# taz.de -- SPD-Debatte zu Identitätspolitik: Versöhnen statt spalten | |
> Die Sozialdemokraten streiten über die Grenzen von Identitätspolitik. Der | |
> Debatte, die nur am Rande die SPD betrifft, würde Abkühlung gut tun. | |
Bild: „Neue Zeit“ ohne Parteigranden wie Wolfgang Thierse? Die SPD streitet… | |
[1][Wolfgang Thierse hat vor ein paar Tagen ein paar kluge und ein paar | |
weniger kluge Anmerkungen zur Identitätspolitik gemacht.] Es drehe sich zu | |
viel um gender und race, zu wenig um Gerechtigkeit. Auch das | |
Standardargument gegen moralisch gut ausgerüstete pressure groups fehlt | |
nicht: Minderheiten haben nicht immer recht, und die Mehrheit ist nicht | |
immer repressiv. Eine Gesellschaft, die kein republikanisches Wir mehr | |
kennt und in Minderheiten mit wachsenden Geltungsansprüchen zerfällt, sei | |
wenig erstrebenswert. | |
Schief liegt Thierse, der sich praktisch gegen Rassismus im Osten | |
engagierte, wenn er rechte und linke Identitätspolitik rhetorisch nahe | |
rückt. Da mögen sich Muster ähneln. Aber rechter Rassismus kann für die | |
Opfer tödlich enden, übertriebene Wokeness nur schwer nerven. | |
Vor zwei, drei Jahren wäre der Text wohl auf freundliches Desinteresse | |
gestoßen. Doch die Zeiten sind nervös geworden. Gesine Schwan hat zudem | |
eine Debatte mit einer FAZ-Journalistin moderiert, die in einem Kommentar | |
spöttisch über eine Initiative queerer SchauspielerInnen geschrieben hatte. | |
[2][Der Lesben-und Schwulenverband LSVD forderte die SPD auf, sich bei der | |
queeren Community für den Auftritt der Journalistin zu entschuldigen „und | |
die durch diesen Auftritt entstandenen Wunden anzuerkennen“.] Die | |
SPD-Spitze zeigte sich „beschämt“ über SPD-Vertreter wie Thierse und | |
Schwan. Thierse bot seinen Parteiaustritt an. | |
## Voller persönlicher Einsatz | |
Missverständnisse, Gereizheiten, explodierende Egos – dieser Fall | |
versammelt alles, was identitätspolitische Debatten so trübsinnig macht. | |
Weil es immer um die Sprecherposition geht, wird mit vollem persönlichen | |
Einsatz gekämpft. Es geht nicht nur um das bessere Argument, sondern um die | |
eigene Integrität, die aggressiv verteidigt werden muss, als queere Person | |
oder weißer Mann. | |
Deshalb neigen identitätspolitische Debatten zu einer toxischen Mischung | |
aus Sprachlosigkeit, Beleidigtsein und Bekenntniszwang. Ältere Angehörige | |
der undogmatischen Linken können sich fragen, ob Politik in der ersten | |
Person wirklich eine so fabelhafte Idee war. | |
Sind wir nach all den gemütlichen Merkel-Jahren, in denen Streit immer im | |
Konsensnebel verschwand, unversöhnliche Debatten nicht mehr gewöhnt? Kann | |
sein. Aber diese Kultur ist keine Mode, die wieder verschwindet. Der | |
Identitätsdiskurs, immer mit viel Ich, erfüllt ja perfekt das | |
Anforderungsprofil der Aufmerksamkeitsökonomie. | |
Und er greift in den Zeichen und Wissen produzierenden Gewerben, vor allem | |
Medien und Universität, rapide um sich. Identitätsinszenierungen sind ein | |
politischer Kommunikationsmodus in einer individualisierten, kulturell | |
pluralen Gesellschaft. Dazu gehört die plausible Selbstdarstellung als | |
Opfer, das aus diesem Status Rechte ableitet. So meint der LSV, Anspruch | |
auf rhetorische Entschädigung zu besitzen, weil die SPD die falsche | |
Journalistin einlädt. Die Grenze zwischen berechtigtem Anliegen und | |
Betonierung einer Opferrolle, aus der es keinen glücklichen Ausweg gibt, | |
ist hier tangiert. | |
Mit der SPD hat all das nur am Rande zu tun. Sie ist eher zufällig das | |
Stadion für einen Fight, der in den Zentren des Wissenskapitalismus um sich | |
greift. Aus der Kette der diskursiven Unfälle in der SPD lassen sich aber | |
vielleicht Leitplanken zur Schadensvermeidung entwickeln. Nicht so schnell | |
beleidigt zu sein würde helfen. Schuldbekenntnisse und -vorwürfe nutzen der | |
rationalen Debatte auch selten. Authentizität ist gut, Selbstdistanz nötig. | |
Und: Sprechverbote für Missliebige zu fordern, ist verboten. | |
Ist sonst noch was passiert? [3][Die SPD hat ihr Wahlprogramm präsentiert, | |
12 Euro Mindestlohn, Mietenmoratorium und Kindergrundsicherung.] Aber das | |
fällt eher durch das Raster der Aufmerksamkeitsökonomie. Und es betrifft | |
eine soziale Gruppe, für die Wokeness nicht spielentscheidend ist. | |
5 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.thierse.de/startseite-meldungen/22-februar-2021/ | |
[2] https://www.queer.de/detail.php?article_id=38185 | |
[3] https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahl-2021-mit-diesem-programm-zieh… | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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