Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ersatzkunst-Ausstellung in Frankfurt: Wüsten und Würste
> Eine Ausstellung in Frankfurt am Main zeigt die Ende der 1970er Jahre
> entstandene „Ersatzkunst“. Sie bewegt sich zwischen Anarcho-Humor und
> Dada.
Bild: Stephan Keller: Tapete auf Tapete im Tapetenhaus (1978)
Die Frankfurter Würstchen haben gut lachen. Im Jahr 1985 schlitzte Nicole
Guiraud zwei Exemplaren der lokalen Delikatesse ein Grinsen in den
Saitling, das bis heute anhält. „Ffm Wurstköpp“ hat die in Algerien
geborene, später mit ihrer Familie nach Frankreich und nochmals später nach
Frankfurt am Main gezogene Künstlerin ihre Arbeit genannt.
Die Banderole ist vom Zahn der Zeit längst angenagt, doch die künstlerisch
umgestalteten Würstchen mit ihren Augen und Mundwinkeln aus herauslugender
Fleischmasse sind bemerkenswert in Form geblieben. Kein Formaldehyd, wie
die Kuratorin selbst verwundert bestätigt, sondern reines Wurstwasser:
„Hält offenbar ewig.“
Ein Glück, denn so kann man Guirauds kleine, charmant-rabiat verewigte
Schelmengeste jetzt in einem Format wiederfinden, das der Künstlerin damals
vermutlich niemals vorgeschwebt hätte – einer Retrospektive nämlich, die ja
immer auch etwas von nachträglich heiligem Ernst mit sich bringt.
„ERSATZKUNST. Die Wüsten-Jahre 1975–1985“ heißt die Schau in der
Ausstellungshalle 1 a, mit der Kuratorin Isa Bickmann und [1][der
Frankfurter Künstler Vollrad Kutscher] jene Jahre und ihre künstlerischen
Umtriebe in der immer etwas klein geratenen Großstadt Revue passieren
lassen.
## Aus Kellern wieder aufgetaucht
Kutscher ist die Konstante, die sich von den Anfängen der selbst erklärten
Ersatzkunst (analog zum Ersatzkaffee) bis ins Heute zieht. Etliche
Kunstwerke auch von Kolleginnen und Kollegen konnte er in weiser
Voraussicht sorgsam aufbewahren, anderes wurde für die Ausstellung aus
Kellern und Beständen wieder hergeschafft. Und man ahnt schon, dass dort,
wo in großen Lettern ERSATZ draufsteht, am Ende vielleicht umso lieber die
Kunst selbst sich verbirgt.
So gibt es hier weitere Mikrodioramen von Nicole Giraud zu entdecken, mit
allerlei nackten Menschen, Gartenzwergen oder einer menstruierenden
Mini-Maus darin; Drucke und Assemblagen, Videos, Dokumentationsmaterial von
Musik, Performances, Reden, Manifesten.
Außerdem Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, für die die Bildende
Kunst oft genug nur eine Zwischenstation darstellte – [2][Heinrich Pachl
zum Beispiel ist heute als Kabarettist bekannt,] Oskar Schmitz sollte nur
wenig später nicht mehr künstlerisch tätig sein.
Formal wie inhaltlich stechen die Arbeiten von Annick Laforgue heraus. Die
französische Künstlerin, die wie ihre Freundin Guiraud zum Kunststudium
nach Frankfurt gezogen war, fertigte zwei- und dreidimensionale
Deutschlandbilder aus der Außenperspektive: Ihre „Frau mit Hund“ führt den
Vierbeiner vor einem grauen Wohnklotz mit grantelnden Männern und
Totenschädeln im Fenster spazieren.
## Von Holz bis Kaugummi
In den „Ersatzkunst“-Ausstellungen jener Tage traf ein Anarcho-Humor auf
die Auseinandersetzung mit dem politisch radikalen Deutschen Herbst und die
künstlerische Urbarmachung simpler Alltagsmaterialien von Holz bis Kaugummi
auf überbordende Dada-Mentalität.
Insbesondere die zugehörigen Texte zeugen von der Suche nach künstlerischer
und menschlicher Selbstverortung in einer als ebenso bieder empfundenen wie
plötzlich unerhört wohlständigen Nachkriegsbundesrepublik, in der die junge
Vergangenheit fröhliche Verdrängung feierte.
Es war ein loser Verbund von Kunstschaffenden, der sich 1975 in der
Werkstatt von Stephan Keller zusammenfand, um seine Arbeiten zu
präsentieren – allem Geheimzirkelflair zum Trotz übrigens durchaus mit
einigem Publikumsinteresse.
Als Initialzündung gilt ausgerechnet eine im Büroflur des damaligen
Kulturamts geplante Ausstellung, die von der städtischen Behörde mit der
herrlichen Begründung abgesagt wurde, die ausgewählten Werke seien nicht
weihnachtlich genug für den anberaumten Termin. Als die Kommunale Galerie
1978 wieder eine Einladung aussprach, präsentierte Vollrad Kutscher sein
mumifiziertes und damit de facto für immer konserviertes wie unkenntlich
gemachtes Frühwerk, das er an die Flurwände der Behörde lehnte.
## Frankfurt als unwirtliches Pflaster für die Kunst
Dass die Banken- und Börsenstadt trotz beachtlichen Kulturetats seinerzeit
ein eher unwirtliches Pflaster für die Kunst gewesen sein muss, davon
zeugen neben dem Ausstellungstitel zahlreiche Anekdoten im zugehörigen
Katalog. Aber die Beschränkungen und Brachflächen hatten, wie das oft so
ist, auch ihr Gutes.
So wurden Werkzeugkeller oder wie hier auch mal der Büroflur eines
städtischen Amts zu „Off-Spaces“, Orten jenseits hochkarätig besetzter
Museumsräume und kommerziell ausgerichteter Galerien, bevor der Begriff
später in jedem Städteführer auftauchen sollte.
Auch Stephan Kellers Kunstzugriff hatte dann wieder mit dem Standort
Frankfurt zu tun: Als Chefsteward bei der Lufthansa flog er von hier aus
direkt in die Metropolen der Welt. Insbesondere das New Yorker
Kunstgeschehen beeinflusste seine Arbeit. Das „Tapetenhaus“ gehört zu den
wohl spektakulärsten Arbeiten der Schau – eine begehbare Installation aus
und mit der obligatorischen Mohnblumentapete, wie sie in den 1970er Jahren
in etlichen bundesdeutschen Wohnungen hing.
Keller machte einen wörtlich begehbaren Bildraum draus; an den Blumenwänden
und davor Drucke, Ölmalereien und ein Bildschirm mit wiederum jenem
Floraldekor. Eine schaurig-schöne Hommage oder wahlweise auch
Verhohnepipelung von [3][Warhols dereinst omnipräsenten Blumensiebdrucken]
und seinem Prinzip der Serie, ein kesser Gruß aus Mainhattan an den Big
Apple.
16 Sep 2021
## LINKS
[1] /Kunst-im-oeffentlichen-Raum/!5778053
[2] /Nachruf-Kabarettist-Heinrich-Pachl/!5095496
[3] /Kunst-und-Kunstpolitik-in-Berlin/!5684347
## AUTOREN
Katharina J. Cichosch
## TAGS
Frankfurt am Main
Frankfurt
Rote Armee Fraktion / RAF
Kunstausstellung
Kunst
Mode
München
Ausstellung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Postkoloniale Kunst in Frankfurt: Haus der Hoffnung
Einmal Algerien hin und zurück. Die Ausstellung der Künstlerin Lydia
Ourahmane im Portikus in Frankfurt am Main richtet sich gegen Stereotype.
Nachhaltige Mode: Tüll vor wolkenreichem Himmel
Im Frankfurter Kunstverein Familie Montez kommen die Malerei Philipp
Schweigers und Mode von Nina Hollein zusammen. Gehören Mode und Kunst
zusammen?
Punk-Ausstellung in München: Die Gefahr kam immer von links
In den Achtzigern traf die Subkultur noch auf eine beinharte CSU. Die
Ausstellung „Pop Punk Politik“ erinnert an die repressiven Zeiten in
München.
Chinesisches Kunstkollektiv in Frankfurt: Modisch gegen Repressionen
„Mothers of Ultra“ nennt sich ein gewitztes Kollektiv von Künstlerinnen und
Näherinnen in China. Der Frankfurter Kunstraum Synnika stellt sie vor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.