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# taz.de -- Jacques Chirac schuldig gesprochen: Frankreich doch Rechtsstaat
> Als Pariser Bürgermeister hat er Parteifunktionäre auf die Gehaltsliste
> der Stadt gesetzt. Jacques Chirac bekam zwei Jahre Haft auf Bewährung.
Bild: Ex-Präsident Jacques Chirac: Das Gericht entschied "schuldig", zwei Jahr…
PARIS taz | Es sollte eine juristische Formalität werden. Alles war nämlich
getan und gesagt worden, um dem früheren Staatsoberhaupt diesen Prozess zu
ersparen und danach während der trotzdem anberaumten Verhandlungen im
September alle Vorwürfe zu entkräften, um so den betagten prominenten
Angeklagten von jeder Schuld reinzuwaschen. Als nun am Donnerstag das
Pariser Strafgericht zusammentrat, um das Urteil zu verlesen, erwarten alle
im Gerichtssaal die von der Verteidigung und auch von der
Staatsanwaltschaft beantragten Freispruch.
Das Gericht ist jedoch zu einem anderen Ergebnis gekommen, das überrascht:
Jacques Chirac ist der Veruntreuung und Unterschlagung kommunaler Gelder
sowie des Machtmissbrauchs schuldig und wird zu zwei Jahren Gefängnis auf
Bewährung verurteilt.
Der 79-jährige Politiker, der wegen "schwerer" und "irreversibler"
neurologischer Schäden und aufgrund seines mangelnden Erinnerungsvermögens
von einer Teilnahme an den Gerichtsverhandlungen ärztlich dispensiert
wurde, war bei der Urteilsverkündung nicht persönlich anwesend.
In seiner Periode vor der Wahl zum Staatspräsidenten 1995, als er
gaullistischer Parteichef, Pariser Bürgermeister und zeitweilig Minister
oder Premierminister war, wurden mehrere Finanzskandale aufgedeckt. Als
Präsident konnte er aber weder verhört noch strafrechtlich verfolgt werden.
Mehrere Ermittlungen wurden wegen Verjährung oder mangels Beweisen
eingestellt.
Zum Verhängnis wurden Chirac am Ende doch noch 28 "fiktive"
Anstellungsverträge: Mit solchen kommunalen Pseudojobs auf Kosten der Stadt
Paris hat Chirac nach Ansicht des Gerichts zu Beginn der Neunzigerjahre
Parteifunktionäre der von ihm präsidierten Gaullistenbewegung RPR
finanziert oder Sympathisanten zu Vorteilen verholfen.
Sieben seiner insgesamt neun Mitangeklagten sind deswegen ebenfalls zu
bedingten Haftstrafen von zwei bis vier Monaten verurteilt worden. In einem
früheren Prozess war Chiracs damaliger Finanzdirektor, der heutige
Außenminister Alain Juppé, in derselben Sache zu einer bedingten Strafe
verurteilt worden.
Die Stadt Paris hatte einen außergerichtlichen Vergleich akzeptiert und auf
eine Strafklage verzichtet, nachdem Chirac und die heutige Regierungspartei
UMP rund 2 Millionen Euro an Schadenersatz bezahlt hatten.
## Ein Schock
Die Staatsanwaltschaft hatte zudem die Einstellung des Strafverfahrens
gefordert. Am Ende der Verhandlungen hat die öffentliche "Anklage" die
Anwälte der Verteidigung fast übertroffen mit ihrem Eifer und ihrem dem
Angeschuldigten überaus wohlgesinnten Plädoyer. Die Staatsanwaltschaft
hatte dann - wie dies von der Staatsführung wohl gewünscht wurde - einen
umfassenden Freispruch für alle beantragt.
Der Schock dieser wenn auch nur bedingten, so doch völlig unerwarteten
Verurteilung des früheren Staatschefs war enorm. Chiracs Verteidiger Jean
Veil (der Sohn der früheren Ministerin und Europapolitikerin Simone Veil)
sank auf der Bank der Anwälte wie von einem Hieb getroffen in sich
zusammen, während sein älterer Kollege Georges Kiejman versuchte die
Fassung zu bewahren.
Auf der Gegenseite heiterten sich im Verlauf der Lektüre des Urteils die
Mienen der zivilen Nebenkläger dagegen ebenso schlagartig auf. Der
Schuldspruch für den Hauptangeklagten tröstet auch die vertretenen
Antikorruptionsorganisationen darüber hinweg, dass ihre Klage im Urteil
abgewiesen wurde.
"Anticor"-Anwalt Jérôme Karsenti sprach von einem "historischen Entscheid".
## "Eine gute Sache"
Zahlreiche Politiker kommentierten das Verdikt. Im Namen der Sozialisten
sagte der Senator André Vallini: "Es wurde Recht gesprochen. Das ist eine
gute Sache, auch wenn das reichlich spät erfolgt."
Ein Abgeordneter der konservativen UMP, Jacques Le Guen, erklärte, er sei
sehr betrübt, und im Übrigen habe Frankreich wirklich andere Sorgen. Sein
Parteikollege Bernard Debré akzeptiert den Gerichtsentscheid, da die
Strafbestände erwiesen seien, er meint aber, es werde (bei Vergehen von
Politikern) nicht mit gleicher Elle gemessen.
Die grüne Präsidentschaftskandidatin Eva Joly sagte: "Für mich zählt
weniger die Strafe als der Schuldspruch. Kein Bürger darf über dem Gesetz
stehen".
15 Dec 2011
## AUTOREN
Rudolf Balmer
Rudolf Balmer
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
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