# taz.de -- Frankreichs koloniales Erbe: Etwas, das erzählt werden muss | |
> Frankreich versteht sich als Nation der Menschenrechte. Doch es gibt | |
> Lücken in dieser sinnstiftenden Erzählung, die von Grausamkeit handeln. | |
Bild: Eine Demonstration algerischer Arbeiter'innen in Paris am 17. Oktober 1961 | |
Nach dem [1][Mord an Samuel Paty] hielt der französische Präsident | |
[2][Emmanuel Macron eine programmatische Trauerrede]. Samuel Paty, sagte | |
er, sei die Inkarnation der Republik, „weil er seinen Schülern beibringen | |
wollte, wie man zu Bürgern dieses Landes wird. Wofür Samuel Paty kämpfte: | |
Republikaner hervorzubringen.“ | |
Diese Rede fügte sich ein in einen auch in Deutschland gängigen Diskurs, | |
der dem sogenannten radikalen Islamismus die Idee eines aufgeklärten, | |
offenen, humanistischen und atheistischen Westens gegenüberstellt. | |
[3][Frankreich versteht sich dabei als Leuchtturm der republikanischen | |
Idee, als Nation der Menschenrechte]. | |
Die Verwunderung und die Ablehnung, die diese Haltung in anderen Teilen der | |
Welt hervorruft, lässt sich nur erklären, wenn eine alternative Geschichte | |
der französischen Republik in Betracht gezogen wird. Diese alternative | |
Geschichte hat – anders als Macrons sinnstiftende Erzählung der hehren | |
Republik – keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es ist eine Geschichte | |
des Zweifels, der Leerstellen, eine lückenhafte Erzählung. | |
Die alternative Geschichte der französischen Republik beginnt mit den | |
Massakern in der Vendée 1793 bis 1796. Weil die dortigen Bauern ihre | |
Priester nicht fallen lassen wollten, schickte die revolutionäre | |
Zentralregierung Truppen, um, wie es in der damaligen Parlamentsdebatte | |
hieß, den Landstrich zu vernichten. Dörfer wurden ausradiert, | |
Zivilist'innen auf Todesmärsche geschickt, in Nantes kam es zur | |
Massenertränkung, weil angesichts der vielen Verurteilten die Kugeln | |
auszugehen drohten. 300.000 Menschen fielen diesem Bürgerkrieg zum Opfer. | |
Während die Terreur der Jakobiner gut dokumentiert ist, mussten die | |
Bewohner der Vendée bis Ende des 20. Jahrhunderts warten, bis sie diesem | |
Teil der Geschichte ein eigenes Museum widmen durften. | |
Haiti befreite sich als erstes Land | |
Eine alternative Geschichte der französischen Republik ginge vielleicht | |
weiter mit der Schlacht von Vertières auf Haiti. Nachdem dort schwarze | |
Revolutionäre 1793 die Beendigung der Sklaverei erzwungen hatten, beschloss | |
Napoléon 1801, die Sklavenhalter wieder einzusetzen. Seine Truppen wurden | |
1803 geschlagen. Haiti war damit das erste Land, das sich aus dem | |
kolonialen Joch befreite. Zumindest fast: Im Jahr 1825 zwang Frankreich | |
Haiti Reparationen in Höhe von 150 Millionen Francs auf. Um das Geld zu | |
beschaffen, lieh sich die haitianische Regierung Geld von französischen | |
Banken. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Rückzahlungen | |
abgeschlossen. | |
Im Jahr 2015 versprach der damalige Präsident, François Hollande, | |
Frankreich werde seine Schulden zurückzahlen. Später sagte er, mit dieser | |
Redewendung sei eine moralische Wiedergutmachung gemeint. Bei einem | |
Staatsbesuch auf Haiti versprach er Entwicklungshilfe in Höhe von 50 | |
Millionen Euro. Die Gesamthöhe der an Frankreich von Haiti gezahlten | |
Reparationen wird heute auf umgerechnet 17 Milliarden Euro taxiert. | |
Eine alternative Geschichte der französischen Republik müsste auch die | |
Kolonialisierung Algeriens in Augenschein nehmen, die unter der Monarchie | |
in den 1830er Jahren begonnen und unter der Dritten Republik seit 1870 | |
fortgesetzt wurde. Schätzungsweise eine halbe Million Algerier'innen fielen | |
dem französischen Angriff zum Opfer, die französischen Besatzer gingen mit | |
großer Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung vor. Die Algerier'innen | |
galten als Staatsbürger zweiter Ordnung, denen eine ganze Reihe Rechte | |
verwehrt blieb, unter anderem das Wahlrecht. | |
Am 8. Mai 1945, am Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, fanden in | |
Algerien wie überall auf der Welt Freudenkundgebungen statt. In Sétif, | |
einer Stadt in Algerien, wurde gleichzeitig die Unabhängigkeit des Landes | |
gefordert und die algerische Flagge gezeigt. Nachdem durch einen Schuss | |
eines Gendarmen ein Demonstrant starb, kam es zu Übergriffen auf | |
europäische Siedler, über hundert wurden getötet. Die Reaktion der | |
französischen Republik war der Beschuss von Dörfern durch Artillerie und | |
die Bildung von Milizen, die Racheakte ausführten. Die Zahl der algerischen | |
Opfer ist unklar, die Schätzungen gehen von 20.000 bis 45.000 Toten aus. | |
Folter im Algerienkrieg | |
Das Massaker von Sétif gilt als eines der Vorzeichen des algerischen | |
Befreiungskrieges (1954 bis 1962), in dem die französische Armee | |
systematisch Folter gegen Kombattanten und Zivilbevölkerung einsetzte. Nach | |
wie vor gibt es hochrangige Militärs, die die Folter als Werkzeug der | |
Unterdrückung herunterspielen oder sogar leugnen. | |
Während des Krieges kam es am 17. Oktober 1961 auch zu dem Massaker von | |
Paris. Eine friedliche Demonstration für die Befreiung Algeriens wurde auf | |
Betreiben der örtlichen Verwaltung mitten in der französischen Hauptstadt | |
blutig niedergeschlagen. Mehrere Hundert Demonstrant'innen wurden | |
erschlagen, erschossen oder ertränkt. In den Tagen nach diesem Massaker war | |
von drei Toten die Rede. Erst 2012 erkannte der damalige Präsident der | |
Republik, François Hollande, das Massaker an. | |
Eine alternative Geschichte der französischen Republik müsste fragen, wie | |
es sein kann, dass die Rolle vieler ihrer führenden Köpfe bei der Verübung | |
von Kriegsverbrechen im Algerienkrieg nie juristisch aufgearbeitet wurde; | |
wie es sein kann, dass ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher und Folterknecht | |
wie Jean-Marie Le Pen 2002 als Präsidentschaftskandidat in die Stichwahl | |
kam. | |
Eine Antwort für die glorreiche Republik des Präsidentschaftskandidaten der | |
Konservativen, François Fillon, 2017: „Frankreich hat sich nicht schuldig | |
gemacht, als es seine Kultur mit den Völkern Afrikas, Asiens und | |
Nordamerikas teilen wollte.“ | |
Damit bleibt Fillon ganz in der Tradition des Ministerpräsidenten Jules | |
Ferry, der 1885 seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, den überlegenen | |
„Rassen“ stünde die Herrschaft über die unterlegenen „Rassen“ zu, und… | |
sei die Pflicht, jene zu kultivieren; also ein Fortschritt, der beim Bau | |
der Eisenbahnstrecke zwischen Pointe-Noir und Brazzaville im Kongo 15.000 | |
bis 30.000 Arbeitern das Leben kostete. | |
Wirkungen des Kolonialismus im Mutterland | |
Nicht schuldig gemacht hat sich laut Fillon die französische Republik 1947, | |
als ihre koloniale Armee zwischen 20.000 bis 100.000 Madegass'innen | |
massakrierte; nicht schuldig am Massaker von Thiaroye 1944, als für ihren | |
Sold demonstrierende senegalesische Veteranen des Zweiten Weltkriegs, | |
kürzlich aus der Kriegsgefangenschaft befreit, von Gendarmen | |
niedergeschossen wurden; nicht schuldig an den Repressionen in Kamerun, die | |
in den 1950er Jahren bis zu 120.000 Menschen das Leben gekostet haben. | |
Nicht schuldig an der Zwangsverpflichtung von Arbeitern aus der damaligen | |
Kolonie Indochina, die zu Tausenden nach Frankreich verschifft wurden, um | |
dort zu Hilfsarbeiten in beiden Weltkriegen herangezogen zu werden. Nicht | |
schuldig auch an der Ermordung zahlreicher Politiker, die für die Rechte | |
ihrer Genossen eintraten. | |
Der französische Kolonialismus wirkt auch im Mutterland. Einerseits mit | |
einer rassistischen Polizeipraxis, die Law and Order insbesondere in die | |
sogenannten quartiers sensibles, die Viertel der Marginalisierten, bringt. | |
Andererseits als Rassismus innerhalb der Bevölkerung. Laut der | |
republikanischen Menschenrechtskommission halten 45 Prozent der | |
Französ'innen den Islam für eine Bedrohung der nationalen Identität. Zwei | |
Tage nach dem Mord an Samuel Paty wurden unter dem Eiffelturm zwei Frauen | |
niedergestochen, die Angreiferinnen hatten sie zuvor als „dreckige | |
Araberinnen“ beschimpft. | |
Was wäre zu lernen aus einer solchen Geschichte? Frankreich – und mit | |
Frankreich die ganze EU – hat, nachdem es unilateral die Geschichte der | |
Kolonisation für beendet erklärt hat, eine Aufarbeitung erschwert bis | |
verunmöglicht. Das hat es getan, um das System Françafrique zu etablieren, | |
ein Geflecht aus Abhängigkeiten, das Frankreich – und damit auch der EU – | |
Zugriff auf Ressourcen der ehemaligen Kolonien ermöglicht. Dabei half und | |
hilft die ideologische Selbstzuschreibung kultureller Überlegenheit. | |
Neben dem politischen Willen, vergangenes Unrecht zu adressieren und | |
auszugleichen, wäre es eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht die behauptete | |
zivilisatorische Fortschrittlichkeit wie eine Monstranz vor sich | |
herzutragen und – zum Beispiel – pauschal den Islam unter Verdacht zu | |
stellen. Denn genau diese Haltung war eine Voraussetzung für die Gräuel, | |
die die französische Republik in aller Welt verübte. | |
6 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Mord-an-Lehrer-in-Frankreich/!5721702 | |
[2] /Debatte-ueber-Islamismus-in-Frankreich/!5720820 | |
[3] /Macron-Rede-in-Frankreich/!5692598 | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
## TAGS | |
Kolonialismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Menschenrechte | |
Haiti | |
Schlagloch | |
Nantes | |
Afrobeat | |
Bismarck | |
Islamismus | |
Pflege | |
Black Lives Matter | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gangs vertreiben Henry-Regierung: Haiti braucht eine Zäsur | |
Nach der Machtübernahme krimineller Banden ist Haitis Ministerpräsident | |
zurückgetreten. Das Land braucht einen Neuanfang, finanziert vom globalen | |
Norden. | |
Massaker von Paris vor 60 Jahren: Tote am Ufer der Seine | |
Ein Massaker an Algeriern in Paris und die radikale Solidaritätsbewegung | |
der Adenauer-Ära: Beides gehört in unser antikoloniales Gedächtnis. | |
Tragödie in Frankreich: Brandstifter soll gemordet haben | |
In Westfrankreich ist ein Geistlicher tot aufgefunden worden. Der | |
mutmaßliche Täter soll 2020 das Feuer in der Kathedrale von Nantes gelegt | |
haben. | |
Kolonialverbrechen Frankreichs: Die Mörder sind unter uns | |
Frankreich beginnt endlich mit der Aufarbeitung seiner Verbrechen in | |
Algerien. Darin stecken auch Lehren für Deutschland. | |
Erinnerung an die Sedan-Schlacht 1870: Unangebrachte Ehrung | |
In vielen Städten im Norden gibt es Sedanstraßen und -plätze. In Hamburg | |
fordern Friedensaktivisten erneut eine Umbenennung. | |
Debatte über Islamismus in Frankreich: Ins Wespennest der Laizität | |
Der islamistisch motivierte Mord an Samuel Paty spaltet die französische | |
Bevölkerung und Politik – sogar über die Landesgrenzen hinaus. | |
Miniserie „Ehrenpflegas“: Oh, ihr lieben Pflegekräfte | |
Die Miniserie „Ehrenpflegas“ biedert sich peinlich an Jugendliche an. Aber | |
die Alternativen der Kritiker'innen sind auch nicht besser. | |
Kolonialismus in Schulbüchern: „Gewalt wird nicht thematisiert“ | |
Viele Lehrmaterialien beschönigen die deutsche Kolonialgeschichte, sagt die | |
Afrikaforscherin Josephine Apraku. Sie kritisiert die eurozentristischen | |
Ansätze. | |
Neues Buch zur Geschichte Frankreichs: Wer rettet die Republik? | |
Deutsche sollten verstehen, warum Frankreichs Probleme geschichtlich | |
bedingt sind. Die große Studie von Matthias Waechter gibt Gelegenheit dazu. |