# taz.de -- Yasmina-Reza-Stück in Hamburg: Oberflächliches Diskurstheater | |
> Wo sonst so gekonnt das Bürgertum entlarvt wird, gibt es nun nur | |
> unverbunden wirkende Einzelteile: „James Brown trug Lockenwickler“ von | |
> Yasmina Reza. | |
Bild: Rauchige Stimme der Vernunft: Mechthild Großmann als Psychiaterin | |
Vor dem Eintritt ins St. Pauli Theater gilt es Erwartungshaltungen | |
abzulegen. Denn dort sitzt vergeblich, wer bei der Ankündigung des neuen | |
Stücks von [1][Yasmina Reza] denkt: Prima, da können wir nochmal über | |
reiche Bildungsbürger lachen, wie sie in Konfrontation mit Kindergewalt, | |
moderner Kunst, dem Literaturbetrieb, Karrierestreben, Sex, Ehebruch, | |
Altern etcetera ganz schnell das Fundament der westlichen Zivilisation | |
verlassen. | |
Denn diese, ihre Paradedisziplin, das schlagfertig-pointenreich zur | |
Gesellschaftssatire eskalierende Streitdialogdrama, bedient die | |
französische Autorin mit „James Brown trug Lockenwickler“ nicht mehr – d… | |
lustigen Titel zum Trotz. Es soll [2][im Schatten aktueller | |
Identitätsdiskurse] um die Freiheit gehen, der/die/das zu sein, wie es | |
einem:r beliebt. | |
Daher schaukelt zu Beginn in schöner Leichtigkeit ein als Frau zu lesender | |
Mann durchs Bühnenbild, die Projektion eines weltentrückten Parkidylls. | |
Schon treten die von der Persönlichkeitswahl ihres Sohnes Jacob | |
überforderten und genervten Eltern auf: die eher anbiedernde Pascaline | |
(Johanna Gehlen) und ihr mal aufbrausender, dann wieder weinerlich | |
schuldbewusster Gatte (Michael Rotschopf), der sich als soziophober | |
Versager darstellt und zum Thema des Abends trotzig anmerkt: „Die Leute | |
nennen mich Lionel, ich brauche nicht zu wissen, wer ich bin.“ | |
Dieses Paar also sitzt der Psychiaterin einer „Einrichtung“ gegenüber, der | |
sie Jacob anvertraut haben. Als Kind hörte er erstmals die kanadische | |
Schlagersängerin Céline Dion, sammelte bald alles von ihr, begann den | |
Eltern Dion-Konzerte vorzuspielen, empfand seine Kleidung dem Outfit der | |
Diva nach und hält sich inzwischen für sie. | |
## Sex hinterm Sonnenschirm | |
Mit Blondieperücke, Glitzerkleid und Flitterstola repräsentiert Jacob | |
(Dennis Svensson) das strahlende Glück, eins zu sein mit einer Idee von | |
sich selbst. Seine Gesangsbeiträge kommen aber gerade für eine | |
Dion-Doppelgängerin erstaunlich dünnstimmig daher. Vielleicht liegt es auch | |
an der ablehnenden gesellschaftlichen Haltung? „Man kann seine Freude nicht | |
ins Leere hinein singen“, sagt Jacob/Céline zu den Eltern, die so gerne | |
ihren Jungen von einst wieder haben wollen. | |
Die Psychiaterin ([3][Mechthild Großmann]) hingegen akzeptiert und | |
unterstützt es ausdrücklich, dass Jacob sich „von der Biologie nicht | |
einschüchtern lässt“ beim Ausleben eines anschmiegsamen Selbstbewusstseins. | |
Ebenso wie Freund Philippe (Nabil Pöhls), „ein weißer Mann“, wie es im Te… | |
steht, der sich als Schwarzer empfindet und ein bisschen postkoloniale | |
Anti-Apartheids-Aura verströmt. | |
Das ist es dann aber auch schon. Ansonsten streiten im Boulevardstil die | |
Eltern oder werden mit Sex hinterm Sonnenschirm öffentlich auffällig. | |
Daneben turteln die entzückend unkonventionellen Jugendlichen. Als | |
Vermittlerin bringt die schrullige Seelenärztin ihre rauchige Stimme der | |
empathischen Vernunft zum Klingen. | |
Einerseits ironisiert das Stück die aktuelle Debattenkultur um | |
Geschlechtsidentität, kulturelle Aneignung und derlei. Andererseits setzt | |
es sich damit gerade nicht auseinander. Es fehlen Tempo und Dynamik und vor | |
allem jeder schwarzhumorige Wortwitz, alle Erkenntnis zündende | |
Konfrontation fein analysierter Figuren – Dinge also, die Reza ansonsten | |
liefert. | |
So sorgt ein Vortrag der namenlosen Psychiaterin für den Höhepunkt des | |
Abends: Sie deutet Aschenputtel als Männerprojektion – schön, gut und | |
machtlos arm. In einem Narrativ, demnach nur ein so „erschreckendes | |
Vorbild“ des Königssohnes würdig sei, hätten die Schwestern, die so sehr | |
nach Konformität streben, keinerlei Chance. „Nicht mal eine auf Mitleid, | |
wenn sie sich mit verzweifelter Brutalität selbst verstümmeln, um ihre Füße | |
dem Schönheitsideal der aschenputteligen Schuhnorm anzupassen.“ | |
Die Schwestern seien uns nach Liebe und Akzeptanz strebenden, aber | |
unvollkommenen Wesen sehr viel näher als „dieser unerreichbare Standard“ | |
Aschenputtel und ließen an all die Unzähligen denken, „die im falschen | |
Körper auf die Welt gekommen sind“. | |
Anschließend plätschert die Szenenfolge weiter wie zuvor, findet nicht in | |
den neuen Reza-Duktus, diesen fröhlich-melancholischen Flow einer milden | |
Freundlichkeit, mit der die Autorin einige Probleme der Identitätsfindung | |
zumindest andeutet. Regisseur Ulrich Waller arbeitet nichts davon heraus: | |
Die Inszenierung bleibt oberflächlich und zerfällt in ihre Einzelteile. | |
Vielleicht war die Produktion zur Premiere einfach noch nicht zu Ende | |
geprobt. | |
Nächste Vorstellungen: 27. + 28. 2.; 1.‒3. 3., Hamburg, [4][St. Pauli | |
Theater] | |
27 Feb 2024 | |
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[4] https://www.st-pauli-theater.de/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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