# taz.de -- Debatte über Islamismus in Frankreich: Ins Wespennest der Laizität | |
> Der islamistisch motivierte Mord an Samuel Paty spaltet die französische | |
> Bevölkerung und Politik – sogar über die Landesgrenzen hinaus. | |
Bild: Macron beim Staatsakt zu Ehren des ermordeten Samuel Paty. Doch lange dau… | |
PARIS taz | Mit seiner Bemerkung, die separaten Regale mit Halal-Produkten | |
in Supermärkten oder Kleider für bestimmte Glaubensvorschriften finde er | |
„persönlich schockierend“, weil damit die Selbstabgrenzung von religiösen | |
Gemeinschaften („Communautarisme“) vom Rest der Gesellschaft beginne, hat | |
der französische Innenminister Gérald Darmanin in ein Wespennest gestochen. | |
Wie sichtbar darf denn der Islam in Frankreich sein? Wie soll sich diese in | |
Frankreich von vielen weiterhin als „ausländisch“ betrachtete Religion, die | |
immerhin zwischen drei und fünf Millionen „Seelen“ zählt, integrieren oder | |
assimilieren? | |
Die Frage hängt mit der Geschichte der Kolonisation, mit gescheiterter | |
Immigrationspolitik der letzten Jahrzehnte und mit einer seit mehr als | |
einem Jahrhundert dauernden Kontroverse über die strikte Trennung von Staat | |
und Religion in Frankreich zusammen. Regelmäßig kommt es zur Konfrontation | |
wegen Kopftuchverbots in Schulen, Verschleierung in der Öffentlichkeit oder | |
„Burkinis“. | |
Im Stil Reaktion und Gegenreaktion eskaliert derzeit dieser Streit erneut | |
[1][nach dem Mord am Lehrer Samuel Paty], der im Unterricht die | |
umstrittenen Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Nach Äußerungen von | |
Staatschef Emmanuel Macron zur Verteidigung der humanistischen und | |
weltlichen Verfassung der Republik werden in den Golfstaaten und in der | |
Türkei französische Importprodukte boykottiert. In der Rede hatte Macron | |
sich gegen den „Separatismus“ fundamentalistischer oder radikaler Muslime | |
in Frankreich ausgesprochen und eine „Strukturierung des Islam in | |
Frankreich“ gewünscht. | |
Dabei geht es namentlich um die Ausbildung der Imame, die zum Teil aus dem | |
Ausland – auch aus der Türkei – kommen. Gegen diese Organisation des Islam | |
wendet sich der türkische Präsident in einem vehementen persönlichen | |
Angriff: Macron solle „sich auf seine geistige Gesundheit untersuchen | |
lassen“, meinte Recep Tayyip Erdoğan. Er wirft Frankreich eine | |
Diskriminierung der Muslime vor: „Millionen von Mitgliedern religiöser | |
Gemeinschaften werden auf unterschiedliche Weise behandelt“, sagte Erdoğan. | |
Frankreich berief als Reaktion auf die Verbalattacken am Wochenende | |
[2][seinen Botschafter aus Ankara zu Konsultationen nach Paris]. | |
## Rechte Töne auch aus der linken Partei | |
In Frankreich sieht sich die extreme Rechte in ihren muslimfeindlichen | |
Forderungen bestätigt. Das Amalgam zwischen radikalem Islamismus und dem | |
Islam ist in diesen Kreisen schnell zur Hand. | |
Der nicht weniger patriotische Wortführer der linken Partei France | |
Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, wiederum will sich nicht länger von der | |
Staatsführung im Namen der nationalen Einheit instrumentalisieren lassen. | |
Der Präsident müsse seine Strategie überdenken: „Frankreich wurde | |
erniedrigt, gedemütigt und lächerlich gemacht. Was gedenkt er zu tun, außer | |
sich auf Twitter zu äußern?“ | |
Mélenchon glaubt aber in Anspielung auf die Herkunft des Terroristen von | |
Conflans-Sainte-Honorine auch, dass es „ein Problem mit der Gemeinschaft | |
der Tschetschenen“ gebe. Ihre Dossiers müssten „einzeln geprüft werden“. | |
Alle, die in Kontakt mit dem politischen Islamismus stünden wie der | |
Attentäter Abdoulakh Ansorov, müssten „gefasst und abgeschoben werden“. | |
Mélenchon reagiert so auf [3][Vorwürfe von rechts, in denen der Linken | |
sträfliche Sympathien mit dem Islamismus untergeschoben werden]. | |
Wenn die eigentliche Absicht des jungen tschetschenischen Terroristen | |
Ansorov gewesen sein könnte, mit dem Mord am Lehrer Samuel Paty nicht nur | |
den Streit über Mohammed-Karikaturen anzuheizen, sondern generell die | |
Verständigung zu vereiteln, dürfte die Rechnung zumindest teilweise | |
aufgegangen sein. Fünf Jahre nach der blutigen Attacke auf die Redaktion | |
der Satire-Zeitung Charlie Hebdo ist Frankreich keinen Schritt | |
weitergekommen: Weder im Kampf gegen organisierte Dschihadisten oder eher | |
individuelle Täter wie Ansorov noch in der Debatte über die | |
Meinungsfreiheit, die in der weltlichen Republik Frankreich auch das Recht | |
der Gotteslästerung einschließt. | |
## Gefahr einer ideologisch motivierten Überreaktion | |
Wie schon 2015, als (fast) ganz Frankreich mit „Ich bin Charlie“-Schildern | |
auf die Straße ging, wurde in den ersten Tagen nach der Enthauptung des | |
Lehrers [4][nationale Einheit demonstriert]. Doch diese defensive Eintracht | |
hält nie lange. Ein kleine Minderheit – nicht nur von Muslimen in | |
Frankreich – denkt, dass die frechen Zeichner von Charlie Hebdo oder auch | |
der Lehrer mit seinem Unterricht über die Pressefreiheit „selber schuld“ | |
seien und darum für ihre „Provokation“ büßen. Das sind Ansichten, die | |
tatsächlich existieren. | |
Die Regierung dagegen steht unter politischem Druck, da eine von | |
Rechtsextremisten seit Jahren beeinflusste, latent muslimfeindliche | |
Öffentlichkeit eine starke Reaktion der Staatsführung erwartet. Ohne die | |
Ergebnisse der Ermittlungen abzuwarten, hat der Innenminister angekündigt, | |
231 wegen Sympathien zum islamistischen Terrorismus oder propagandistischen | |
Aktivitäten registrierte Ausländer würden in ihre Herkunftsländer | |
ausgewiesen. | |
Von Extremisten benutzte Moscheen würden geschlossen, kündigte Darmanin an, | |
der die Drohung mit der [5][provisorischen Schließung einer Moschee] im | |
Pariser Vorort Pantin wahrmachte. Außerdem wünscht der Minister, dass | |
insgesamt 50 Organisationen wie namentlich das Conservatoire contre | |
l’Islamophobie en France (CCIF) oder die Hilfsorganisation BarakaCity wegen | |
ihrer angeblichen Nähe zu radikalen Islamisten verboten und aufgelöst | |
werden. | |
Meinungsfreiheit soll nicht Laisser-faire sein. Doch solche Eingriffe wie | |
das Verbot von Vereinigungen im Namen der Demokratie müssen von Fall zu | |
Fall gut belegt werden. Die Gefahr einer ideologisch motivierten | |
Überreaktion, die bloß neue Ressentiments schafft, statt die Integration zu | |
fördern und echte Feinde zu bekämpfen, ist in diesem Kontext | |
allgegenwärtig. | |
26 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Trauer-um-ermordeten-Lehrer-bei-Paris/!5720032 | |
[2] /Nach-Aeusserungen-von-Erdoan/!5723242 | |
[3] /Umgang-mit-islamistischem-Terror/!5720620 | |
[4] /Trauer-um-ermordeten-Lehrer-bei-Paris/!5720050 | |
[5] /Nach-Mord-an-Lehrer-in-Frankreich/!5722691 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
## TAGS | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Sexismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Charlie Hebdo | |
Deutsche Islamkonferenz | |
Kolonialismus | |
Wien | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Terrorismusbekämpfung | |
Schwerpunkt Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Politologe über Islam in Frankreich: „Ein innerer Feind wird geschaffen“ | |
Eine Gesetzesvorlage soll Laizität stärken. Doch in Frankreich werde der | |
Islam nicht nur von Rechten als ausländische Religion betrachtet, sagt | |
Alain Policar. | |
Sex als „eheliche Pflicht“: Mehr als unerfreulich | |
Sex in der Ehe sei „obligatorisch“, urteilt ein Kassationsgericht in | |
Frankreich. Ein unglaublicher Skandal, frauenfeindlich und sexistisch. | |
Ermordung des Lehrers Samuel Paty: Lüge mit dramatischen Folgen | |
Die Ausrede einer Schülerin hat in Frankreich offenbar die Hass-Eskalation | |
gegen Samuel Paty ausgelöst. Ihr Vater hatte ein Hetzvideo veröffentlicht. | |
Debatte über „Islamo-Gauchismo“ in Frankreich: Der Feind steht in der Uni | |
Frankreichs Hochschulministerin Frédérique Vidal wittert eine „giftige“ | |
Allianz von Linken, Akademikern und Islamisten. La Grande Nation ist | |
empört. | |
Prozess um Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Die unmögliche Sühne | |
Am Mittwoch sollen die Urteile im Prozess um die islamistische | |
Attentatsserie von 2015 in Paris fallen. Die hohen Erwartungen bleiben aber | |
unerfüllt. | |
Nach der Islamkonferenz: Drängende Fragen ausgeblendet | |
Islamistischer Terror hat seinen Ursprung in einer religiösen Ideologie. | |
Die Islamkonferenz hat es versäumt, darüber konstruktiv zu sprechen. | |
Frankreichs koloniales Erbe: Etwas, das erzählt werden muss | |
Frankreich versteht sich als Nation der Menschenrechte. Doch es gibt Lücken | |
in dieser sinnstiftenden Erzählung, die von Grausamkeit handeln. | |
Terroranschlag in Wien: Fünf Tote, viele Verletzte | |
Mindestens ein Mann erschießt mehrere Menschen in der Wiener Innenstadt. | |
Die Polizei tötet ihn. Laut dem Innenminister soll er Islamist gewesen | |
sein. | |
Islamismus und Gesellschaft: Der religiöse Faschismus | |
Das Buch des französischen Intellektuellen Pascal Bruckner über den | |
politischen Islam könnte aktueller kaum sein. Gerade ist es auf Deutsch | |
erschienen. | |
Terror in Frankreich: Eine Art von Guantánamo | |
Nach dem jüngsten Anschlag in Nizza entbrennt eine Debatte über Migration | |
und Bürgerrechte. Die Militärpräsenz wird verstärkt. | |
Eskalation im Streit über Karikaturen: Lüstling Erdoğan auf dem Cover | |
Die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ heizt mit einem Titelblatt den Streit | |
Frankreichs mit der Türkei an. Präsident Erdoğan reagiert ungehalten. | |
Proteste gegen Frankreich: Karikaturenstreit geht weiter | |
In seltener Einigkeit verurteilen Teheran und Riad Mohammed-Karikaturen. In | |
Bangladesch gehen mehrere Tausend Menschen auf die Straße. | |
Boykottaufrufe gegen Frankreich: Macrons Phantom-Kampagne | |
Wegen einer angeblichen antiislamischen Kampagne rufen einzelne Muslime zum | |
Boykott französischer Waren auf. Das ist ein völlig falsches Zeichen. | |
Boykott französischer Produkte: Kulturkampf in den sozialen Medien | |
Einige muslimische Länder fühlen sich von Frankreichs Präsident | |
angegriffen. Auf Twitter wird zum Boykott französischer Produkte | |
aufgerufen. | |
Umgang mit islamistischem Terror: Das doppelte Monster | |
Kevin Kühnert und Sascha Lobo fordern, islamistischen Terror entschlossener | |
zu benennen und zu bekämpfen. Aber wie, ohne Rechten Futter zu geben? | |
Nach Äußerungen von Erdoğan: Macron zieht Botschafter ab | |
Nach einem verbalen Angriff des türkischen Präsidenten, zieht Frankreich | |
Konsequenzen. Die Spannungen verschärfen sich. |