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# taz.de -- Massaker von Paris vor 60 Jahren: Tote am Ufer der Seine
> Ein Massaker an Algeriern in Paris und die radikale Solidaritätsbewegung
> der Adenauer-Ära: Beides gehört in unser antikoloniales Gedächtnis.
Bild: Gedenken an die Opfer des Massakers vom 17. Oktober 1961 in Paris
Ein [1][Massaker] der Polizei auf den Straßen von Paris? Unvorstellbar. Und
doch war es so, vor ziemlich genau 60 Jahren, als der Algerienkrieg in
seine finale Phase trat. Nach einer friedlichen Demonstration für die
Unabhängigkeit der Kolonie lagen Leichen am Ufer der Seine, gefesselte
Leichname. Die Zahl der Toten, wohl über Hundert, wurde niemals genau
ermittelt; es waren, fast überflüssig zu sagen, algerische Tote.
Nicht nur an sie möchte ich hier erinnern, sondern an eine Bewegung in
Westdeutschland, die jenem blutigen Oktobertag 1961 bereits lange
vorausging: radikale Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf – in
den 1950er Jahren, der muffigen Adenauer-Ära. Es war die erste
internationalistische Bewegung nach dem Ende des Nationalsozialismus.
Die Schar der Aktivisten war überschaubar, Frauen und Männer in kleinen
heterogenen Gruppen: Gewerkschafter, Intellektuelle, Kommunisten,
Trotzkisten, Naturfreunde, engagierte Christen, darunter ein paar
Katholiken mit CDU-Parteibuch. Sie schmuggelten Geld und Waffen für die
Befreiungsfront, brachten Algerier, die aus Frankreich fliehen mussten,
nachts im Kofferraum über die Grenze.
Manche halfen, in Marokko eine geheime Waffenproduktion aufzubauen, getarnt
als Orangenplantage, und in Osnabrück flog der Versuch auf, durch die
Herstellung von Hunderttausenden gefälschter Franc-Scheine in Frankreich
eine Bankenkrise heraufzubeschwören. All das wirkt vor dem Hintergrund des
zeitgenössischen Nierentisch-Ambientes gleichfalls unglaublich. Womöglich
wurde damals der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung auf Nordafrika
projiziert, aber was tut das zur Sache?
Algerien, so beschrieb es [2][Claus Leggewie], bot „die Partitur, mit der
man in den pathetischen Orgelton der verordneten deutsch-französischen
Aussöhnung ein paar antikoloniale Töne einmischen konnte“. Dokumente der
Befreiungsbewegung lasen die Westdeutschen übrigens manchmal in
Übersetzungen, die aus der DDR kamen. Das Wissen und die Erfahrungen eines
früheren Antikolonialismus sind heute aus mehr als einem Grund verschüttet
– aber muss das so bleiben?
Ich selbst verdanke Details zur Algerienbewegung dem Buch „[3][Hoch die
internationale Solidarität]“ der Journalisten Werner Balsen und Karl
Rössel, es erschien vor schlanken 25 Jahren. Als das Werk aus einem
antiquarischen Versand bei mir eintraf, war es bestückt mit diversen
bräunlichen Zeitungsausschnitten. Das wird aus einem Nachlass sein, ging
mir durch den Kopf: Ich halte das Buch eines Toten in der Hand.
Was aber haben wir seit damals gewonnen, was verloren? Als Frankreich in
Algerien folterte und massenhaft internierte, war die Erinnerung an den
Nationalsozialismus noch frisch. Manche französischen Intellektuellen, die
sich auf die Seite des Befreiungskampfes stellten, hatten in deutschen KZs
gelitten. Und sie sagten über die Lager, die Frankreich in Algerien
einrichtete: „Müssen wir uns damit trösten, dass es in diesen Lagern weder
Gaskammern noch Krematorien gibt?“
## Solidarität von Ex-KZ-Häftlingen
Später stellte sich heraus: Der für [4][das Massaker in Paris
verantwortliche Polizeipräfekt] hatte zur NS-Zeit für das Vichy-Regime an
der Deportation französischer Juden mitgewirkt. Multidirektionale
Erinnerung mag erst in jüngerer Zeit auf diesen Begriff gebracht worden
sein, doch existiert sie seit Langem, hat sich den Zeitgenossen von
Geschehnissen aufgedrängt, und der Algerienkrieg ist dafür ein
herausragendes Beispiel.
1961, im Jahr des Massakers von Paris, begann in Jerusalem der
[5][Eichmann-Prozess], wurde die Spezifik der Shoah vor den Augen der Welt
verhandelt. Niemand setzte sie mit den Verbrechen in Algerien gleich, wohl
aber wurden Kolonialismus und Nationalsozialismus in Beziehung zueinander
gesehen. Jean-Paul Sartre notierte bereits in den 50er Jahren, in der
Kolonie würden junge Franzosen gezwungen, „für Nazi-Prinzipien ihr Leben zu
lassen, gegen die wir vor zehn Jahren gekämpft haben“.
Und: „1945 haben wir all die falschen Naivitäten, die Ausflüchte und
Unaufrichtigkeiten, das Schweigen und die Komplizenschaft als
Kollektivverantwortung angesehen. Wir haben den Deutschen das Recht
abgesprochen, zu behaupten, dass sie nichts von den Lagern gewusst hätten.
‚Ach was!‘, sagten wir. ‚Sie wussten alles!‘ Und wir hatten recht: sie
wussten alles. Erst heute können wir etwas verstehen: Denn auch wir wissen
alles.“
Hans Magnus Enzensberger nahm diese Assoziationen später im deutschen
Kontext auf; wer dem Horror in der französischen Kolonie tatenlos zusah,
mache sich mitschuldig. Auch in der deutschen Algerienbewegung gab es
vormalige KZ-Häftlinge. Der Kommunist [6][Winfried Müller] wurde unter dem
Tarnnamen Si Mustapha zur Schlüsselfigur, um deutsche Söldner, die in der
französischen Fremdenlegion am Algerienkrieg beteiligt waren, zur Desertion
zu bewegen.
Sie mussten dafür ihre Waffen mitnehmen und sie an die Befreiungsfront
übergeben. Si Mustapha, der das organisierte, war selbst ein
Wehrmachtsdeserteur gewesen. Verflochtene Geschichten; das ist heute ein
Sujet, darüber werden kluge Texte geschrieben. Ob früher mehr gehandelt
wurde? Beim Blättern im vergilbten Buch über die Solidarität vergangener
Zeiten blieb ich dann noch an einem Foto hängen, Westberlin 1964, es ging
um imperialistische Machenschaften im Kongo.
Schwarze und weiße Studenten (männlich) demonstrierten Seite an Seite, sie
trugen sehr korrekt wirkende Stoffmäntel und Lederschuhe, was sie nicht
hinderte, eine Polizeikette zu durchbrechen. Wie haben sie einander damals
betrachtet? Man definierte sich über einen gemeinsamen Gegner, es zählten
Interessen, nicht Identitäten. Die Analysen waren eher holzschnittartig,
und individuelle Verstrickung in Rassismus wurde geflissentlich übersehen.
Aber da war etwas, für das wir heute nicht einmal mehr ein Wort haben.
11 Aug 2021
## LINKS
[1] /Massaker-an-Algeriern-in-Paris/!5081514
[2] https://www.jstor.org/stable/24194723
[3] https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Werner-R%C3%B6ssel-Balsen+Hoch-die-in…
[4] https://www.spiegel.de/politik/ausland/nazi-kollaborateur-maurice-papon-ist…
[5] /60-Jahrestag-des-Eichmann-Prozesses/!5759178
[6] https://www.youtube.com/watch?v=Oqs12aie9BQ
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
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