# taz.de -- Neues Buch zur Geschichte Frankreichs: Wer rettet die Republik? | |
> Deutsche sollten verstehen, warum Frankreichs Probleme geschichtlich | |
> bedingt sind. Die große Studie von Matthias Waechter gibt Gelegenheit | |
> dazu. | |
Bild: Kampfjets fliegen in Paris über den Triumphbogen | |
Ob mit der Wahl Emmanuel Macrons die Fünfte Republik in eine sechste | |
mutiert ist oder eher gestärkt wurde, ist offen. Typisch Cinquième ist die | |
Machtfülle des Präsidenten, [1][sein jupiterhaftes Auftreten], der | |
technokratische Reformimpetus und die Betonung der Außenpolitik, übrigens | |
auch der wüste Aufstand seiner schärfsten Gegner, der Gelbwesten. | |
Untypisch ist, dass Macron aus dem liberalen Zentrum kommt, das in der | |
Fünften Republik weitgehend marginalisiert war, und dabei jene Formation | |
zum Gegner hat, gegen die 1958 die Republik gegründet worden war: die | |
radikale Rechte, die ihre Herkunft aus dem reaktionären Populismus der | |
Dreyfus-Affäre, dem Kollaborationsregime von Vichy und aus der | |
rassistischen Kolonialpartei nicht verleugnen kann. | |
Der konstitutive Rechts-links-Dualismus implodiert; von Chiracs | |
neo-gaullistischer Sammlungsbewegung ist so wenig übrig wie von Mitterrands | |
Linksunion. Macrons Vision eines offenen Frankreichs in Europa hat mit der | |
„bestimmten Idee“ des Republikgründers Charles de Gaulle wenig gemein; | |
dessen „Europa der Vaterländer“ hängen heute rechte wie linke Souveränis… | |
an. | |
Diese historischen Referenzen entschlüsseln hilft die „Geschichte | |
Frankreichs im 20. Jahrhundert“ des in Nizza und Freiburg tätigen Matthias | |
Waechter, die jüngst im C. H. Beck Verlag erschienen ist. | |
## Die Frage nach Europas Avantgarde | |
Souverän hat er die ausufernde Spezialliteratur zu einer gut lesbaren | |
Synthese gebracht, die Episoden und Wendepunkte (um 1900, 1926, 1942, 1965 | |
und 1990) analytisch durchdrungen und Kernelemente der Gesellschaft, | |
Kultur und Politik markiert, die zum Verständnis der aktuellen Dynamik | |
notwendig sind. | |
Wenn Frankreichs Hauptprobleme am Ende des langen 20. Jahrhunderts | |
[2][Immigration und Rassismus], [3][die Stellung in Europa und der Welt], | |
Entwicklungsblockaden und die Herausforderung durch eine im Kern | |
[4][antirepublikanische Rechte] sind, führt das auf die Widersprüche | |
zurück, die unter anderen Namen schon 1880 in der Dritten Republik angelegt | |
waren (zur Erinnerung: die ersten beiden Republiken 1792 und 1848 waren | |
kurzlebige Nachspiele von Revolutionen, die im Bonapartismus eins und zwei | |
endeten). | |
Waechter sieht ein „Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Europas | |
politische Avantgarde zu bilden, und der Wahrnehmung einer unbeweglichen, | |
auf sich selbst bezogenen Gesellschaft“, auch darin, dass dem Streben nach | |
Einheit in der einen, unteilbaren Republik „stets eine Realität der | |
Vielfalt gegenüber(stand), die sich auf lokale Identitäten, regionale | |
Sprachen und Widerstand gegen den Zentralismus gründete“, schließlich auch | |
im eklatanten Widerspruch zwischen dem universalistischen Gleichheits- und | |
Zivilisationsideal und dem kolonialen Akt der Unterwerfung. | |
## Das Rätsel der 30 Glorreichen | |
Diese Paradoxien explodierten um 1900 in der Dreyfus-Affäre, der Waechter | |
zutreffend eine Schlüsselfunktion zuweist und gegen deren unsägliche | |
Niedertracht sich das republikanische Engagement namentlich der | |
Intellektuellen aufrichtete. Ohne übertriebene Aktualisierung ist daraus | |
einiges für die Gegenwart zu lernen. | |
Von der Dritten zur Fünften Republik war es immer noch ein Riesenschritt: | |
über die Ur-Katastrophe des „Großen Krieges“ von 1914–18 und die Zäsur… | |
„drôle de guerre“ (seltsamer Krieg), der 1940 in eine demütigende | |
Niederlage und das Kollaborationsregime des Marschall Pétain führte. | |
Daran kann man sich das politische Wunder klar machen, das die Aussöhnung | |
und Kooperation der deklarierten „Erbfeinde“ nach 1945 darstellt. Die | |
Zwischenperiode der Vierten Republik (1945–1958) war vom Zusammenbruch des | |
Kolonialimperiums in Afrika und Südostasien überschattet, zugleich begannen | |
hier aber auch die „30 Glorreichen“ (Jahre) wirtschaftlicher Modernisierung | |
mit zunächst bescheidenem Wohlstand und einem kulturellen Reichtum, der | |
Paris noch einmal zur Hauptstadt der Welt (neben New York) machte. | |
## Der historische Verrat | |
Als zweimaliger Retter trat Charles de Gaulle auf, die emblematische Figur | |
Frankreichs im 20. Jahrhundert. 1940, im Widerstand von London aus, rettete | |
er (wenn auch gewiss nicht allein und beides nicht ohne Abstriche) die Ehre | |
und den Großmachtstatus der Nation, 1958 beruhigte er das von einem | |
Rechtsputsch bedrohte Land – mit einem Staatsstreich und durch eine ganz | |
auf ihn zugeschnittene präsidentielle Monarchie, die wenig vom Ideal einer | |
demokratischen Bürgergesellschaft hat. | |
Das in Waechters Buch fast versteckte Drama des Jahres 1958 unterstreicht, | |
wie eng Frankreichs Schicksal mit dem seiner aufständischen Kolonie | |
Algerien verschränkt war – und das eigentlich bis heute ist. | |
[5][Mit dem historischen Verrat an der „Algérie française“] besorgte de | |
Gaulle um den Preis eines knapp abgewendeten Bürgerkriegs im „Mutterland“ | |
die Unabhängigkeit Algeriens, um sich dann seinen eigentlichen Zielen, der | |
Rekonstruktion der Großmachtstellung und der Verständigung mit dem | |
„Erbfeind“, zuzuwenden, ohne die notwendige soziale Modernisierung. | |
Zehn Jahre später, ausgelöst und symbolisiert durch den Maiaufstand 1968, | |
war de Gaulle am Ende. Es folgten konservative Notabeln-Regierungen, bis | |
François Mitterrand, die andere emblematische Figur, den Gaullismus links | |
wendete und relativ spät (und kurz) den Sozialismus an die Macht brachte, | |
ohne ihn zum europäischen Leitbild machen zu können. Es begann der | |
Niedergang der Sozialdemokratie, auch in Frankreich kamen die Grünen auf. | |
In den meisten Frankreich-Geschichten der jüngeren Zeit dominiert die | |
politische Geschichte. Was zu kurz kommt, ist „L’histoire de la vie | |
quotidienne“, der kulturhistorische Blick auf das Alltagsleben einfacher | |
Leute. | |
Abhilfe schafft zum Zeitraum ab 1940 etwa der autosoziobiografische Roman | |
„Die Jahre“ der in diesem Jahr geborenen Annie Ernaux. Lakonisch, bisweilen | |
sarkastisch und stets aus weiblicher Sicht liefert sie das subjektive | |
Erlebnis der offiziellen Geschichte. | |
Zu de Gaulle, von dem sich ihr das lange, schmale Gesicht unter dem Käppi | |
eingeprägt hatte, notiert sie: „Wir, die wir seine Rede vom 18. Juni 1940 | |
nicht gehört hatten, waren enttäuscht von den Hängebacken, den buschigen | |
Augenbrauen und dem schlaffen Gesicht, das an einen fett gewordenen Anwalt | |
erinnerte, von der zittrigen Stimme. Durch den alten Mann, der aus Colombey | |
[seinem „Exil“ in der lothringischen Heimat, CL] nach Paris zurückkehrte, | |
konnte man auf groteske Weise ermessen, wie viel Zeit seit unserer Kindheit | |
vergangen war. Und wir fanden es schade, dass er dem, was wir für den | |
Beginn einer Revolution gehalten hatten, während wir über Sinus und Kosinus | |
brüteten und im Lagarde et Michard französische Literaturgeschichte | |
studierten, so rasch ein Ende setzte.“ | |
Dieselbe Autorin räsoniert später, der zur Jahrtausendwende ausgebliebene | |
„millenium bug“ habe sich seit „Nine eleven“ hinterrücks doch ereignet. | |
Ungläubig und wie sediert folgen wir seither einer Katastrophe nach der | |
anderen, wie die französische Geschichte nach 2000 darstellt: die | |
Normalisierung des Front National, die Vorstadtunruhen, die islamistischen | |
Terroranschläge … | |
## Das Tandem neu gründen | |
Die Präsidentschaft Macrons stellte sich gegen diesen Abstieg und das Ziel | |
des Hauses Le Pen, der Fünften Republik den Garaus zu machen. Sie hätte | |
wahrlich mehr Bekräftigung von Berliner Seite verdient, doch dort gibt es | |
keine Politiker mehr, auch wenig Intellektuelle, die in solchen Kategorien | |
zu denken fähig sind. | |
Die „deutsch-französische Achse“ ging oftmals politisch über Kreuz: von De | |
Gaulle/Adenauer über Giscard d’Estaing/Schmidt und Mitterrand/Kohl bis zu | |
„Merkozy“ und „Mercron“, was auch das Ende der französischen Führungs… | |
dokumentiert. | |
[6][Es fehlt weiterhin eine deutsch-französische Doppelgeschichte] im | |
Konvergenzrahmen der europäischen Gesellschaft, doch aus dem | |
nationalstaatlichen Container herauszutreten wagen die wenigsten Historiker | |
(oder sie springen gleich in die Globalgeschichte). | |
Wer vor 100 (Versailler Vertrag) oder vor 75 Jahren die Frage gestellt | |
bekam, ob ein neuer Krieg zwischen den beiden Ländern drohe, antwortete | |
mehrheitlich mit Ja. | |
Dass schon die Frage heute absurd scheint, ist ein Beweis für den Erfolg | |
des supranationalen Europas. Zugleich ist in den letzten Jahren eine enorme | |
Chance vertan worden, dieses im Tandem voranzubringen und neu zu gründen. | |
14 Jul 2019 | |
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Claus Leggewie | |
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