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# taz.de -- Frankreichs Expräsident Jacques Chirac: Der „Bulldozer“ ist tot
> Chirac war der populärste ehemalige Staatschef seines Landes, aber immer
> politisch kontrovers. Nun ist er im Alter von 86 Jahren gestorben.
Bild: Chirac hat seine Landsleute durch seine joviale und bürgernahe Art beein…
Jacques Chirac, der frühere Staatspräsident Frankreichs, Pariser
Bürgermeister und Parteichef der Gaullisten, ist nach Angaben seiner
Familie am Donnerstag in Paris friedlich im Alter von 86 Jahren verstorben.
Gesundheitlich sehr geschwächt, konnte er schon seit Jahren nicht mehr am
öffentlichen Leben teilnehmen. Die Würdigungen sind nun einstimmig,
gleichermaßen von seinen ehemaligen Parteifreunden im
bürgerlich-konservativen Lager wie von den früheren linken Gegnern, mit
denen der frühere Staatspräsident in manchen Fragen gelegentlich mehr
politische Affinitäten hatte als mit seiner politischen Familie. Wie schon
sein „sozialistischer“ Vorgänger François Mitterrand ist der üblicherwei…
als „Neogaullist“ etikettierte Chirac politisch nicht so einfach einem der
beiden großen Lager in Frankreich zuzuordnen. Vor dem Totenbett des
Ex-Präsidenten sind nun die Kontrahenten erst recht in einer für Frankreich
seltenen Eintracht versammelt.
Die lateinische Devise „De mortuis nil nisi bene“ (Über die Toten sprich
nur Gutes) galt im Fall Chirac schon, als er noch zu den Lebenden, nicht
mehr aber zu den politischen Akteuren zählte. Es ist vielleicht eine Form
von Zynismus, wenn die öffentliche Meinung in Frankreich Politiker, die wie
er während seiner Amtszeit in allen Tonlagen kritisiert wurden, sogleich in
den Himmel lobt, sobald sie als politisch tot gelten. Das war für Chirac
so, nachdem er 2007 am Ende seiner zwölfjährigen Präsidentschaft, bereits
von Krankheit geschwächt, in den Ruhestand trat. Seine schärfsten Kritiker
sagen seither allenfalls, ihnen sei von seinen beiden Amtszeiten nichts
Spektakuläres in Erinnerung geblieben und das notorisch reformträge
Frankreich habe zwischen 1995 und 2007 eine Chance zur Modernisierung und
Liberalisierung verpasst.
In den Umfragen jedoch kommt Chirac in der Konkurrenz der ehemaligen
(lebenden und toten) Staatsoberhäupter Frankreichs klar am besten weg. Auf
die Frage, welcher Ex-Präsident ihnen am sympathischsten sei, lag Chirac
2015 mit 33% klar vor Mitterrand (21%), Charles de Gaulle (17%), Georges
Pompidou (8%) und den noch lebenden Valéry Giscard d'Estaing und Nicolas
Sarkozy sowie dem damaligen Amtsinhaber François Hollande. Dieser erste
Rang in der Kategorie Sympathie in der Volksgunst ist bezeichnend für
diesen sonst so schwer zu definierenden Politiker und eine Konstante seiner
langen Karriere. Chirac hat seine Landsleute durch seine joviale und
bürgernahe Art beeindruckt. Anders als bei so vielen Politikern schien es
bei ihm natürlich und nicht nur vorgespielt, wenn zum Beispiel die Bauern
am Pariser Salon de l'agriculture sagten, niemand verstehe es wie Chirac,
Kühe zu streicheln. Am selben Ort sah man ihn leutselig Hände schütteln und
scheinbar unersättlich wie Gargantua Käse, Wurst, Wein und Bier
degustieren. Das ist das Bild, das er bei seinen Mitbürgern hinterlässt.
## Er verkörperte Frankreich
Wie Mitterrand vor ihm hat Chirac dank zwei voller Amtszeiten Frankreich
nicht nur repräsentiert, sondern verkörpert. Wie sein Vorgänger gehörte er
zu jener typisch französischen Art von Politikern, in deren Biografie
steht, dass sie schon als Halbwüchsige davon träumten, eines Tages ganz
oben zu stehen. Dieses höchste Ziel haben beide schließlich verwirklicht,
wenn auch beide erst nach zwei schweren Wahlniederlagen im dritten Anlauf.
Wer in Frankreich Staatschef werden will, braucht nicht nur Ausdauer,
sondern auch den Mut, es nach solchen Rückschlägen erneut zu versuchen.
Diese Resilienz zeichnete Chirac auf seinem langen Werdegang in höchstem
Maße aus.
Er war erst 34, als er 1965 in einer roten Bastion von Ussel in der
ländlichen Corrèze ziemlich überraschend den Wahlkampf um einen
Abgeordnetensitz gegen den Kandidaten der vereinigten Linken für sich
entschied. Chiracs Gegner hatten diesen aus der Hauptstadt zugereisten
jungen Gemeinderat von Sainte-Féréole, der unter der gaullistisch
klingenden Bezeichnung „Fünfte Republik“ antrat, zu Unrecht nicht für voll
genommen.
Chirac war zwar am 29. November 1932 in Paris als Sohn des Industriellen
Abel François Chirac und seiner Gattin Marie-Louise Valette auf die Welt
gekommen, aber er war eben dennoch ein Kind der Corrèze, wo ein Dorf seinen
Namen trägt und wo beide Großväter als Lehrer und streitbare Verfechter der
republikanischen Laizität tätig waren. Unter ihrem Einfluss verbrachte der
junge Jacques René seine Ferien. Die Corrèze am Rande des Zentralmassivs
wurde so nicht zufällig seine politische Wahlheimat, der er auch später
treu blieb, als er in Paris Karriere machte.
## Weg durch die französische Kaderschmiede
In Chiracs Lebenslauf steht der übliche Weg durch die französische
Kaderschmiede für zukünftige Staatsmänner: Nach einem Lyzeum und einem
Vorbereitungsjahr an der Eliteschule Louis-le-Grand studierte er Politische
Wissenschaften am Institut d'études politiques (IEP), danach absolvierte er
die elitäre Verwaltungshochschule ENA. Ganz geradlinig war sein Weg aber
nicht. 1950 sympathisierte er mit den Kommunisten; als Straßenverkäufer der
Parteizeitung Humanité und Mitunterzeichner des Stockholmer Appells gegen
Atomwaffen hatte er beim polizeilichen Nachrichtendienst sogar eine Akte.
Nach einem Sommerstudium an der Universität Harvard nahm er sich ein
Ausjahr, um quer durch die USA zu reisen. Der Legende zufolge finanzierte
er das mit Jobs als Tellerwäscher und Servierer.
Ab 1956 findet er seinen Weg. Er ehelicht seine frühere IEP-Kommilitonin
Bernadette Chodron de Courcel, deren aristokratische Eltern von dieser
Heirat mit einem Bürgerlichen, der eine Politikerkarriere einschlagen
wollte, nicht erbaut waren. Zuerst aber leistete Chirac als Offizier der
Kavallerie seinen Militärdienst in Algerien, wo der Kolonialkrieg tobte.
Mit Bernadette, die seine engste Wahlhelferin und Mitstreiterin wurde,
bekam Chirac zwei Töchter: Die 1962 geborene Claude, die später seine
Kommunikationsberaterin wurde, und die 1958 geborene Laurence, die unter
schweren Depressionen litt. Das war die vor der Öffentlichkeit
verheimlichte Tragödie der Familie Chirac. Als Laurence im Frühling 2016 an
Herzversagen starb, war das ein letzter Tiefschlag für ihren bereits sehr
geschwächten Vater.
Gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn wurde der junge Chirac 1962
als Talent vom damaligen Premierminister und späteren Staatschef Georges
Pompidou entdeckt. „Mein Bulldozer“ nannte Pompidou seinen energischen
Mitarbeiter, den er 1967 als Staatssekretär in die Regierung holte. 1968
spielte Chirac hinter den Kulissen eine entscheidende Rolle bei den
Verhandlungen mit der kommunistischen CGT-Gwerkschaft zur Beendigung der
Generalstreiks und der Revolte vom Mai. Angeblich traf er seinen
Gesprächspartner der Gewerkschaft mit einer Pistole in der Tasche. Den
Spitznamen „Bulldozer“ behielt er, und Pompidou blieb bis zu seinem Tod
Chiracs Mentor und Förderer. Unter seiner Protektion wurde er Minister. Nur
den Kauf des Château de Bity in der Corrèze durch das Ehepaar Chirac
missbilligte Pompidou als Fauxpas.
Wie geschickt Chirac inzwischen zu taktieren gelernt hatte, bewies er bei
den Präsidentschaftswahlen von 1974, als er seinen Parteikollegen Jacques
Chaban-Delmas verriet, um dessen bürgerlichen Rivalen Valéry Giscard
d'Estaing zu unterstützen, den er selber bereits als Konkurrenten
betrachtete. Giscard fühlte sich danach verpflichtet, Chirac zum
Premierminister zu ernennen. Doch die Differenzen und gegensätzlichen
Interessen waren von Beginn weg klar. 1976 trat Chirac zurück und gründete
aus den Überbleibseln der gaullistischen Bewegung seine eigene Partei RPR
(Rassemblement pour la République), als persönliche Wahlkampfmaschine.
Der Weg bis ins Elysée war aber noch lang. Zunächst musste sich der
ehrgeizige Chirac mit dem Amt des ersten Bürgermeisters von Paris begnügen.
Auch konnte – oder wollte – er nicht verhindern, dass bei der
Präsidentenwahl sein Rivale Giscard die Stichwahl gegen den Kandidaten der
Linksunion, Mitterrand, verlor. Doch der Vorsitz der Pariser
Stadtregierung, von 1977 bis zu seiner Wahl als Staatspräsident 1995, war
für Chirac mehr als ein Trostpflaster. Er hat die Hauptstadt nach Plänen
umgebaut, in denen der Automobilist König war.
In diese Zeit fallen auch mehrere Finanzaffären, in denen später gegen
Chirac ermittelt wurde. Nur in einem Fall – die Verbuchung von 26
RPR-Parteiangestellten als fiktive Mitarbeiter der Stadt Paris, die dann
auch deren Gehälter zahlte – kam es zu einer formellen Anklage, die 2011 zu
einer Verurteilung wegen Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung führte.
Obwohl man über Tote nur Gutes sagen soll, darf auch ein Nachruf nicht
übersehen, wie sehr Chirac ein Mann einer Epoche war, in der die legalen
Grenzlinien der Finanzierung der Politik nicht klar gezogen waren und wo
der Unterschied zwischen Bestechung oder politischer Vetternwirtschaft und
einem freundschaftlichen Entgegenkommen bei der Zuteilung einer Wohnung
oder einer Stelle ebensowenig eine Rolle spielte.
Mit Giscards Niederlage 1981 wurde Chirac zum unangefochtenen Chef der
bürgerlichen Opposition. In dieser Periode galt er als Verfechter einer
autoritären und liberalen Rechten, er sah in Ronald Reagan und Margareth
Thatcher politische Vorbilder. Die Umsetzung seiner Ideen scheiterte aber
unter anderem am Widerstand des sozialistischen Staatschefs, auch als
Chirac nach einem Sieg bei den Parlamentswahlen von 1986 Chef einer
Kohabitationsregierung wurde. Zwei Jahre später triumphierte die Linke
erneut, und Chirac war wieder in der Opposition und isolierter denn je.
Dass er und nicht sein seit 1993 als Premierminister amtierender
Parteikollege Edouard Balladur es 1995 in die Stichwahl schaffte und dann
gegen den Sozialisten Lionel Jospin die Präsidentenwahl gewann, grenzte aus
der Sicht der Politologen an ein Wunder.
Die von seinem Premierminister Alain Juppé entworfenen Spar- und
Reformpläne scheiterten an einer mehrwöchigen Streikbewegung des
öffentlichen Sektors, die Frankreich noch im Jahr von Chiracs Wahl zum
Präsidenten an den Rand einer Revolte brachte. Die Liberalisierung der
Wirtschaft wurde unbestimmt verschoben. Als Chirac 1997 vorzeitig das
Parlament auflöste, schoss er ein unglaubliches politisches Eigentor, weil
bei den Parlamentswahlen die Linke für die restlichen fünf Jahre eine
Mehrheit eroberte. Chirac schien die Kontrolle und sein Geschick verloren
zu haben. Dennoch wurde er 2002 mit 80 Prozent der Stimmen als Präsident
wiedergewählt. Denn weil die Linke hoffnungslos zerstritten antrat, gelang
der Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl, und in ihrer
Verzweiflung musste die Linke dann zur Verteidigung der Demokratie Chirac
unterstützen. Dieser überließ in den restlichen fünf Jahren seiner
Präsidentschaft das Regieren der Regierung.
Die unvermeidliche Frage nach einer so langen Karriere: Was bleibt? Der
2007 verstorbene Politologe René Rémond hat das Porträt eines nicht zu
bremsenden Mannes mit widersprüchlichen Eigenschaften gezeichnet:
„Durchschlagende Erfolge und ebenso schallende Niederlagen; blitzartige
strategische Intuitionen, aber auch erstaunliche Fehleinschätzungen, vor
allem aber eine Fähigkeit, sich von Schicksalsschlägen nicht von einem
Neustart entmutigen zu lassen.“ Von Chirac bleiben aber auch Taten, Daten
und Reden in teils gemischter Erinnerung: Die befristete Wiederaufnahme vom
Atomwaffentests; die Rede im Vel d'hiv, in der er 1995 erstmals offiziell
eine Mitverantwortung des französischen Staates für die Judenverfolgung von
1940 bis 1945 einräumte; die Abschaffung der Wehrpflicht; die von ihm
selbst umgesetzte Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre;
die Weigerung, am Irakkrieg der USA teilzunehmen.
Demnächst werden in Frankreich Plätze und Straßen nach dem Ex-Präsidenten
benannt werden. Bereits zu Lebzeiten konnte er 2006 das Museum für
Urvölkerkunst am Pariser Quai Branly einweihen, das seinen Namen trägt.
26 Sep 2019
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Nachruf
Jacques Chirac
Schwerpunkt Frankreich
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