# taz.de -- Nachruf auf Valéry Giscard d'Estaing: Der unverstandene Modernisie… | |
> Frankreichs früherer Präsident Valéry Giscard d'Estaing ist im Alter von | |
> 94 Jahren gestorben. In seine Amtszeit fielen wichtige | |
> Gesellschaftsreformen. | |
Bild: Ein überzeugter Europäer: Valéry Giscard d'Estaing 1974 kurz nach sein… | |
PARIS taz | Er war als Modernisierer angetreten, der nach der De-Gaulle-Ära | |
und dem Mai 68 die französische Gesellschaft und Wirtschaft verändern | |
wollte: Valéry Giscard d'Estaings liberale Zielsetzungen entsprachen 1974 | |
vielen Erwartungen, ihre Umsetzung aber stieß dann auf hartnäckigen | |
Widerstand. Nun ist er im Alter von 94 Jahren an den Folgen einer | |
Covid-19-Erkrankung verstorben. | |
Im Wesentlichen blieb Giscard bis zu seinem Tod unverstanden und trotz | |
seiner Bemühungen um Volksnähe unpopulär. Der „Giscardismus“ gilt in | |
Frankreich als politisches „UFO“. Letztlich blieb seither „liberal“ in | |
Frankreich ein Schimpfwort. | |
Mit 48 Jahren wurde Giscard 1974 der jüngste Staatschef der von Charles de | |
Gaulle als Präsidialsystem eingerichteten Fünften Republik. Wie sein | |
Vorbild Kennedy mit seiner Abkürzung JFK ließ er sich gern in den Medien | |
VGE nennen. Diesen Kurznamen behielt er wie ein politisches Markenzeichen | |
bis zu seinem Tod. | |
Nach den langen Jahren der Herrschaft von General de Gaulle und dessen | |
Nachfolger Georges Pompidou sowie seit der Jugendrevolte des Mai 68 | |
herrschte in Frankreich Bedarf an Modernisierung. Dem entsprach Giscard, | |
der junge und hochgewachsene Ex-Finanzminister und Gründer der Partei der | |
Républicains indépendants. Jedenfalls besser als der Kandidat der | |
Gaullisten, Jacques Chaban-Delmas, der eine gewisse Form der Kontinuität | |
verkörperte. Angesichts dieser Spaltung des bürgerlich-rechten Lagers hatte | |
der Kandidat der vereinten Linken, François Mitterrand, damals die echte | |
Chancen, als lachender Dritter im Jahr 1974 die Wahl zu gewinnen. Mit einer | |
hauchdünnen Mehrheit von 50,81 Prozent gegen 49,19 Prozent der Stimmen für | |
den Sozialisten obsiegte jedoch VGE in der Stichwahl. | |
## Das Bild des fortschrittlichen Präsidenten hielt nicht lange | |
Valéry Giscard d'Estaing war 1926 in Koblenz im damals noch von | |
französischen Truppen besetzten deutschen Rheinland als Sohn des | |
Finanzdirektors der französischen Behörden auf die Welt gekommen. Er wuchs | |
in Paris auf, wo er im August 1944 als 18-Jähriger an der Befreiung der | |
Hauptstadt teilnahm und sich dann in der Armee der France libre unter | |
General de Tassigny dem Feldzug in Deutschland und Österreich anschloss. | |
Nach Kriegsende setzte er seine unterbrochenen Studien in der Pariser École | |
polytechnique und der neu geschaffenen Verwaltungshochschule ENA fort. Wer | |
aus dieser Kaderschmiede hervorgeht, hat in Frankreich bis heute eine | |
steile Karriere vor sich, muss aber im Gegenzug damit rechnen, lebenslang | |
wie VGE als „Technokrat“ abgestempelt zu werden. | |
Obwohl zu seinen ersten Reformen die Senkung der Volljährigkeit von 21 auf | |
18 Jahren gehörte, blieb das plakative Bild eines fortschrittlichen | |
Präsidenten der jungen Generation wie auch seine innovative Dynamik der | |
Realpolitik nicht lange bestehen. Das hing nicht nur mit politischen | |
Problemen und Widerständen zusammen, sondern auch auch mit der Person von | |
VGE, dessen Modernität und gespielte Bürgernähe zu sehr wie eine Attitüde | |
wirkte. | |
Belächelt oder kritisiert wurde namentlich sein gleichzeitiges | |
aristokratisches Gehabe. In Wirklichkeit war er gar kein „echter“ | |
Aristokrat: Die Giscards hatten 1922 das Recht, ihrem Familiennamen den | |
Zusatz „d'Estaing“ beizufügen, erkauft. Das stand nie im offiziellen | |
Curriculum von VGE, der dann in seinen Bemühungen um Adel 2005 auch noch | |
das prächtige Schloss im Dorf Estaing (im Departement Aveyron) erwarb. | |
Besonders populär waren solche Versuche, eine blaublütige Herkunft glauben | |
zu machen, im zutiefst republikanischen Frankreich allerdings nicht. | |
Nachhaltig katastrophal für sein Image wirkte vor allem ein von der | |
Satirezeitung Le Canard enchaîné 1979 enthülltes und kompromittierendes | |
Diamantengeschenk des zentralafrikanischen Despoten Jean-Bédel Bokassa aus. | |
## Legalisierung der Abtreibung in Giscards Amtszeit | |
Während seiner siebenjährigen Amtszeit von 1974 bis 1981 wurden immerhin | |
mehrere wichtige Gesellschaftsreformen verwirklicht, die auch in seinem | |
eigenen politischen Lager nicht immer befürwortet wurden: das Recht auf | |
Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen und namentlich die Legalisierung | |
des Schwangerschaftsabbruchs in Frankreich. | |
Als Konsequenz des weltweiten Erdölschocks stoppte VGE die nach dem Krieg | |
lange geförderte wirtschaftliche Immigration in Frankreich. Der Beginn der | |
Massenarbeitslosigkeit und der Skandal um die Bokassa-Diamanten gaben der | |
linken Opposition Auftrieb. 1981 wurde der Sozialist Mitterrand gewählt. | |
Dass er seine Wiederwahl verloren hatte, blieb für Giscard d'Estaing | |
lebenslang eine schmerzliche und unverzeihliche Tragödie. Für Frankreich | |
war seine Niederlage gegen Mitterrand das Ende einer liberalen | |
Modernisierung. In die Geschichte geht er im Duo mit dem deutschen | |
Bundeskanzler Helmut Schmidt als überzeugter Europäer mit der Ambition | |
einer eng zusammenarbeitenden Gemeinschaft ein. | |
Seit seinem schmollenden Rückzug aus der Politik schrieb VGE Bücher, | |
darunter auch Romane. Er hatte am Ende seines langen Lebens die Genugtuung, | |
seinen Rivalen Jacques Chirac, den er für seine Niederlage gegen Mitterrand | |
verantwortlich machte, um mehr als ein Jahr überlebt zu haben. | |
3 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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