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# taz.de -- Dominique Manottis „Marseille.73“: Mord und Gesellschaftskritik
> 1973 werden in Marseille Algerier ermordet. Dominique Manottis Roman
> zeigt die Verbindungen zu rechtsgerichteten Geheimverbänden auf.
Bild: 1962 gibt Präsident de Gaulle das Waffenstillstandsabkommen mit Algerien…
Marseille im Jahr 1973: Eine Kette von Morden an Algeriern erschüttert die
Stadt, oder jedenfalls Teile seiner Einwohnerschaft. Die algerischen
Arbeiter beginnen sich zu organisieren, es kommt zu Streiks als Protest
gegen Rassismus und Gewalt. Der tonangebende Teil der Presse aber ist damit
beschäftigt, die Morde in der Öffentlichkeit herunterzuspielen und die
Streikenden zu verteufeln, während im Polizeiapparat starke Kräfte daran
arbeiten, die vielen mysteriösen Todesfälle nach Möglichkeit niemals
aufzuklären.
Das ist der historische Hintergrund, auf dem die Personen in Dominique
Manottis neuem Roman agieren, der in vielerlei Hinsicht ein Augenöffner
ist. Die Parallelen zu den deutschen NSU-Morden und den innerpolizeilichen
und gesellschaftlichen Widerständen bei ihrer Aufklärung sind frappierend.
Der zeitgeschichtliche Kontext allerdings unterscheidet sich grundlegend.
Der Algerienkrieg, an dessen Ende die Unabhängigkeit Algeriens stand, lag
im Jahr 1973 nur etwas mehr als ein Jahrzehnt zurück, und längst nicht alle
Franzosen – schon gar nicht in Militär und Polizei – hatten sich mit dem
Ende des französischen Kolonialreichs abgefunden.
## Die sogenannten „Pieds-noirs“
Dominique Manotti zeigt unter anderem, wie Geheimverbände von
rechtsgerichteten sogenannten Pieds-noirs, ehemaligen Algerienfranzosen,
Teile der Sicherheitsorgane unterwanderten. Nicht zuletzt beginnt man bei
der Lektüre von „Marseille.73“ eine leise Ahnung davon zu bekommen, warum
die Antagonismen in der französischen Gesellschaft so sehr viel häufiger
gewalttätige Formen annehmen als hierzulande.
Manottis Roman hat keine wirkliche Hauptperson, sondern zeigt vielmehr
einen Ausschnitt aus einem ganzen Gesellschaftspanorama. Es gibt einen
rechtschaffenen jungen Kommissar (dies ist sein zweiter Manotti-Fall),
Théodore Daquin, der in Marseille zugezogen ist und mit einem kleinen Team
anständiger Mitarbeiter rassistischen Machenschaften hinterherermittelt, in
die möglicherweise auch Kollegen aus anderen Kommissariaten verwickelt
sind. Daquins Perspektive kommt vielleicht etwas häufiger vor als andere,
aber nicht in sehr markanter Weise.
Aus der Reihe der zahlreichen Morde, die in jenen Monaten in Marseille
geschehen (die anderen Todesfälle zitiert Manotti nur in Form von kurzen
Zeitungsmeldungen), greift die Autorin einen Fall heraus: einen Mord an
einem unbescholtenen 16-jährigen Jungen, der aus einem Auto heraus
erschossen und in den Medien anschließend als angeblicher Kleinganove
verleumdet wird.
## Ermittlungen auf eigenen Faust
Während die örtliche Polizei im Wohnviertel des Opfers die Ermittlungen
nach Kräften verschleppt, sammeln die älteren Brüder des Ermordeten auf
eigene Faust Zeugenaussagen und werden unterstützt von einem Anwalt, der
für eine linke Hilfsorganisation arbeitet. Doch die Strippenzieher eines
reaktionären Pieds-noirs-Schützenvereins wollen um jeden Preis verhindern,
dass der Fall vor Gericht Wellen schlägt, und schicken eine schöne junge
Frau als Spionin vor, um ihrerseits eine Intrige gegen die wehrhafte
Familie des Opfers vorzubereiten.
Es ist ein Plot, der an Spannungspotenzial nichts zu wünschen übrig lässt.
Spannung gehört allerdings nicht unbedingt zu den primären literarischen
Zielen von Dominique Manotti. Manotti-Romane sind keine Krimis im reinen
Unterhaltungssinn, sondern fiktionalisierte – und auf gründlicher Recherche
basierende – Gesellschaftskritik, die sich gegen kriminelle Machenschaften
von Privilegierten zum Nachteil von Unterprivilegierten richtet. Das ist
sehr verdienstvoll, häufig erhellend und allein deshalb in hohem Maße
lesenswert.
Manottis staubtrockener Stil allerdings, den als „lakonisch“ zu bezeichnen
schon maßlos übertrieben wäre, ist gewöhnungsbedürftig und sehr
eigenwillig. Diese parataktisch formulierende Sachlichkeit hat etwas
geradezu Demonstratives, als wollte die Autorin unbedingt beweisen, dass
sich Literatur auch schaffen lasse, indem man auf etwas so Hedonistisches
wie elegant gebundene Narrativität verzichtet. Immerhin: Dieser Beweis ist
damit erbracht.
3 Feb 2021
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Kriminalliteratur
Schwerpunkt Frankreich
Algerien
Postkolonialismus
Kriminalroman
Schlagloch
taz.gazete
Afrobeat
Literatur
Kriminalroman
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