# taz.de -- Kolonialismus in Schulbüchern: „Gewalt wird nicht thematisiert“ | |
> Viele Lehrmaterialien beschönigen die deutsche Kolonialgeschichte, sagt | |
> die Afrikaforscherin Josephine Apraku. Sie kritisiert die | |
> eurozentristischen Ansätze. | |
Bild: Josephine Apraku leitet das Institut für diskriminierungsfreie Bildung (… | |
taz: Frau Apraku, Sie beschäftigen sich mit diskriminierungskritischer | |
Bildung. Was ist damit gemeint? | |
Josephine Apraku: Wenn wir über Schule sprechen, ist damit zum einen | |
gemeint: Wer hat wie Zugang zu Bildung? Wer wird mitgedacht? Mit Blick auf | |
Rassismus stellt sich die Frage, werden Schwarze Menschen und Personen of | |
Color in Unterrichtsmaterialien repräsentiert und in welchen | |
Zusammenhängen? Werden sie auch in positiven Zusammenhängen genannt oder | |
halten sie immer nur als Negativbeispiele her? Offen gestanden ist vor | |
allem Letzteres bis in die Gegenwart der Fall. | |
Und zum anderen? | |
Zum anderen ist gemeint, welche Möglichkeiten pädagogische Fachkräfte und | |
Lehrende haben, sich mit diesen Themen zu befassen. Eine große | |
Herausforderung ist, dass Rassismuskritik bis heute kein verpflichtender | |
Teil der Ausbildung von Lehrkräften ist. Was natürlich fatal ist, weil | |
rassistische Strukturen aber auch allgemein diskriminierende Strukturen | |
sich in der Schule widerspiegeln und reproduziert werden. | |
Schulen sind beim Thema Antidiskriminierung also besonders wichtig? | |
Das würde ich so exklusiv gar nicht sagen. Ich würde eher sagen, dass | |
Bildung wichtig ist. Wenn ich von diskriminierungskritischer Bildung | |
spreche, meine ich nicht nur schulische Bildung, sondern Bildung in einem | |
allgemeineren Sinne: auch Medien, Museen, Film und Fernsehen oder Radio | |
gehören dazu. | |
Aber Schulen legitimieren doch das Wissen, das vermittelt wird, auf ganz | |
besondere Weise. | |
Ich würde es andersrum formulieren: Der implizite Auftrag von Schulen ist, | |
den gegenwärtigen Nationalstaat, in dem wir leben, zu legitimieren. | |
Diskurse, die sich in Schulbücher übersetzen, sind gängige Diskurse, die | |
gesellschaftlich verhandelt werden und für die es eine Art Übereinkunft | |
gibt. Wenn es bis in die Gegenwart keine gesellschaftliche Anerkennung für | |
den deutschen Kolonialismus gibt, werden wir das in Unterrichtsmaterialien | |
auch nicht finden. | |
Zuletzt sind [1][in fast allen Bundesländern Petitionen] initiiert worden, | |
die fordern, Kolonialgeschichte und Antirassismus vermehrt in Lehrpläne | |
aufzunehmen. Wie würden Sie den Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit | |
in der Schule beschreiben? | |
Am besten kann ich das mit Blick auf die Berliner Lehrpläne und | |
Unterrichtsmaterialien der Sekundarstufe 2 in Geschichte beantworten, die | |
ich daraufhin untersucht habe, wie der rassistische Diskurs seit 1970 | |
anhand des Themas Kolonialismus behandelt wurde. Was ich nachzeichnen | |
konnte, ist, dass das Thema behandelt wird. Aber die große Frage ist: wie? | |
Grundsätzlich kann ich sagen, dass Kolonialismus problematisch behandelt | |
wird – das gilt für alle Unterrichtsmaterialien, mit denen ich mich bisher | |
beschäftigt habe. | |
Was meinen Sie mit problematisch? | |
Manchmal ist das subtil. Etwa wenn in einer Aufgabe mehrere historische | |
Quellen vorkommen, die zusammengefasst werden sollen, aber nur bei der | |
einen rassismuskritischen Quelle in dieser Auswahl die Aufgabenstellung | |
explizit lautet, sie kritisch zu betrachten. Oft ist das aber auffälliger. | |
Haben Sie ein Beispiel? | |
In einem gängigen Schulbuch für den Geschichtsunterricht der 9. und 10. | |
Klasse steht zum Beispiel als Definition für Kolonialismus so etwas wie: | |
Eine überlegene Gruppe annektiert Gebiete einer unterlegenen Gruppe wegen | |
wirtschaftlichen Interessen. Bei einer anderen Aufgabe sollen die | |
Schüler*innen in einer Tabelle festhalten, welche positiven Auswirkungen | |
die deutsche Kolonialisierung auf den afrikanischen Kontinent hatte. Es | |
wird vorausgesetzt, dass der deutsche Kolonialismus für die dortige | |
Bevölkerung positive Auswirkungen hatte. Grundsätzlich kann ich sagen, dass | |
die Thematisierung von Kolonialismus oft eurozentrisch ist und einem | |
Modernitätsnarrativ folgt. | |
Inwiefern? | |
Wenn wir auf Geschichte blicken, müssen wir fragen, aus welcher Perspektive | |
und zu welchem Zweck sie erzählt wird. Und in Schulbüchern wird die | |
Geschichte mit Blick auf deren Relevanz für den europäischen Kontinent | |
verhandelt. Wenn es um Kolonialismus geht, liegt der Fokus etwa auf | |
Konflikten zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland im | |
kolonialen Gerangel. Außen vor bleibt antikolonialer Widerstand. Sichtbar | |
wird der eurozentrische Blick auch bei Vergleichen zwischen Deutschland und | |
Afrika. Da wird stellvertretend der gesamte afrikanische Kontinent mit | |
Deutschland verglichen, ganz ohne relevante lokale historische Kontexte und | |
Unterschiede zu bedenken. | |
Was fehlt Ihnen, wenn Sie auf die Lehrpläne blicken? | |
Es geht gar nicht um einen bestimmten Inhalt. Ich vermisse eher ein | |
Zusammenspiel der Lehrendenausbildung, des Lehrplans und der | |
Unterrichtsmaterialien. Es ist wichtig zu fragen, aus welcher Perspektive | |
ein Thema behandelt wird. Genauso wichtig wäre aber, dass Lehrende sich in | |
der Ausbildung rassismuskritisch mit dem Thema beschäftigen. Dass sie | |
lernen, eurozentrische Perspektiven zu brechen und Widerstandsperspektiven | |
zu reflektieren. Ob und inwiefern Kolonialismus rassismuskritisch behandelt | |
wird, hängt gegenwärtig davon ab, wie die Lehrenden drauf sind. Und ob sie | |
sich eigenständig das Wissen angeeignet haben. | |
Wieso fehlt dieses Wissen so häufig in Lehrplänen und Schulbüchern? | |
Geschichte ist nicht neutral, Geschichte wird aktiv gemacht und | |
konstruiert. Wenn wir uns aus einer europäischen Perspektive mit | |
Kolonialismus beschäftigen, ist das gängige Geschichtsverständnis meistens | |
beschönigend und romantisierend. Da geht es um das Entdecken und Erobern. | |
Die reale Gewalt wird nicht thematisiert. | |
Haben Sie eine Erklärung? | |
Es wird davon ausgegangen, dass es um einen Teil der Geschichte geht, der | |
weit weg ist, der nichts mehr mit unserer Gegenwart zu tun hat – einem | |
Teil, der abgeschlossen ist. Die meisten in Deutschland haben überhaupt | |
keine Vorstellung davon, dass Deutschland überhaupt Teil des kolonialen | |
Unterfangens war. Mit Blick auf Unterrichtsmaterialien ist außerdem wichtig | |
zu beachten, dass Schulbuchverlage auch wirtschaftlich agierende | |
Unternehmen sind. Unterrichtsmaterialien werden so erstellt, dass sie gut | |
verkauft werden können. Wir finden keine neuen, kritischen Diskurse in | |
Unterrichtsmaterialien, weil Angebot und Nachfrage eng miteinander | |
verbunden sind. | |
Hinken Schulbücher gesellschaftlichen Diskursen immer hinterher? | |
Schulbücher werden selten gänzlich neu erstellt. Meistens werden sie nur | |
angepasst und überarbeitet. Bei meiner Untersuchung konnte ich sehen, dass | |
in aktuellen Auflagen immer noch Bildmaterial aus den Büchern der 1970er | |
verwendet wird. Wir sollten aber beispielsweise besser reflektieren, dass | |
Bilder aus der Kolonialzeit in der Regel zur Propaganda dienten. | |
Von wohltätigen Kolonialherren? | |
Ich muss an eine Bildunterschrift eines Fotos aus dem Kongo denken, die | |
lautet: „Weiße Menschen heilen die Schlafkrankheit.“ Komplett außen vor | |
gelassen wird, dass in den Kolonien in diesem Zusammenhang Experimente mit | |
Medikamenten vorgenommen wurden, die man in Deutschland niemals zugelassen | |
hätte, weil sie lebensgefährlich waren. Ähnlich ist das mit Texten: Wenn | |
überhaupt werden Texte in Teilen überarbeitet, sodass selbst neuere | |
Schulbücher vergleichsweise alt sind. Hinzu kommt, dass Schulbücher lange | |
in Verwendung sind. Schulbücher hängen dem Diskurs etwa 15 Jahre hinterher. | |
Das sind keine neuen Bücher. | |
Sie schreiben selbst rassismuskritische Unterrichtsmaterialien. Was machen | |
Sie da anders? | |
Zum einen achte ich darauf, welche Bezeichnungen wir verwenden. Außerdem | |
ist es mir wichtig, Kolonialismus nicht als abgeschlossenes Thema | |
darzustellen, sondern als eines, das sich bis in die Gegenwart darauf | |
auswirkt, wie wir Dinge wahrnehmen und einordnen. Das ist wichtig, weil ja | |
viele Schüler*innen selbst Rassismuserfahrungen machen. Lehrangebote über | |
Kolonialismus werden in der Regel auf eine Art und Weise gemacht, die für | |
weiße Menschen gedacht ist. Da wird gar nicht mitgedacht, dass in einem | |
Klassenzimmer Menschen sitzen könnten, die gegenwärtig einen persönlicheren | |
Bezug zu dem Thema haben. | |
Wie äußert sich das konkret? | |
Weiße Menschen, die in Schulbüchern vorkommen, haben meistens eine hohe | |
Bildung, treffen eigenständig Entscheidungen, sie leben in | |
Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften und studieren. Schwarze Menschen | |
und People of Color sind unzivilisiert, können sich nicht eigenständig | |
helfen. In der Wissenschaft nennen wir das hidden curriculum, also | |
heimlicher Lehrplan, damit ist die implizite Vermittlung von Lehrinhalten | |
in Schulbüchern gemeint. | |
Was können Lehrende tun, wenn geeignete Lehrmaterialien fehlen? | |
Es gibt diesen Wunsch, perfekte oder „rassismusfreie“ Lehrmaterialien zu | |
haben. Aber vor dem Rassismus und den Kategorien, die rassistische | |
Ursprünge haben, gibt es so schnell kein Entkommen. Was wir machen können, | |
ist, uns auf den Rassismus zu beziehen und mit Schüler*innen eine kritische | |
Perspektive einnehmen, um ihn zu dekonstruieren. Das heißt: Wir können uns | |
[2][problematische Materialien anschauen] und sie reflektieren. Wir können | |
mit Schüler*innen darüber sprechen, welche Perspektiven vorkommen, was | |
Grundannahmen und Ideale sind, die mitschwingen. Oder wie ein Schulbuch | |
überhaupt zustande kommt. | |
17 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.change.org/p/hessisches-kultusministerium-deutsche-kolonialgesc… | |
[2] /Was-Kinder-ueber-Migration-lernen/!5280851 | |
## AUTOREN | |
Simon Sales Prado | |
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