Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die These: Einfamilienhaus gleich Currywurst
> Die Debatte um ein vermeintliches Verbot von Einfamilienhäusern ähnelt
> der um den Veggie-Day. Aber: Wir leben heute in einer anderen Welt.
Bild: Eine lebenswerte Welt sieht anders aus
Da es in der vergangenen Woche einige Verwirrung gab, beginnen wir mit
einer Klarstellung: Ein Einfamilienhaus ist eine Currywurst. Das mag Sie
jetzt überraschen, denn: Ersteres besteht aus Beton, Kies und Stahl. Es
kostet viel Geld und wird in der Regel über 30 Jahre abbezahlt, nur wenige
können es sich leisten.
Eine Currywurst dagegen kostet zwei bis drei Euro, man kann sie an jeder
Straßenecke kaufen. Sie besteht aus Schweinefleisch und noch einigen
anderen Zutaten, von denen man nicht so genau wissen möchte, ob sie auch
beim Hausbau verwendet werden könnten.
Und trotzdem lässt sich am Ende dieser Woche sagen: Einfamilienhaus und
Currywurst haben viel gemeinsam. Was war passiert? Ein grüner
Bezirkspolitiker aus Hamburg hatte den Bau neuer Einfamilienhäuser in
seinem Viertel angeblich untersagt und damit einen Sturm entfacht, dass die
Dachziegel nur so klapperten. Die Currywurst hatte ihren großen Auftritt im
Bundestagswahlkampf 2017. Stichwort: „Veggie Day“.
Dahinter verbarg sich die Idee der Grünen, einen fleischlosen Tag in den
Betriebskantinen des Landes einzuführen. Hängen blieb davon, dass die
Grünen den Deutschen ihre Currywurst in der Mittagspause verbieten wollten,
was damals so wenig stimmte wie das vermeintliche Verbot des
Einfamilienhauses. Es soll in Hamburg-Nord bloß Vorrang für
Mehrfamilienhäuser geben. Das nennt man Baurecht. Aber das war in der
Aufregung dann egal.
## Linksliberale – ein leichtes Opfer
Was nun folgt, [1][ist eine Debatte], die erwartbar und unbefriedigend ist.
Erwartbar, weil es mal wieder Konservative sind, die sonst gern andere für
ihren vermeintlichen Hang zur Identitätspolitik kritisieren und nun
emotional reagieren, weil sie jemand in dem stört, was vermeintlich ihre
Identität ausmacht: ein Leben wie in der alten Bundesrepublik, mit Häuschen
am Stadtrand und Nackensteak auf dem Grill.
Unbefriedigend ist die Debatte, weil schon wieder nur moralisierend über
Lebensstile diskutiert wird statt über die zugrunde liegenden großen
Fragen: Wie wollen wir leben in der Klimakrise?
Es gab in dieser Woche noch ein Beispiel für diese Fixierung auf
Lebensstile in der politischen Debatte: Auf Zeit Online erschien ein
[2][Interview mit der Autorin Anke Stelling], als Teil eines
Themenschwerpunkts zum Thema Klasse. Stelling kritisiert darin die
Lebenslügen von linksliberalen BürgerInnen in Prenzlauer Berg, die eine
Wohnung erben, sich irgendwie links fühlen, aber eine Putzfrau
beschäftigen, die sie duzen.
Diese Kritik ist nicht falsch, sie ist aber auch bequem, von Stelling und
Zeit Online. Interessanter und schmerzhafter wäre es doch gewesen, in einem
Schwerpunkt zum Thema Klasse über höhere Löhne für Putzfrauen nachzudenken.
Oder, beispielsweise, über einen Zeitungsverlag im privaten Besitz
unfassbar reicher Männer, der trotz Rekordauflage Kurzarbeit beantragt und
neue Mitarbeiter sachgrundlos befristet. Aber Linksliberale sind natürlich
das leichtere Opfer, die schämen sich ja eh schon den ganzen Tag.
Und nein, das ist kein nebensächliches Problem: Wenn wir es nicht schaffen,
in Debatten vom ewigen Moralisieren wegzukommen, wird das nichts mit den
Mehrheiten für progressive Politik. Natürlich ist es gemütlicher, über
Currywürste und Carports zu reden als über die Klimabilanz von Baumaterial
(wäre Beton ein Land, läge es beim CO2-Ausstoß an dritter Stelle hinter
China und den USA). Es verstellt aber den Blick für das Wesentliche.
## Die Grünen vermeiden die Debatte
Statt zu moralisieren, würde man sich politische Ideen wünschen: Wie könnte
es aussehen, das Wohnen im 21. Jahrhundert? Liegt das Konzept dafür
irgendwo beim Minister des Innern, für Bau und Heimat? Und wo ist
eigentlich der Vorschlag der Ernährungsministerin für die Zukunft der
Tierhaltung?
Man würde sich wünschen, dass es von Konservativen irgendeinen Plan gibt,
der weiter geht als die Hoffnung, alles solle bitte so bleiben, wie es ist.
Aber das ist vermutlich zu viel verlangt, progressiv und konservativ zu
sein. Und deshalb verweist der Shitstorm über dem Einfamilienhaus eben auch
auf eine Leerstelle bei den anderen: Die Grünen glauben offenbar, dass man
die ehrliche Debatte darüber vermeiden kann, wie radikal sich unser Leben
verändern muss, um die Klimaziele zu erreichen.
## Eine lebenswerte Welt sieht anders aus
Bisher traut sich die Partei nicht, jemandem wehzutun. [3][Robert Habeck]
hat versucht, die Debatte um das Einfamilienhaus einzufangen: „Das
Einfamilienhaus gehört zum Ensemble der Wohnmöglichkeiten in Deutschland“,
sagte er, um dann lieber über zu hohe Maklergebühren zu sprechen. Und man
wundert sich, dass Habeck mal für seine unverstellte Rhetorik gelobt wurde,
so merkelhaft ist dieser Satz. Wieder rudern die Grünen bei einer
Streitfrage zurück, wie zuvor bei Kurzstreckenflügen oder der
Vermögensteuer.
Es ist keine lebenswerte Welt denkbar, in der jeder Mensch in seinem
Einfamilienhaus sitzt und seine Currywurst isst. Das so zu benennen, ist
eine Frage der Ehrlichkeit, aber auch der politischen Kommunikation.
Niemand wird sich dafür begeistern, wenn alles Neue als protestantischer
Verzicht daherkommt. Deshalb müssen Ideen von einem besseren Leben offensiv
vertreten werden.
Es geht nicht darum, die BürgerInnen zu erziehen, sondern um eine schöne
Zukunft: genossenschaftliches Wohnen statt schlafloser Nächte wegen hoher
Kredite, ein gesundes Leben in einer erholten Natur statt Herzprobleme im
Auto, Umverteilung von Reichtum und reduzierte Arbeitszeiten.
Dass das immer noch naiv klingt, ist Teil des Problems. Aber, und das ist
der entscheidende Unterschied zwischen dem Eigenheim und der Currywurst:
Deutschland im Jahr 2021 ist ein anderes Land als zur Zeit des Veggie Day.
2017, da war Fridays for Future eine alberne Alliteration und die Grünen
eine Kleinpartei mit knapp neun Prozent. Heute sind sie die bürgerliche
Partei der Mitte, und die Klimabewegung ist die größte Bewegung der
Bundesrepublik.
Dass sich unsere Lebensweise verändern muss, weiß heute die Mehrheit.
Deswegen wäre es umso fataler, wenn die Grünen den gleichen Fehler begingen
wie die Konservativen: die BürgerInnen zu unterschätzen. Deren Horizont
reicht nämlich nicht nur bis zum eigenen Gartenzaun.
20 Feb 2021
## LINKS
[1] /Debatte-um-Einfamilienhaeuser/!5747069
[2] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/mittelschicht-anke-stelling-sc…
[3] /Robert-Habeck/!t5007736
## AUTOREN
Kersten Augustin
## TAGS
Currywurst
IG
Schwerpunkt Fridays For Future
Robert Habeck
Grüne
Grüne Hamburg
Wohnen
Zeit Online
Veggie Day
Alternatives Wohnen
Annalena Baerbock
Erbschaftsteuer
Annalena Baerbock
Kolumne Materie
Identitätspolitik
Wohnungspolitik
Grüne
Regine Günther
Schwerpunkt Angela Merkel
Stadtplanung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wahlkampfaussagen der Grünen: In die Verbotsfalle getappt
Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock betont Verbote, die Partei holt wieder
den Angstwahlkampf heraus. Das kommt nicht gut an.
Einnahmen aus der Erbschaftsteuer: Heilige Familienbande
Der Staat nimmt aus der Erbschaftsteuer lächerlich wenig ein. Viele nehmen
das einfach hin. Warum? Weil es um Gefühle geht – und nicht um Logik.
Linke Kritik an den Grünen: Machen statt mosern
Die Grünen sind die Grünen – und nicht erst jetzt Establishment. Trotzdem
messen sie manche Linke an linken Ansprüchen.
Seelisches Wohlbefinden heute: Ein normaler Tag in der Pandemie
Erleben Sie unseren neuen Kolumnisten bei der Verrichtung seines Alltags
zwischen Daimler-Aktien, Tönnies-Hackfleisch und Müslirosinen.
SPD-Debatte zu Identitätspolitik: Versöhnen statt spalten
Die Sozialdemokraten streiten über die Grenzen von Identitätspolitik. Der
Debatte, die nur am Rande die SPD betrifft, würde Abkühlung gut tun.
Die Grünen im Wahlkampfjahr: Volle Deckung
Der konservative Aufschrei gegen das imaginierte Einfamilienhaus-Verbot
erschreckt die Grünen. Welche Schlüsse ziehen sie für den Wahlkampf?
WDR und die Klimakrise: Ungewollt komisch
Der WDR startet einen Instagram-Kanal zum Thema Erderhitzung. Jetzt werfen
Liberale und Konservative dem Sender Wahlkampfhilfe für die Grünen vor.
Berliner U-Bahn als Wahlkampfthema: Partner bei möglicher Verkehrswende
Geht es um einen möglichen Ausbau der U-Bahnstrecken, geht ein Riss durch
die Koalition. Was dann eben neue Koalitionen möglich macht.
Politischer Aschermittwoch: Das Grüne vom Himmel
CSU-Chef Söder gibt sich dem Klimaschutz aufgeschlossen gegenüber. Sein
konkretes Tun hat mit den Versprechungen wenig zu tun.
CDU-Hamburg attackiert Grüne scharf: Rechtsruck mit einem Lächeln
Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß übt Wahlkampf. Deshalb wiederbelebt er
alte Ressentiments gegen die Grünen. Das erfreut in seiner Partei nicht
jeden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.