| # taz.de -- Wiedergelesen – Christian Kracht: Oberfläche is over | |
| > Dieser Tage erscheint Christian Krachts Fortsetzung zu „Faserland“. Nur: | |
| > Wie gut ist der Roman gealtert und was wurde aus der Literatur der | |
| > 1990er? | |
| Bild: Personifizierte Lässigkeit der Generation X: Christian Kracht | |
| Ausgerechnet die Frau, die er am wenigsten ausstehen kann, macht dem jungen | |
| Mann aus Christian Krachts Roman „Faserland“ den ganz großen, ganz | |
| zentralen Vorwurf. „Varna hat dann immer gesagt, ich wäre ja ein Nazi und | |
| vollkommen unpolitisch, und ich wollte sie dann eigentlich immer fragen, | |
| wie das denn gehen soll“, gedankenströmt es nachts in einem Hotelzimmer aus | |
| ihm raus. Varna geht auf Vernissagen und ist so „liberal-dämlich“, dass er | |
| sie am liebsten treten würde, dieser Typ, der zugleich ein Faschist und | |
| schrecklich gleichgültig sein soll. | |
| Seine Geschichte ist bekannt: Ein junger, reicher Mann durchquert | |
| Deutschland von Norden nach Süden, nimmt Drogen und kotzt in Hotelzimmer, | |
| bestiehlt alte Freunde und verachtet so ziemlich alle Menschen, die er auf | |
| seiner Reise trifft – Raver-Hippies, Autonome und Studenten, die auf Demos | |
| gehen, Geschäftsleute mit Wurstfingern und Cordjackenträger, die Spex | |
| lesen. Er hat keinen Namen, könnte aber gut Maximilian heißen, weil das | |
| nobel, aber auch so schneidend kalt klingt, wie er gern über die Welt | |
| nachdenkt. Ein Antiheld zum Abgewöhnen und Reinsteigern, der Kracht zum | |
| Helden des deutschen New Journalism machte. | |
| „Faserland“ erschien 1995 und wurde sofort geliebt und gehasst, auf jeden | |
| Fall als großer Wurf gesehen, als Porträt einer späten Jugend nach dem | |
| „Ende der Geschichte“, das der Soziologe Francis Fukuyama damals nach dem | |
| Untergang der UdSSR gekommen sah. Das Magazin Tempo galt einigen als | |
| coolstes Periodikum des Landes, Alexa Hennig von Lange schrieb „Relax“, | |
| Benjamin von Stuckrad-Barre später „Soloalbum“. Es war die goldene Ära der | |
| sogenannten deutschen Popliteratur der 1990er Jahre, man kennt die | |
| Klischees, selbst wenn man nicht dabei war. | |
| ## Zeitgeistroman | |
| Als der gebürtige Schweizer Kracht vergangenen Herbst seinen neuen Roman | |
| „Eurotrash“ als zweiten Teil von „Faserland“ ankündigte, waren viele L… | |
| sehr aufgeregt, ich auch ein bisschen, vor allem aber interessiert, weil | |
| ich mir nicht vorstellen konnte, wie die Fortsetzung eines Zeitgeistromans | |
| in einer neuen Zeit funktionieren soll. Und wie ich den einsamen Reisenden | |
| heute wohl finden würde, zehn Jahre nach der ersten Begegnung mit ihm. | |
| Wer, wie ich selbst, zwischen 1980 und 1995 geboren ist, also ein | |
| „Millennial“ ist, hat von den goldenen Popliteratur-Jahren vermutlich vor | |
| allem zweierlei mitbekommen: die „Soloalbum“-Verfilmung mit Matthias | |
| Schweighöfer. Und die Erzählung mancher Älteren, dass mit Tempo ein Magazin | |
| gegangen ist, das so fun-fun-fun war, so clever und geil, wie | |
| wahrscheinlich nie wieder irgendwas sein wird. | |
| Der in Tempo kultivierte, extrem subjektive Stil von Autoren wie Kracht | |
| oder Moritz von Uslar bot viel Raum für große und kleine unerhörte | |
| Gedanken, aber eben auch: für Ichs mit sehr großem „I“. Die | |
| Autorengeneration, deren mächtige Männer heute gern über Identitätspolitik | |
| schimpfen, haben das Egoschreiben groß gemacht. Kracht selbst flog als | |
| Indien-Korrespondent des Magazins raus, weil er (angeblich) lieber auf | |
| seiner Terrasse in Neu-Delhi Tee getrunken hatte, als die Redaktion über | |
| Mutter Teresas Tod zu informieren. Cool, oder? | |
| Vieles an der Lässigkeit der „Generation X“ sieht heute frivol aus. | |
| Millennials sind oder geben sich gern genervt von den | |
| Christian-von-Stuckrad-Uslars, von ihrer männerbündischen, dauerironischen | |
| Überlegenheit und ihrer Freude daran, sich in Politikfragen zugleich | |
| haltungslos zu geben und steile Thesen anzuprobieren wie Anzüge – | |
| Hauptsache, sie sind das Gegenteil von moralisch oder didaktisch. | |
| ## Egotour durchs Land | |
| Neu ist die Kritik natürlich nicht. Schon in den oh so unverkrampften | |
| 1990ern haben die Popliteraten für ihre vermeintliche | |
| Wohlstandverwahrlosung auf den Deckel bekommen, auch Kracht für | |
| „Faserland“. Dabei hat sein verlorener Sohn ja noch nicht mal Spaß auf | |
| seiner Egotour durchs Land, was einerseits der Gipfel der Dekadenz ist, | |
| andererseits natürlich nur traurig. | |
| Den Protagonisten, nennen wir ihn Faserland-Max, plagt eine sehr | |
| westdeutsche Oberschichtslangeweile und -schwermut. Auf seiner Tour durch | |
| Deutschland wird er konsequenterweise die alten Bundesländer (und damit | |
| seine Komfortzone) nicht verlassen. Ostdeutsche sind für ihn geduldige, | |
| stille und schöne Menschen in lilafarbenen Trainingsanzügen, vor allem | |
| aber: Unbekannte. | |
| Krachts Spiel mit Mode- und Markenreferenzen gilt als Gestaltungsprinzip | |
| des Romans, dabei ging es vermutlich nie einfach um Affirmation. Noch nicht | |
| mal das halbe Buch ist rum, als Faserland-Max seine berühmte Barbour-Jacke | |
| verbrennt. Immer wieder guckt er auf seine Fingernägel oder sein | |
| Spiegelbild, als müsse er sich versichern, dass er noch da ist, noch | |
| irgendwie als Mensch durchgeht in der großen, kühlen Warenwelt. Sein Gefühl | |
| von Unbehaustheit ist universell – seine größte Obsession wiederum ein | |
| großes Kracht-Thema. | |
| Fast zwei Jahrzehnte nach „Faserland“ schrieb Kracht gemeinsam mit seiner | |
| Frau Frauke Finsterwalder das Drehbuch zu „Finsterworld“, einem 2013 | |
| erschienen Episodenfilm. Eine Besonderheit des Films ist, dass keine | |
| Statist:innen zum Einsatz kamen. Die Figuren bewegen sich durch ein | |
| Deutschland, in dem die Sonne immer scheint und keiner auf den Straßen ist, | |
| ein leeres Deutschland voller Grauen, ein Deutschland also, unter dessen | |
| glatter Oberfläche man ganz viel uralten Schmutz erahnt – wie auch in | |
| „Faserland“. | |
| ## Rich-Kid-Seele | |
| Im Roman spürt man die Spannung unter der Oberfläche, nicht nur den Druck | |
| auf der gequälten Rich-Kid-Seele, wie Kracht gern vorgeworfen wurde. | |
| Faserland-Max löst Unbehagen aus, weil er der Welt zeigt, wie kolossal | |
| politische Bildung und Gedenkkultur in Deutschland gegen den Baum gefahren | |
| sind: Er ist besessen vom Nationalsozialismus, aber vor allem aus | |
| ästhetischer Sicht. Er würde seine Gedanken über die Bombennächte im | |
| Zweiten Weltkrieg gern mit dem Taxifahrer besprechen, lässt es aber sein, | |
| weil der Fahrer „alt und verwest“ riecht, „wie so ein Buch, das zu lange … | |
| Regen auf dem Balkon lag und jetzt schimmelt“. | |
| Er verachtet die Tätergeneration genauso heftig wie die | |
| Strickpulli-Pädagogen der 68er. Er weiß, dass er in einem Staat der | |
| Holocaust-Profiteure lebt, ist aber nicht in der Lage oder nicht daran | |
| interessiert, sich und seine wohlhabende Familie in diesem German | |
| Gruselkabinett zu verorten. | |
| Er denkt Dinge, die mir wahnsinnig unangenehm sind: „Neckarauen. | |
| Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte | |
| Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und die Juden nicht | |
| vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen.“ | |
| Und wenn er behauptet, dass Deutsche ab einem gewissen Alter immer wie | |
| Nazis aussehen, weiß man nicht, ob er Ultrarechte für ihre | |
| Menschenverachtung hasst – oder einfach für ihre Gewöhnlichkeit. | |
| ## Ästhetik des Bösen | |
| Weil Faserland-Max einiges mit Kracht gemeinsam hat, zum Beispiel den | |
| Besuch der Privatschule Schloss Salem, verwischt die Grenze zwischen Autor | |
| und Romanfigur in der Wahrnehmung vieler. Schon vor 20 Jahren warf ihm der | |
| Autor Joachim Rohlof „Herrenmenschentum“ vor, und im ersten großen | |
| Feuilleton-Beef der Zehnerjahre bescheinigte ihm auch der Kritiker Georg | |
| Diez – damals anlässlich der Veröffentlichung des Romans „Imperium“ –… | |
| Nazi zu sein. | |
| Wie sein eigener Protagonist ist Kracht vielen ein bisschen zu fasziniert | |
| von der Ästhetik des Bösen, anderen zu unpolitisch. Geblieben ist er | |
| trotzdem. Faserland-Max hingegen ist – wie die Neunziger, das Jahrzehnt, | |
| über das Zuspätgeborene wie ich immer wieder hören, es sei das freieste, | |
| hedonistischste überhaupt gewesen – irgendwie sehr vorbei. | |
| Sein halbironischer Markenkult ist längst zurück, nur dass die traurigen | |
| jungen Rapper, die sich heute Mode von Supreme statt Barbour wünschen, | |
| nicht über Weltschmerz, sondern auch über ihre Therapie reden. Max’ | |
| „Faserland“ aber ist nicht mehr das gleiche. Nach NSU und dem Aufstieg der | |
| AfD, Hanau und dem rechtsextremistischen Anschlag von Halle gibt es heute | |
| keine heile Oberfläche, unter der sich Spannungen nur andeuten. | |
| Wie würde ein Oberflächenmensch wie Faserland-Max durch eine Welt | |
| navigieren, die immer mehr Leute als fragmentiert, polarisiert, heillos | |
| zerstritten wahrnehmen? Kann oder wird es diesen Typus Mann künftig noch | |
| geben? Noch ein paar Fragen, die man sich stellen kann, wenn nun | |
| „Eurotrash“ erscheint. | |
| Beantwortet hat sie Kracht schon woanders, ein bisschen zumindest. In | |
| „Finsterworld“ spielt Jakub Gierszał einen blonden, schnöseligen, | |
| skrupellosen Schüler, der etwas beängstigend Autoritäres (ja, doch: | |
| Herrenmenschliches) an sich hat. „Na, ihr Spasmos! Ready for the | |
| KZ-Besuch?“, fragt er seine Klassenkamerad:innen vor der Fahrt in | |
| eine Gedenkstätte. Und dann heißt er auch noch Maximilian. | |
| 28 Feb 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Lorenz | |
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