# taz.de -- Postkoloniale Kunst in Frankfurt: Haus der Hoffnung | |
> Einmal Algerien hin und zurück. Die Ausstellung der Künstlerin Lydia | |
> Ourahmane im Portikus in Frankfurt am Main richtet sich gegen Stereotype. | |
Bild: Foto aus House of Hope Archives (1989–fortlaufend) von Lydia Ourahmane | |
Algerien lässt einen nicht so leicht los. Die 1992 in Saïda geborene Lydia | |
Ourahmane wandert schon als Kind mit ihren Eltern nach London aus, | |
perfektionierte dort ihr Englisch, studierte am Goldsmith College und wurde | |
zu einer weltweit gefragten Künstlerin. Heute lebt sie in Barcelona. Mitten | |
in der Pandemie zog es sie zurück nach Algier, wo sie, da alleinstehende | |
Frau, erst nach langem Suchen eine Wohnung fand. | |
Deren unverändertes, nur durch ein paar persönliche Gegenstände ergänztes | |
Interieur (samt Türen) war vor Jahresfrist in einer Ausstellung in der | |
Baseler Kunsthalle zu besichtigen. Der Titel „Barzakh“ bezeichnet einen | |
Zwischen- und Schwebezustand, bis hin zu dem zwischen den Lebenden und den | |
Toten – weniger ein Purgatorium, eher ein Limbo. | |
Und so hat Ourahmane oft Objekte in eine andere Umgebung verlegt, auf dass | |
sie dort ihre Geschichte preisgeben. Junge Algerier bewegen sich ständig | |
über Grenzen, heute in Gefahr, auf dem Mittelmeer ihr Leben in unsicheren | |
Booten zu verlieren. „Harraga“ (die, die brennen) hat Ourahmane 2013 in | |
einer kurzen, dramatischen Videoarbeit 2013 dokumentiert. | |
Die jetzt im Frankfurter Portikus gezeigte Ausstellung führt erneut nach | |
Algerien zurück, eines freilich, das man kaum gängigen Stereotypen über | |
diese Land zuordnen mag. Den Besuchern öffnet sich zunächst eine große, mit | |
bunten Matten und Kissen ausgelegte, in ein weiches Orange getauchte Halle, | |
die an eine Moschee denken lässt. Dazu erschallt Ambient-Musik, Besucher | |
legen sich nieder und lassen ihre Gedanken schweifen – in „Richtung der | |
unsichtbaren Feuer“, wie der Titel der Komposition lautet. | |
## Mutter aus Malaysia | |
Im ersten Stock des mitten im Main gelegenen Portikus-Turms überblickt man | |
noch einmal diese Idylle, doch dann erschließt sich der tiefere Sinn der | |
Installation. Man steht vor einem Foto- und Dia-Archiv, das die Eltern | |
Ourahmanes, die aus Malaysia stammende Mutter und der algerische Vater, | |
ihrer Tochter übergeben haben. | |
Die trivial wirkenden Alltagsfotos zeugen von einer klandestinen | |
Gemeinschaft evangelikaler Christen in einem Haus in einer nicht näher | |
bezeichneten Stadt in Algerien, in dem sie die „schwarzen Jahre“ | |
(1980–2000) des islamistischen Terrors und der militärischen Repression | |
überstanden haben. | |
Das Haus hatten sie als Refugium und Ort der Hoffnung in einer fast absurd | |
zu nennenden Marginalität eingerichtet. Die Zahl der in Algerien lebenden | |
Christen war nach der Unabhängigkeit fast auf null gesunken, doch in den | |
letzten Jahren ist sie infolge einer inneren, vom Regime wie von der | |
Mehrheit der Muslime argwöhnisch betrachteten Missionierung vor allem | |
evangelikaler Christen wieder angestiegen. | |
## Tendenziell lebensgefährlich | |
Das Familienarchiv zeigt die Pfingstler-Gemeinde bei Gesang und | |
Gottesdienst, bei der Taufe und gemeinsamen Mahlzeiten, stets auf der Suche | |
nach Erleuchtung und Heilsgewissheit. Lydia Ourahmane exportiert auch diese | |
friedlich wirkende, jedoch tendenziell lebensgefährliche Situation, ihr | |
Verhältnis dazu bleibt offen. „Survival in the Afterlife“, der Titel der | |
Installation, ist vieldeutig. | |
[1][Sie irritiert säkulare ebenso wie algerische Betrachter], deren meiste | |
diesen andersgläubigen Untergrund in ihrem Land kaum zur Kenntnis genommen | |
haben, das den Islam zur Staatsreligion erhoben hat. | |
Das Gefühl der Indiskretion, dass sich bei der Betrachtung der oft | |
redundanten und unscharf-verwackelten Privatfotos einstellt, verweist | |
auf das „displacement“, die Deportation und Enteignung, die eine | |
Dauererfahrung während der 132-jährigen Kolonialzeit und auch nach der | |
Unabhängigkeit waren. Diesen gewaltsamen Akt hat Ourahmane in einem | |
drastischen Werk an sich selbst nachvollzogen. | |
Mit der Arbeit „In Absence of our Mothers“ von 2018 dokumentiert sie die | |
Geschichte ihres algerischen Großvaters, der sich alle sechsunddreißig | |
Zähne ziehen ließ, um sich mit der so bewirkten Untauglichkeit dem | |
Militärdienst für die französische Kolonialmacht zu entziehen. Lydia | |
Ourahmane ließ sich einen aufbewahrten goldenen Backenzahn in den Mund | |
einpflanzen. Dessen Wert entspräche exakt der Summe, die algerischen | |
Bootsflüchtlingen für ihre Überfahrt nach Spanien abgeknöpft wird. Algerien | |
wird sie auch am anderen Ufer nicht loslassen. | |
16 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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