# taz.de -- Parteiaustritte altgedienter Mitglieder: Grüne Wachstumsschmerzen | |
> Im Kreis Rotenburg (Wümme) treten zwei Ortsverbände fast geschlossen bei | |
> den Grünen aus. Sie hadern mit dem Wandel der Partei. | |
Bild: Die Verjüngung der Partei und ihr neuer Stil machen nicht alle glücklich | |
Hannover taz | Mindestens zwanzig Grüne weniger hat der [1][Kreisverband | |
Rotenburg (Wümme)] in Niedersachsen zum Ende des Monats, wenn es nach | |
einigen Grünen aus Scheeßel und Bothel geht. Als eine letzte große Geste | |
der Empörung wollen sie ihren gemeinsamen, öffentlich verkündeten Austritt | |
verstanden wissen – aber auch als einen Akt der Verzweiflung. | |
„Die Grünen hier schneiden sich ihre Wurzeln ab“, sagt Birgit Brennecke, | |
die für den Ortsverband Bothel spricht, im Rat sitzt und auch schon einmal | |
Landtagskandidatin der Grünen war. „Wir sind nicht die einzigen | |
Ortsverbände, die hier eine feindliche Übernahme fürchten“, sagt Arthur | |
Lempert, noch Sprecher des OV Scheeßel und LGBTQ-Beauftragter seiner | |
Partei. | |
„Feindliche Übernahme“ – das ist einer der Aspekte, die hier eine Rolle | |
spielen. Um die Aufnahme neuer Mitglieder gibt es einen schon länger | |
schwelenden Streit mit dem Kreisvorstand. Der versucht nämlich, die | |
aktuellen grünen Umfragehochs für sich zu nutzen, spricht aktiv Leute an | |
und bittet sie, Mitglied zu werden. | |
Mit Erfolg: Über 200 Leute zählt der Kreisverband mittlerweile, auch ein | |
Jugendverband wurde gerade aus der Taufe gehoben. Der Altersdurchschnitt | |
sei erheblich gesunken, verkündet Kreissprecher Hans-Jürgen Schnellrieder | |
stolz. | |
## Glücksritter und Karrieristen | |
Aus Sicht der alteingesessenen Aktiven lockt das aber auch Glücksritter an, | |
die vor allem schnell Karriere machen und Mandate abstauben wollen. Lempert | |
und seine Mitstreiter*innen beharren demgegenüber auf dem | |
Gewohnheitsrecht, Neumitglieder erst einmal einzuladen und beschnuppern zu | |
dürfen, statt jeden aufzunehmen, der sich plötzlich irgendwie grün fühlt. | |
Damit stehen sie allerdings [2][quer zur Landes- und Bundespartei, die auf | |
allen Kanälen Mitgliederwerbekampagnen führt] und neue Mitgliederrekorde | |
feiert. Weil beim Beschnuppern nun Aerosole freigesetzt werden und es daher | |
coronabedingt seit Monaten ausfallen muss, hängen etliche Mitgliedsanträge | |
schon fast ein Jahr in der Warteschleife, was wiederum der Kreisvorstand | |
unmöglich findet. | |
Das große Misstrauen gegenüber all diesen Neuen fußt allerdings auch auf | |
Zerwürfnissen mit dem Kreisverband, die sehr viel älter sind als die | |
frischen Unterschriften auf den Mitgliedsanträgen. Diese Konflikte sind für | |
Außenstehende nicht leicht zu durchschauen, weil sehr viele persönliche | |
Animositäten eine Rolle spielen, die gern auch über die Lokalpresse und die | |
sozialen Netzwerke ausgetragen werden. | |
Möglicherweise haben sie ein wenig mit dem Führungsstil des Kreisvorstandes | |
zu tun. Vor allem der Vorsitzende Hans-Jürgen Schnellrieder gilt als | |
alerter Unternehmertyp, der mit großer Energie und großem | |
Durchsetzungsvermögen, aber auch ausgeprägtem Machtbewusstsein agiert. | |
Davon wiederum fühlen sich viele der grünen „Urgesteine“ überfahren und … | |
den Rand gedrängt. | |
„Wir sind diejenigen, die hier vor Ort den Kopf hinhalten, sich mit | |
Ratskollegen und anderen anlegen – seit Jahren. Aber unsere Themen und | |
unsere Projekte spielen plötzlich keine Rolle mehr“, klagt Brennecke, | |
„weder bei diesem Kreisvorstand, noch in der Partei insgesamt.“ | |
## Gewohnte Beteiligungsprozesse werden abgeschnitten | |
Zu ihren Kernthemen gehört [3][der Kampf gegen Fracking und Flüssiggas,] | |
aber auch der traditionsreiche Friedensmarsch oder das neuere Thema | |
Grundeinkommen. Und an allen Fronten hat sie das Gefühl, gegen Wände zu | |
laufen: Zu lange, behauptet sie, sind die Grünen dem Gewäsch von den | |
Brückentechnologien auf den Leim gegangen, statt [4][einfach mal bei den | |
Betroffenen vor Ort] nachzufragen. | |
Traditionelle Aktionsformen und Beteiligungsprozesse seien plötzlich | |
abgemeldet, wer nicht hundertprozentig digitalisiert unterwegs sei, habe | |
eben Pech gehabt. Und um auch nur die Erwähnung des Wortes „Grundeinkommen“ | |
in das Grundsatzprogramm der Grünen durchzufechten, habe es endlose | |
Antragsschlachten gebraucht. | |
Dafür würden dann Wahlkampfthemen von oben durchgedrückt und gesetzt, die | |
überhaupt keinen Bezug zur Realität vor Ort hätten, sagt sie. „Bus fahren | |
umsonst“ hätte Brennecke einmal plakatieren sollen. „Dabei fährt hier gar | |
kein Bus.“ | |
## Dramatische Austritte haben hier Tradition – siehe Twesten | |
Für Brennecke ist das allerdings auch nicht die erste Erfahrung mit | |
fundamentalen Zerwürfnissen: Sie war diejenige, die [5][Elke Twesten die | |
Position als Landtagskandidatin] weggeschnappt hat. Was letztlich dazu | |
führte, dass diese im niedersächsischen Landtag von den Grünen zur CDU | |
wechselte – und damit das Ende der rot-grünen Regierung unter Stephan Weil | |
(SPD) einleitete. | |
Erlebt man hier also die hundertste Aufführung des fast vergessenen Stücks | |
„Realos gegen Fundis“? [6][Die normalen Wachstumsschmerzen einer werdenden | |
Volkspartei,] der die Anhänger der reinen Lehre von der Fahne gehen? Oder | |
am Ende doch bloß das Produkt persönlicher Kränkungen? | |
Ein bisschen von allem, glaubt Ulrich Thiart, der als altgedientes | |
Kreistagsmitglied den ganzen Zirkus ein wenig zurückgelehnter, aber auch | |
mit sehr großer Sympathie für die Abtrünnigen betrachtet. „Da sind viele | |
darunter, die hier über Jahrzehnte sehr engagiert waren. Die zu verlieren, | |
tut wirklich weh“, sagt er. | |
Es sei offensichtlich, dass es eine Schieflage gäbe, wenn der | |
Kreisvorstand, Delegiertenwahlen und vieles andere von einer gut | |
organisierten Truppe aus einem einzigen Ortsverband dominiert würden. „Hier | |
werden unsere basisdemokratischen Prinzipien beschädigt. Es ist doch | |
vollkommen klar, dass dieser riesige Landkreis mit seinen ganz | |
unterschiedlichen Problemlagen da nicht angemessen repräsentiert ist.“ | |
Da hätte längst jemand moderierend eingreifen müssen, findet Thiart. Ob | |
damit allerdings die unselige Neigung zur Spaltung zu beseitigen wäre, weiß | |
er auch nicht. Die hat in der Region eine gewisse Tradition: Im nahe | |
gelegenen Ottersberg hat es zeitweilig auch schon einmal drei grüne | |
Fraktionen im Ratssaal gegeben. | |
27 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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