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# taz.de -- „Weiter Himmel“ von Kate Atkinson: Erfahrungen mit dem Bösen
> Die Krimi-Autorin Kate Atkinson hat den fünften Jackson-Brodie-Fall
> veröffentlicht. Darin wollen alle Protagonisten ihre Vergangenheit
> vergessen.
Bild: Wer vermutet auf dem Golfplatz schon das Böse? Drei Golf-Freunde betreib…
Kaum etwas ist in diesem Roman, wie es scheint; kaum jemand, was er oder
sie zu sein vorgibt. Einzig Bunny, der kahlköpfige Mittfünfziger, der im
abgerockten Palace-Theater im englischen Küstenstädtchen Bridlington die
glitzernde Dragqueen gibt, betreibt sein Doppelleben offen und ehrlich.
Alle anderen wollen entweder ihre Vergangenheit vergessen oder ihre
Gegenwart verschleiern. Und der Privatdetektiv sowie Ex-Cop Jackson Brodie,
der sein Geld mittlerweile überwiegend mit der Beschattung untreuer
Eheleute verdient, gerät wieder einmal reichlich zufällig hinein in ein
großes Durcheinander.
Es ist der fünfte [1][Jackson-Brodie-Fall] aus der Feder von Kate Atkinson,
die sowohl zur ersten Riege der Kriminalautorinnen der Gegenwart zählt als
auch darüber hinaus eine Schriftstellerin ist, die immer wieder für
Überraschungen gut ist. So hat Atkinson etwa den Spionageroman in lässig
feministischer Weise neu interpretiert („Deckname Flamingo“, Dt. 2019) oder
das Genre des biografischen Romans mithilfe eines raffinierten
metafiktionalen Verfahrens verfremdet („Die Unvollendete“, Dt. 2015).
Auch ihre Krimis sind weit mehr als Spannungsliteratur. Vor allem verwendet
Atkinson das Genre dazu, zu zeigen, dass mit der Welt etwas ganz
grundsätzlich nicht stimmt: dass niemand vor dem Bösen jemals wirklich
sicher ist, dass es oft näher ist, als wir denken, und dass es sich andere
Menschen als Wirtstiere sucht. Dagegen hilft nur ein gesunder Stoizismus,
ergänzt durch etwas, das mit „grimmiger Humor“ vielleicht annähernd
beschrieben wäre.
## Ein unerkannter Held
Atkinsons Jackson Brodie, durch mannigfaltige Erfahrungen mit dem Bösen im
Menschen schon reichlich abgeklärt, ist also so etwas wie der große Stoiker
unter den Detektiven. Er ist ein unerkannter Held, dessen Taten niemals
genügend Würdigung erfahren, der selten das Glück hat, zur rechten Zeit am
rechten Ort zu sein, und dessen Privatleben nie aufhört, kompliziert zu
sein. Doch Jackson, der nicht an Zufälle glaubt, ist hartnäckig, physisch
hart im Nehmen und mental bis ins Mark durchdrungen von dem Impetus, das
Richtige zu tun.
Jackson Brodie ist nur eine von mehreren Hauptfiguren in „Weiter Himmel“,
einem komplexen Drama um menschliche Abgründe, menschliche Anständigkeit
und alle Schattierungen dazwischen.
Atkinson beleuchtet es von verschiedenen Seiten: zum Beispiel aus der Sicht
von Vince, einem Mann mittleren Alters, der gerade viel Pech im Leben hat
und dann auch noch zufällig mitbekommt, dass seine drei Golffreunde Tommy,
Andy und Steve, nach außen hin angesehene bürgerliche Existenzen, einen
Frauenhändlerring betreiben.
## Dunkle Vergangenheit
Auch Crystal, die attraktive Ehefrau des skrupellosen Tommy, die selbst auf
eine dunkle Vergangenheit zurückblickt, ahnt nicht, womit ihr Mann, der
eine Spedition betreibt, in Wahrheit sein Geld verdient. Und Andy, der als
Tommys Mr. Nice Guy arglose menschliche Ware am Flughafen abzuholen pflegt,
fühlt zwar ab und zu matte Gewissensregungen, ist jedoch erst in der Lage,
ihnen nachzugeben, als es längst zu spät ist.
Dieser Welt der glatten bourgeoisen Oberfläche über den gewalttätigen
Abgründen hält Atkinson einen metaphorischen Spiegel entgegen in Gestalt
jener eigentümlichen Badeort-Parallelwelt, in der Tommys verträumter
halbwüchsiger Sohn Harry seine Sommerjobs betreibt: zum einen als
Kartenverkäufer in der Geisterbahn, wo er die Draculamaske anziehen muss,
wenn der als Erschrecker eingestellte Kollege nicht zum Dienst erscheint.
Und zum anderen als Laufbursche im trashigen Palace-Theater, in dem auch
ein notorischer Kinderschänder – aber dass er einer ist, weiß niemand außer
ihm selbst – auftritt, der das zahlende Publikum mit unterirdischen Witzen
unterhält.
## Gleichzeit komisch, traurig und tröstlich
Das Ganze ist komplex, oft auf bissige Weise komisch, gleichzeitig auf
vielfältige Weise traurig, aber ebenso oft auch wieder tröstlich. Denn
neben den Bösen sowie den Schwachen, die sich den Bösen unterordnen, gibt
es bei Atkinson auch die anderen: die Starken, die Unbeirr- und
Unkorrumpierbaren, zu denen auch die Unscheinbaren gehören, die nur nie
zeigen konnten, was in ihnen steckt.
Spannung entsteht auch dadurch, dass man sich nie hundertprozentig sicher
sein kann, ob das Böse nicht doch die Oberhand gewinnt. Wenn es aber
unterliegt, so sorgt die Autorin oft für einen zusätzlichen Bonus, der
darin liegt, dass am Ende oft eine eher außerstaatliche Idee von
Gerechtigkeit obsiegt.
30 Apr 2021
## LINKS
[1] /Krimiserie-aus-Grossbritannien/!5058485
## AUTOREN
Katharina Granzin
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