| # taz.de -- Die Grünen im Wahlkampfjahr: Volle Deckung | |
| > Der konservative Aufschrei gegen das imaginierte Einfamilienhaus-Verbot | |
| > erschreckt die Grünen. Welche Schlüsse ziehen sie für den Wahlkampf? | |
| Bild: Haben kein Interesse an Kulturkämpfen: Das Grünen-Spitzenduo Annalena B… | |
| Berlin taz | Der Mann, der den Deutschen angeblich das Einfamilienhaus | |
| verbieten wollte, klingt am Telefon etwas ernüchtert. „Das war ein | |
| Vorgeschmack, wie hart der Wahlkampf gegen eine realistische Klima- und | |
| Umweltpolitik wird“, sagt Anton Hofreiter. | |
| Einige hätten versucht, eine sachliche Auseinandersetzung zu verhindern. | |
| Sie hätten Leute in die Irre geführt, Unterstellungen lanciert und das | |
| Thema identitätspolitisch aufgeladen, um die Leute auf die Bäume zu | |
| treiben. Hofreiter schnauft. „Wenn wir so miteinander diskutieren, | |
| verunmöglicht das jeden ernsthaften Diskurs.“ | |
| Das Problem ist nur: Was tun, wenn die Gegenseite überhaupt kein Interesse | |
| am ernsthaften Diskurs hat? | |
| Diese Frage stellt sich für die Grünen gerade sehr konkret. Sie haben eine | |
| beinharte Woche hinter sich. Politiker von CDU, CSU, FDP und SPD | |
| bezeichneten sie mal wieder als Verbotspartei, als erbitterte Moralapostel, | |
| die den Deutschen den Traum vom eigenen Häuschen madig machen. | |
| ## Kämpfen oder Wegducken? | |
| Welche Schlüsse ziehen die Grünen daraus? Es gibt, grob gesagt, zwei | |
| Möglichkeiten: Man kann die eigenen Argumente detailliert ausbreiten und | |
| hoffen, dass sie den Menschen einleuchten. Oder man duckt sich weg und sagt | |
| lieber nicht die ganze Wahrheit. Es sieht so aus, als entschiede sich | |
| Hofreiters Partei für die zweite, einfachere Strategie – aus | |
| nachvollziehbaren Gründen. | |
| Aber von vorn. Eigentlich fing alles ganz harmlos an. [1][Der | |
| Bezirksamtschef von Hamburg-Nord, Michael Werner-Boelz, hat entschieden, in | |
| neuen Baugebieten keine Einfamilienhäuser mehr auszuweisen.] Ein Kurs, den | |
| auch Kommunalpolitiker anderer Parteien anderswo verfolgen: Die Städte | |
| verzeichnen Zuzüge, sie brauchen bezahlbaren Wohnraum, die Flächen sind | |
| knapp. | |
| [2][Hofreiter verteidigte in einem Spiegel-Interview die | |
| Entscheidungsfreiheit der Kommunen.] Über das Einfamilienhaus sagte er ein | |
| paar banale Sätze, die jeder Stadtplaner unterschreiben würde. | |
| „Einparteienhäuser verbrauchen viel Fläche, viele Baustoffe, viel Energie, | |
| sie sorgen für Zersiedelung und damit auch für noch mehr Verkehr.“ | |
| Gleichzeitig betonte er, dass die Grünen niemandem die eigenen vier Wände | |
| verbieten wollten. | |
| Es half ihm nicht viel. Ein Aufschrei folgte. Die politische Konkurrenz | |
| warf den Grünen einen ideologisch motivierten Feldzug gegen das | |
| Einfamilienhaus vor. Markus Söder, Olaf Scholz, der FDPler Volker Wissing – | |
| alle bliesen ins selbe Horn. Grünen-Chef Robert Habeck ruderte öffentlich | |
| zurück und beteuerte, dass von Verboten keine Rede sein könne. Das | |
| Einfamilienhaus „ist für viele Menschen Teil ihres Lebens, ihrer | |
| Lebenspläne und ihrer Wünsche und wird es auch in Zukunft bleiben“. | |
| ## Nur die halbe Wahrheit | |
| Das allerdings ist eine unvollständige Version der Wahrheit. Die Grünen | |
| stehen dieser Wohnform aus ökologischen Gründen nämlich sehr wohl skeptisch | |
| gegenüber. Für ein Einfamilienhaus seien im Schnitt 200 Tonnen Kies und | |
| Sand nötig, heißt es in einem Parteitagsbeschluss aus dem Jahr 2019. Und: | |
| Nötig sei ein Programm für flächensparendes Wohnen und Arbeiten, um | |
| bestehende Flächen besser auszunutzen. | |
| Richtig ist deshalb: Grüne Politik würde das Einfamilienhaus nicht | |
| verbieten, aber sie würde das Angebot von neu gebauten Häusern auf der | |
| grünen Wiese durch andere Planung wohl verknappen. Das muss kein Problem | |
| sein. Wenn Dorf- und Stadtkerne wiederbelebt und verdichtet würden, wäre | |
| genug Wohnraum für alle da. Fußgängerzonen würden lebendiger. Außerdem | |
| würde Flächenfraß verlangsamt, die Natur könnte sich erholen. | |
| Eigentlich eine Win-win-Situation. Machen zu viel Versiegelung, | |
| Artensterben und sinkende Grundwasserpegel eine andere Baupolitik | |
| notwendig? Dieses Niveau erreichte die öffentliche Debatte erst gar nicht, | |
| leider. Ob es ums Fleischessen, ums Autofahren oder ums Fliegen geht, es | |
| ist immer dasselbe: Konservative, Liberale und ihnen geneigte Medien | |
| unterstellen den Grünen Verbotswahn, jene wiederum beteuern das Gegenteil. | |
| Die eine Seite schreit „Verbotspartei!“, die andere geht in Deckung. | |
| Die Wahrheit und der Streit um die beste Lösung bleiben so auf der Strecke. | |
| Denn um die ökologische Wende wirklich zu schaffen, müssten die Deutschen | |
| weniger Fleisch essen und auch mal aufs Auto und Flüge verzichten. Nur | |
| trauen sich die Grünen nicht, das offen zu sagen. | |
| ## „Das fragen Sie mal Ihre KollegInnen“ | |
| Natürlich ist ihnen dieses Dilemma bewusst. Fragt man die Vorsitzende | |
| Annalena Baerbock, ob bestimmte ökologische Themen nicht diskutierbar | |
| seien, weil sie sofort diffamiert würden, antwortet sie wie aus der Pistole | |
| geschossen: „Das fragen Sie mal Ihre KollegInnen.“ Sie lacht dabei, aber im | |
| Kern enthält der Satz eine Medienkritik. Bei den Grünen ist ein offenes | |
| Geheimnis: Die Bild-Zeitung nutzt jede Chance, um eine Kampagne gegen sie | |
| zu fahren – besonders gerne in Wahlkämpfen. | |
| Die Bild war es auch, die 2013 den Veggieday entdeckte. Der eigentlich | |
| harmlose Vorschlag im Grünen-Programm, einen fleischfreien Tag in Kantinen | |
| einzurichten, hatte auch in vorherigen Wahlprogrammen gestanden – und nie | |
| jemanden gestört. Nun wurde er zu dem Vorwurf hochgejazzt, die Grünen | |
| wollten den Deutschen das Fleisch verbieten. Das Ergebnis: 8,4 Prozent. | |
| Dieses Veggieday-Trauma sitzt tief. | |
| Nicht nur Hofreiter warnt seine Partei im Moment vor harten Monaten bis zum | |
| September. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, der den Wahlkampf | |
| verantwortet, sagt: „Der Bundestagswahlkampf wird brutal. Wir machen uns | |
| keine Illusionen. Wir stehen als Grüne im Zentrum der Aufmerksamkeit und | |
| werden auch im Zentrum der Angriffe stehen.“ | |
| Wie nervös die Partei ist, ließ sich neulich bei einer Lappalie beobachten. | |
| Vor ein paar Wochen plädierten zwölf linke Mitglieder in einem offenen | |
| Brief dafür, auf eine Kanzlerkandidatur zu verzichten. Ihr Argument: | |
| „Personenkult tut uns nicht gut.“ Eine Zeitung griff das Thema auf. | |
| Eigentlich hätte man den Einwurf getrost ignorieren können, die Gruppe hat | |
| in der Partei nichts zu melden. [3][Doch Kellner wies die zwölf Basisleute | |
| via Spiegel in die Schranken.] Bundesvorstandsmitglied Jamila Schäfer warf | |
| ihnen auf Twitter vor, mit dem offenen Brief zu „trollen“. Selbstbewusst | |
| wirkte das nicht, sondern völlig überzogen. | |
| ## Keine Erfahrung mit Gegenwind | |
| Kellner weiß, dass die Erfahrung harten Gegenwinds für viele Grüne völlig | |
| neu ist. In den vergangenen Jahren sind jede Menge unerfahrene | |
| Neumitglieder dazugestoßen. Und die Medien gingen mit den Grünen in der | |
| Opposition vergleichsweise freundlich um. Dazu passt, dass Habeck und | |
| Baerbock der Partei das Freund-Feind-Denken weitgehend abgewöhnt haben. Es | |
| gibt keine politischen Lager mehr, lautet ihre Analyse – und die Konkurrenz | |
| müsse nett behandelt werden. | |
| Das klingt gut in Interviews, aber ein bisschen naiv ist es auch. Jetzt | |
| lernen viele Grüne auf die harte Tour, dass Lager sehr wohl noch | |
| existieren, zumindest dann, wenn es um etwas geht. | |
| Es gibt Stimmen an der Basis, die sich mehr Klartext von der Parteispitze | |
| wünschen. Mathis Weselmann, Geschäftsführer des Stadtverbandes Hannover, | |
| bezeichnet es auf Twitter als „nervig, wie defensiv meine Partei auf | |
| CSU-Angriffe reagiert“. Immer werde erklärt, dass man alles gar nicht so | |
| gemeint habe. „Statt zum Beispiel zu sagen: Wer das Einfamilienhaus zum | |
| Menschenrecht hochjazzt, befeuert die Mietenkrise in den Städten.“ | |
| Hofreiters frommer Wunsch | |
| Aber viele Grüne mahnen intern zur Vorsicht. Man dürfe sich eben nicht ohne | |
| Not angreifbar machen, die Gegenseite warte nur auf solche Gelegenheiten. | |
| Diese oder ähnliche Sätze hört man oft, wenn man Grüne mit ihrer diffusen | |
| Kommunikation konfrontiert. Ein führender Politiker sagt es so: Es sei doch | |
| bezeichnend, dass die Meute schon ein halbes Jahr vor der Wahl losfeuere, | |
| auch wenn es in der Sache um nichts Strittiges gehe – nämlich um | |
| Geschosswohnungsbau mitten in Hamburg. | |
| Hofreiter sagt am Telefon, dass die ökologisch-soziale Transformation eine | |
| sachliche Debatte verlange. „Sie darf kein Kulturkampf werden.“ Es gehe | |
| nicht um Lebensstile oder Moral, sondern um die Regeln, die sich die | |
| Gesellschaft gebe. „Politik muss den Rahmen setzen – wie die Leute in | |
| diesem Rahmen wohnen, essen oder fahren, entscheiden sie für sich.“ | |
| Bitte keinen Kulturkampf? Das klingt nach dem Einfamilienhaus-Spektakel wie | |
| ein frommer, aber unrealistischer Wunsch. | |
| 23 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-um-Einfamilienhaeuser/!5747069 | |
| [2] https://www.gruene-bundestag.de/presse/pressemitteilungen/klarstellung-inte… | |
| [3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzler-kandidatur-gruenen-spitz… | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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