# taz.de -- Krimiserie „Mare of Easttown“ auf Sky: E-Zigarette, kein Lippen… | |
> In „Mare of Easttown“ ist die titelgebende Ermittlerin, gespielt von Kate | |
> Winslet, eine Wucht – ebenso wie das sorgfältige Kleinstadtpanorama. | |
Bild: Mare ist eine Ermittlerin, wie man sie lange nicht gesehen hat | |
Vielleicht muss man nicht gleich bis ins Jahr 1962 zurückschauen, als im | |
deutschen Fernsehen [1][mit dem Francis-Durbridge-Sechsteiler „Das | |
Halstuch“ der allererste „Straßenfeger“] lief und die Suche nach dem | |
Halstuchmörder die ganze Bundesrepublik beschäftigte. Und als der | |
Kabarettist Wolfgang Neuss, der seine Identität am Tag vor der Sendung der | |
letzten Folge in einer Zeitungsannonce preisgab, Morddrohungen erhielt und | |
sich von der Bild-Zeitung einen „Vaterlandsverräter“ schimpfen lassen | |
musste. | |
Nein, wahrscheinlich genügt es, drei Jahrzehnte zurückzugehen. Damals | |
(1990/91) war es die Frage, [2][wer in der Kleinstadt „Twin Peaks“ die | |
junge Laura Palmer ermordet hatte], die die Fernsehzuschauer umtrieb. Und | |
nachdem das Geheimnis gelüftet war, ging die Einschaltquote in den Keller. | |
So war das damals. Und ein bisschen erinnert das Bohei, das | |
englischsprachige Medien dieser Tage um eine neue Krimiserie (des | |
Bezahlsenders HBO) veranstaltet haben, schon daran. | |
In der Tat ist der Schauplatz in einer amerikanischen Kleinstadt mit „Twin | |
Peaks“ vergleichbar. Die Teenager-Mutter Erin wird am Ende der ersten von | |
sieben Folgen zum Mordopfer. Davor verwenden Serienschöpfer Brad Ingelsby | |
und Regisseur Craig Zobel (zwei Folgen „The Leftovers“, eine Episode | |
„Westworld“) – beide gut etabliert, aber noch ohne Starstatus – viel Ze… | |
darauf, das Kleinstadtpanorama zu entfalten. | |
## Ermittlerin von Format | |
Diesen Mikrokosmos, in dem jeder jeden kennt, wenn er nicht gar mit ihm | |
verwandt ist. Das wird sich ändern, wie gesagt, aber die titelgebende „Mare | |
of Easttown“ hat als Detective Sergeant bei der örtlichen Polizei erst mal | |
nicht viel mehr zu tun, als die Anzeige einer älteren Frau aufzunehmen, | |
deren Enkelin beim Duschen von einem Voyeur beobachtet worden sein soll. Da | |
ist das eigene Familienleben – vier Generationen unter einem Dach: Mare, | |
ihre Mutter, ihre Tochter und ihr Enkel; der Ex im Haus nebenan – schon | |
wesentlich aufreibender. | |
Mare wird gespielt von Kate Winslet (in ihrer ersten Serienrolle seit | |
„Mildred Pierce“ vor zehn Jahren), die auch mitproduziert hat, wie das | |
heute so üblich ist. Und das ist schon eine Ermittlerin von Format, die sie | |
sich da ausgesucht hat. Da muss man auch schon wieder 25 Jahre | |
zurückblicken, zur [3][Oscar-Abonnentin Frances McDormand]: Eine solche | |
Kombination aus hemdsärmeliger Sprödigkeit und überragender Kompetenz wie | |
bei Marge Gunderson, der hochschwangeren Polizeichefin aus „Fargo“, hatte | |
man davor noch nicht und hat man danach nicht wieder gesehen. | |
## Kein Ombré, nicht Grunge | |
Bis jetzt: Mares rausgewachsene Blondierung hat bestimmt nichts mit der | |
angesagten Ombré-Frisur zu tun. Ihre Holzfällerhemden sind nicht Grunge. | |
Das Rauchen von E-Zigaretten wird ganz sicher nie cool aussehen. Als Mare | |
sich, sie kann es selbst kaum glauben, mit einem Mann verabredet, muss sie | |
in ihrer Schublade lange nach einem noch irgendwie brauchbaren Lippenstift | |
suchen. | |
Mare ist das Zentrum – keine Figur beliebig. Ihr Date zum Beispiel: Der | |
Schriftsteller (Guy Pearce) mit dem einen Bucherfolg vor vielen Jahren, | |
der jetzt an einem Provinzcollege Creative Writing unterrichtet, ist ja so | |
ein amerikanisches Klischee. Eigentlich. Aber dann wurde das Buch damals, | |
in den 1990ern, sogar verfilmt, wenn auch nur fürs Fernsehen. Mit Jill | |
Eikenberry, mit der es vielen, auch Amerikanern, so gehen könnte wie Mare | |
(„I don’t know who that is“). | |
## Naturalistisches Setting | |
Die aber damals, in den 1990ern, tatsächlich eine gewisse Größe im | |
US-TV-Geschäft war, als Teil des Anwaltsteams in der (tollen) [4][Serie | |
„L.A. Law“]. Das Überbringen der Todesnachricht ist eine Standardszene im | |
Fernsehkrimi. Aber so ein gestandener Redneck reagiert dann eben doch etwas | |
anders, als man das aus dem „Tatort“ kennt. | |
So sorgfältig die Figuren gezeichnet sind, so naturalistisch (und also | |
überhaupt nicht surreal-mystisch wie in „Twin Peaks“) ist das Setting. Die | |
Menschen fahren riesige SUVs oder Pick-ups, haben aber kein Geld (und keine | |
Versicherung) für die medizinische Versorgung ihrer Kinder. | |
Der Genrekrimi als Sittenbild, das ist ja im Grunde ein ganz alter Hut (im | |
Stile von Sjöwall/Wahlöö). Und „Mare of Easttown“ ist eigentlich geradezu | |
altmodisches Fernsehen, mit dem jeweils neuen Hauptverdächtigen am Ende | |
einer jeden Episode. Aber es ist handwerklich so verdammt gut gemacht. Kate | |
Winslet ist eine Wucht. Und der Cliffhanger zwischen Folge fünf und sechs – | |
könnte sein, dass Kritiker noch in Jahrzehnten darauf Bezug nehmen werden, | |
wie heute auf „Das Halstuch“ oder „Twin Peaks“. | |
21 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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