kurz versprach. Vieles
konnte man sich sehr gut als kleinen Film vorstellen. Die Geschichte eines
gemobbten Außenseiters an der Schule (Michael Sieben), ein betrunkener
Heiligabend auf St. Pauli mit Alkohol und Sex (Janna Steenfatt; es war der
einzige Text mit Sex), Gewalt in der Familie (Nadine dArachart & Sarah
Wedler), Cyberspcae (Ann-Kathrin Roth), Schlachtenlärm in WK2 (Johanna
Hemkentokrax), eine ausufernde, brillant vorgetragene Passage über die
Müritz und den Tiefwarensee als Einleitung eines leicht altmodisch
wirkenden Romans (Anja Kootz).
Der aus Schleswig-Holstein stammende Gewaltfilmer Meter Mütze gehörte zu
den wenigen sozusagen lustig-individualistisch performenden Dichtern.
Vielleicht weil wir uns am Abend zuvor, beim Empfang in der Agentur Gaeb,
oft über Mütze unterhalten hatten, auch weil uns seine biografischen
Anmerkungen gut gefallen hatten, hatte man gleich den Eindruck, als er die
Bühne betrat und seine ersten Worte sprach, dass er bestimmt gewinnen
würde. Was nicht der Fall war.
## Christina Böhm doppelt ausgezeichnet
Zweifach, also auch mit dem taz-Publikumspreis, ausgezeichnet wurde die
35-jährige Juristin Christina Böhm, die einen wunderbaren, bitterkomischen
Text über Weh und Wut einer Autorin vorgetragen hatte. Die anderen zwei
Preise gingen an Joseph Felix Ernst für einen teils experimentellen Text
über Kafka und Dora Diamant, der auch die Notation eines Schachspiels
enthält, und an den am Leipziger Literaturinstitut studierenden Lyriker
Sebastian Unger, der Borges-orientiert zwischen Tier und Pflanze
changierte.
Thomas Wohlfahrt von der Literaturwerkstatt Berlin dachte mit Grauen an
Veranstaltungen zurück, bei denen arrogante Dichter oft das Publikum
beschimpft hätten, und freute sich, dass die Autoren nun netter geworden
seien.
Felicitas Hoppe richtete am Ende als Stimme der Juroren das Wort an die
Autoren und sagte, die Juroren seien sehr beeindruckt gewesen von dem
Auftreten und Lesen der Autoren. Zugleich hätten sie beim Lesen aber
gedacht, "vielleicht lesen Sie mehr, als dass sie schreiben. Und manchmal
hätten wir uns gewünscht: Brüllen Sie doch das mal raus!"
Das Gleiche hört man oft auf Filmfestivals. Dem Publikum und auch mir hatte
aber alles eigentlich ganz supergut gefallen. Es ist so superangenehm, mit
vielen stillzusitzen und junge Autoren lesen zu hören!
7 Nov 2011
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
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Mut zum Experiment.
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