# taz.de -- Roman über Künstliche Intelligenz: Fehler im System | |
> Der Supercomputer ist das Menschlichste, was wir haben. Raphaela | |
> Edelbauer donnert in ihrer KI-Dystopie „Dave“ los wie bei „2001“ von | |
> Stanley Kubrick. | |
Bild: Kann einem Unbehagen verursachen: die mögliche Zukunft | |
Manchmal erschrickt man über Syz. Dann nämlich, wenn es kurz menschlich | |
wird in dem sterilen Laborkosmos, den der junge Programmierer in | |
[1][Raphaela Edelbauers] Roman „Dave“ bewohnt. Wenn er von der Ärztin | |
Khatun Mnajouri schwärmt, von seiner Liebe zur Popkultur der 80er Jahre | |
erzählt. Oder davon, wie sein Vater ihn als Kind verprügelt hat. Syz’ | |
Erinnerungen, seine Imperfektionen: All das, was man als genuin menschliche | |
Eigenheiten begreift, scheinen in seinem Zuhause seltsam fehl am Platze, | |
werden aber dringend benötigt, wie sich bald herausstellen wird. | |
Syz lebt in einer zeitlich nicht näher definierten Zukunft. In einem | |
Betonkubus arbeiten er und Dutzende Wissenschaftler:innen daran, Dave | |
zu erschaffen: einen Supercomputer, eine gottgleiche Künstliche | |
Intelligenz. | |
Mit der lässigen Tech-Elite im Silicon Valley hat die | |
Forschungsgemeinschaft in Edelbauers Roman allerdings nichts zu tun: Nach | |
einer Katastrophe ist die Erde ein postapokalyptisches Ödland, nur die | |
Hoffnung auf die geniale Menschmaschine hält die strikt hierarchisierte | |
Klassengesellschaft im Laborkomplex noch am Laufen. Syz’ Leben als einer | |
von vielen endet, als er zum Mittelpunkt einer geheimen Mission wird. | |
Während die anderen Forscher:innen an sogenannten Scripts für Dave | |
tüfteln – Basiskompetenzen der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, die | |
skizzieren, wie man mit einer bestimmten Situation umgeht –, soll Syz dem | |
Supercomputer leihen, was diesem noch fehlt: sein Bewusstsein. | |
Dafür erzählt er Dave Geschichten aus seinem Leben. Anfangs ist Syz noch | |
begeistert von den Privilegien, die ihm seine Beförderung verschaffen. | |
Während er aber der Maschine seine Biografie offenlegt, wachsen seine | |
Zweifel an dem Unterfangen. | |
## Ein mitfühlendes Superhirn | |
Mit ihrem Debütroman „Das flüssige Land“ hat sich die 1990 geborene | |
Wienerin Edelbauer einen Ruf als sperrige, aberwitzige, akribisch | |
recherchierende Autorin gemacht. Der Plot, um den sie nun ihre | |
Zukunftserzählung über sehr gegenwärtige Fragen strickt, klingt bekannt, | |
immerhin arbeiten sich Literatur und Popkultur seit Jahrzehnten an der | |
Sehnsucht nach Künstlicher Intelligenz ab. | |
Was an der Idee des rationalen und doch mitfühlenden Superhirns so | |
faszinierend ist, lässt Edelbauer Syz gleich am Anfang erklären: „Wer das | |
Menschliche um jeden Preis erhalten will, geht einem viel grundsätzlicheren | |
Missverständnis auf den Leim: Der Computer ist nicht nur menschlich – er | |
ist das Beste am Menschen, das Gipfeln seiner vernünftigen Intelligenz.“ | |
Der Mensch erschafft aus eigener Kraft ein Ding, das größer ist als er | |
selbst: Berauschender, paradoxer, verstörender kann keine humane Leistung | |
sein. | |
Eben weil KI ein klassisches Thema für Dystopien ist, kann man Edelbauers | |
Roman natürlich als Fest der Referenzen lesen. Allein Daves Name verweist, | |
je nach Lesart, auf den alttestamentarischen David oder den Astronauten aus | |
Stanley Kubricks Filmklassiker „2001: Odyssee im Weltraum“, der in Streit | |
mit der Künstlichen Intelligenz HAL 9000 gerät. | |
## Ritt durch die Technikgeschichte | |
Aber auch wenn der Roman ein wilder Ritt durch die Technikgeschichte ist, | |
die Hauptaspekte sind uralte Gretchenfragen – nach der Beschaffenheit des | |
menschlichen Bewusstseins, nach der (Un-)Möglichkeit von Selbsterkenntnis, | |
nach Identität. | |
Anfangs fremdelt man noch mit der geschraubten Sprache des Literaturnerds | |
Syz, für den Idioten „imbezil“ statt blöde und Situationen „diffizil“… | |
schwierig sind. Überhaupt muss die Leserin erst lernen, durch Edelbauers | |
Fundgrube der Pop- und Wissenschaftszitate zu navigieren. | |
Nach einem etwas traktatartigen Beginn, der das Kunststück schaffen muss | |
(und auch schafft), die philosophischen Grundprobleme des Romans | |
offenzulegen, findet Edelbauer einen eigenen Sound: oft schroff und | |
funktional wie eine abwischbare Oberfläche, dann plötzlich durchwirkt von | |
einer schwer greifbaren, sehnsuchtsvollen Sentimentalität. Manchmal donnert | |
sie auch los wie [2][Strauss’ „Zarathustra“] bei Stanley Kubrick. | |
## Quasireligiöser Technikglaube | |
Bei aller Schwere ihrer existenziellen Grundfragen erkennt Edelbauer, wie | |
unfreiwillig komisch Optimierungswahn und quasireligiöser Technikglaube | |
sein können. Sie lässt messianische Kulte um Dave entstehen und | |
Splittergruppen ihre Theoriekämpfe ausfechten. | |
„Ich finde es immer ein bisschen komödiantisch, dass Menschen sich einen | |
Tracker an die Hand klemmen, der ihnen sagt, wann sie zu trinken haben“, | |
sagte sie kürzlich im Interview mit dem SRF. „Denn wir haben ja schon einen | |
absolut perfekten Sensor – unseren Körper.“ | |
Die „Körperverachtung zugunsten einer in höheren Sphären schwebenden | |
Intelligenz“, wie sie es formuliert, zeichnet sie in „Dave“ einerseits als | |
Gefahr. Andererseits aber auch: als (allzu) menschliche Schrulle, als | |
Fehler in einem System, das perfekter funktioniert, als wir glauben können. | |
10 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-Das-fluessige-Land/!5629032 | |
[2] /Operettenklassiker-20/!5502178 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
## TAGS | |
Literatur | |
künstliche Intelligenz | |
Dystopie | |
künstliche Intelligenz | |
deutsche Literatur | |
Didier Eribon | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Lernende Maschinen: Entscheiden muss der Mensch | |
Noch kratzen Forscher:innen bei der Künstlichen Intelligenz an der | |
Oberfläche. Vieles ist bisher nur Wunsch und Utopie. | |
Wiedergelesen – Christian Kracht: Oberfläche is over | |
Dieser Tage erscheint Christian Krachts Fortsetzung zu „Faserland“. Nur: | |
Wie gut ist der Roman gealtert und was wurde aus der Literatur der 1990er? | |
Französische Literatur: Die Kronzeugin | |
Mit „Die Scham“ ist ein neuer Band von Annie Ernaux’ | |
autobiografisch-soziologischer Prosa erschienen. Warum können sich gerade | |
alle auf sie einigen? |