# taz.de -- Fridays for Future und die Grünen: Die Gradwanderung | |
> Fridays for Future wirft den Grünen Halbherzigkeit im Kampf gegen die | |
> Erderhitzung vor. Wie gefährlich ist das für die Ökopartei? | |
Bild: Grünen-Chef Robert Habeck im Gespräch mit Fridays for Future am 28. Okt… | |
Die Parkbank an der Spree ist noch feucht vom letzten Regenschauer. Luisa | |
Neubauer lehnt sich vorsichtig zurück. Dann legt sie los: „Die Grünen | |
kommen mir, vorsichtig gesagt, etwas panisch vor.“ Das sei zunächst | |
verständlich. Die Partei habe mehrmals die Erfahrung gemacht, kurz vor | |
einer Bundestagswahl einige Prozente zu verlieren, weil sie zu viel Öko | |
wollten. | |
Eine Sekunde Pause, Neubauer nimmt einen Schluck Tannenzäpfle. „Die Formel | |
hat sich in ihre Köpfe eingebrannt: Viel Klima heißt weniger Stimmen. Sie | |
denken, Fridays for Future tasten ihre heiligen 20 Prozent an.“ Neubauer | |
ist das prominente Gesicht der jungen Klimaschutzbewegung, die mit ihren | |
Protesten die Klimakrise ins Bewusstsein der Deutschen gebracht hat. Vor | |
ihr fließt schwarz die Spree, ein hell erleuchtetes Redaktionsschiff fährt | |
vorbei. | |
Je länger man sich mit Neubauer an diesem Donnerstagabend unterhält, desto | |
stärker wird der Eindruck: Zwischen der Bewegung und den Grünen ist eine | |
tiefe Kluft entstanden, die sich kaum noch überbrücken lässt. [1][Nicht nur | |
angesichts des Kampfes um den Dannenröder Wald], der teilweise für ein | |
Autobahnstück gerodet werden soll, zeigt sich: Fridays for Future (FFF) | |
hält die Grünen für nicht radikal genug. Diese wiederum sind von den | |
Attacken schwer genervt, weil andere Parteien noch weniger für Klimaschutz | |
tun. | |
Hält man Neubauer dieses Argument vor, lacht sie. FFF wende sich nun mal an | |
die Partei, von der die Bewegung wisse, dass sie ökologischen Sachverstand | |
habe. „Wer geht schließlich noch hoffnungsvoll zu Andi Scheuer und | |
versucht, ihn davon abzubringen, Autobahnen zu bauen?“, fragt sie. „Das ist | |
doch eine absurde Vorstellung.“ Wenn die Grünen keine Politik anböten, die | |
mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel sei, „wo sollen wir denn sonst | |
anfangen?“. | |
Neubauer, selbst Grünen-Mitglied, macht der Partei den schlimmsten Vorwurf, | |
den man einer ökologisch orientierten Partei machen kann. Er lautet: Ihr | |
habt keinen Plan für das ehrgeizige 1,5-Grad-Ziel. Ihr tut vielleicht grün, | |
seid es aber nicht wirklich. | |
Stimmt das? Nehmen selbst die Grünen die Klimakrise nicht ernst genug? Die | |
Antwort auf diese Frage ist vielschichtig. | |
Da wäre zunächst das Pariser Klimaschutzabkommen selbst, das im Dezember | |
2015 von 196 Staaten unterzeichnet wurde. Auf FFF-Demonstrationen wird oft | |
so getan, als fordere der Vertrag, die Erderhitzung bis 2100 bei 1,5 Grad | |
zu stoppen. Das ist aber nicht korrekt. In dem Abkommen haben sich die | |
Staaten darauf geeinigt, „den Temperaturanstieg deutlich unter 2 Grad | |
Celsius zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg auf 1,5 | |
Grad zu begrenzen.“ Es gibt also einen Korridor vor, keine fixe Marke. Auf | |
diesen Korridor beziehen sich die Grünen bisher in ihren Beschlüssen. | |
Auch die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck schrieben | |
eine solche Formulierung in ihren Entwurf für das Grundsatzprogramm. Aber | |
sie sorgt für Streit, Teilen der Basis reicht sie nicht mehr. Die | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Energie warb dafür, sich an dem 1,5-Grad-Ziel zu | |
orientieren. In dem innerparteilichen Thinktank sitzen Basisgrüne, die sich | |
sehr gut mit Klimaschutz auskennen. Tagelang wurde über die richtige | |
Formulierung verhandelt. | |
Am Samstag wird nun über zwei Varianten abgestimmt, eine zahmere und eine | |
härtere. Die zahme wird vom Bundesvorstand präferiert und ist eine | |
Tatsachenbeschreibung, keine Selbstverpflichtung. Sie lautet: „Um auf den | |
1,5-Grad-Pfad zu kommen, ist unmittelbares und substanzielles Handeln in | |
den nächsten Jahren entscheidend.“ Ein Mitglied aus dem Kreisverband | |
Mannheim will die harte Variante durchsetzen: „Für uns ist daher das | |
1,5-Grad-Ziel Maßgabe unserer Politik.“ | |
Beschließt die Grünen-Basis diese Variante, wäre das nicht nur eine | |
Brüskierung des Vorstands, sondern auch ein Bekenntnis mit unabsehbaren | |
Folgen. Als potenzielle Regierungspartei hätten sich die Grünen in eine | |
schwierige Lage manövriert. Wichtige Grüne ahnen, dass ihnen unangenehme | |
Fragen gestellt würden. Stehen die Grünen noch zu Paris – oder suchen sie | |
sich aus einem völkerrechtlich bindenden Abkommen den Halbsatz heraus, der | |
ihnen am besten in den Kram passt? | |
Aber auch die zahme Variante ist unangenehm. Bietet sie doch den jungen | |
KlimaschutzaktivistInnen einen neuen Beleg für die Zahnlosigkeit der | |
Grünen. | |
Die Grünen-Spitze ist alarmiert. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner | |
appellierte am Freitag auf taz-Anfrage fast flehentlich an die Basis: „Wenn | |
wir jetzt anfangen, die Pariser Ziele umzuformulieren, schwächen wir das | |
Pariser Klimaabkommen – und damit den gemeinsamen Kampf für Klimaschutz. | |
Die Zeit drängt, wir müssen ins Machen kommen.“ | |
Oft sind Grünen-Parteitage sorgfältig orchestrierte Events ohne relevante | |
Entscheidungen, aber dieses Mal geht es um etwas. Die jungen | |
KlimaaktivistInnen haben ja recht damit, dass der Unterschied zwischen 1,5 | |
und 2 Grad riesig ist. „Jedes Zehntelgrad mehr kostet Hunderttausende | |
Menschenleben“, sagt Luisa Neubauer an der Spree. „Mit welchem | |
Selbstverständnis sollte man nicht auf das ehrgeizigste Ziel hinwirken, | |
wissend, dass die Folgen sonst fürchterlich sind?“ | |
Aber lässt sich das 1,5-Grad-Ziel überhaupt in politisches Handeln | |
umsetzen? | |
Das Dokument, das den Grünen schwer im Magen liegt, hat 115 Seiten und | |
wiegt 596 Gramm: [2][„CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen | |
Beitrags zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze“ ist der Titel des Gutachtens, | |
mit dem Fridays for Future die Grünen seit Oktober vor sich hertreibt.] | |
Darin hat das Wuppertal Institut aufgelistet, was in den nächsten Jahren | |
passieren müsste, um den deutschen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel zu leisten. | |
Schluss mit innerdeutschen Flügen, Halbierung des Autoverkehrs, das | |
Vierfache an Häusern energetisch sanieren, vier- bis fünfmal so viele | |
Windparks bauen wie bisher, Verbot von Ölheizungen, ein CO2-Preis, der | |
„perspektivisch“ bei 180 Euro pro Tonne liegt, statt bei 55 Euro, die für | |
2025 geplant sind. Eine Liste der Grausamkeiten für eine Partei, die sich | |
darauf vorbereitet, ab 2021 in der Bundesregierung zu sitzen. | |
In der Debatte um den Dannenröder Wald fordert ein offener Brief „die grüne | |
Partei auf, grüne Politik zu machen“. Das Schreiben vom Bund Deutscher | |
Pfadfinder_innen Hessen warnt, nur ein Baustopp könne „das kleinste | |
bisschen Glaubwürdigkeit wahren“, wollten die Bündnisgrünen „nicht kompl… | |
das Gesicht […] verlieren“. [3][Die Unzufriedenheit ist so groß, dass sich | |
überall in der Republik Klimalisten für anstehende Wahlen gründen] – in | |
Baden-Württemberg will eine solche Liste im März gegen den grünen | |
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann antreten. | |
Kretschmann, der wiedergewählt werden will, hält die dunkelgrüne Konkurrenz | |
für eine „ernste Angelegenheit“. Sie könnte entscheidende Prozentpunkte | |
kosten. | |
Die Grünen-Spitze fürchtet, sich mit einer radikalen und einseitigen | |
Auslegung des Pariser Klimaschutzabkommens angreifbar zu machen. Kellner | |
nennt die Tatsache, dass sich alle Staaten dazu verpflichtet hätten, | |
historisch. „Diese massive Anstrengung schaffen wir als Welt aber nur | |
gemeinsam, mit aller Kraft.“ | |
Außerdem fühlen sich Grüne von der FFF-Kritik auch in ihrem Stolz gekränkt. | |
Sie nähmen die Klimakrise nicht ernst? Die Partei, der das Thema so wichtig | |
war, dass sie 1990 bei der Bundestagswahl plakatierte: „Alle reden von | |
Deutschland. Wir reden vom Wetter“ – und damit an der Fünfprozenthürde | |
scheiterte? | |
Auf dem Papier ist ihr Engagement nicht zu bestreiten. 37 Seiten hat der | |
Beschluss „Handeln – und zwar jetzt!“, den die Bundesdelegiertenkonferenz | |
2019 in Bielefeld verabschiedet hat. Da findet sich alles, was das Herz von | |
KlimaschützerInnen höher schlagen lässt: 100 Prozent Ökostrom im Jahr 2030, | |
schneller Kohleausstieg ab 2022, Tempolimit 130 auf Autobahnen, Ölheizungen | |
verbieten, ein Mix aus Gesetzen, Anreizen und CO2-Preisen, jedes Gesetz auf | |
seine Klimaverträglichkeit prüfen und vieles mehr. Grundlage des Handelns | |
für alle Ministerien soll das Pariser Abkommen sein. Fazit: „Was wir | |
brauchen, ist eine Klimaregierung.“ | |
Beim Regieren fängt das Problem aber an. Seit 2005 sitzen die Grünen im | |
Bundestag in der Opposition. Die entscheidenden Fragen in den Bereichen | |
Energie, Bauen, Verkehr oder Landwirtschaft werden seit 15 Jahren ohne sie | |
getroffen. Die letzte klimapolitische Großtat der Grünen, gemeinsam mit der | |
SPD, war das „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ (EEG), das einen weltweiten Boom | |
von Wind- und Solaranlagen ausgelöst hat. Seitdem haben sie das EEG über | |
die Bundesländer geschützt und verbessert, aber waren ansonsten | |
größtenteils zum Zuschauen verurteilt. Grüne Spuren hinterließ vor allem | |
der Einzelkämpfer Rainer Baake, der als Staatssekretär mit | |
Grünen-Parteibuch im SPD-geführten Wirtschaftsministerium von Sigmar | |
Gabriel von 2014 bis 2018 die Energiewende vorantrieb. | |
Die Bundestagsfraktion war auch nicht untätig. Die Abgeordneten forderten | |
100 Prozent Erneuerbare und das Ende des Verbrennungsmotors, sie nervten | |
Parlament, Regierung und Öffentlichkeit mit Aktionen und Eingaben zum | |
Klimaschutz. 2013 stellten sie ein Klimaschutzgesetz für den Bund vor, aber | |
erst 2019 setzte die Koalition von CDU, CSU und SPD auf Druck von FFF ein | |
solches Gesetz um. | |
Sie hätten „getan, was man als Opposition so tut – die Debatten | |
angestoßen“, sagt ein Parteistratege. „Die Frage ist nicht: Tun wir genug? | |
Die Frage ist: Erreichen wir genug?“ | |
Eine Machtposition baute sich die Partei über den Bundesrat auf – | |
inzwischen sitzen die Grünen in 11 von 16 Landesregierungen mit am Tisch. | |
Das führte Ende 2019 zu ihrem größten klimapolitischen Erfolg seit Langem: | |
Die von Grünen mitregierten Länder zwangen die Bundesregierung, den | |
CO2-Einstiegspreis beim innerdeutschen Emissionshandel für Verkehr und | |
Gebäude, der ab 2021 beginnt, von 10 auf 25 Euro pro Tonne anzuheben. | |
Die Verhandlungen führten für die Grünen Winfried Kretschmann und | |
Fraktionschef Anton Hofreiter, ein Ultrarealo und ein Linksgrüner. | |
Parteichefin Annalena Baerbock saß zu Hause in Potsdam und beriet die | |
beiden per Telefon. Es ist ein klassischer Kompromiss, wie er in den | |
komplexen Bund-Länder-Beziehungen üblich ist: 25 Euro sind mehr als 10, | |
aber aus Sicht von FFF viel zu wenig. | |
In den Ländern zeigt sich auch: Kommen die Grünen in die Regierung, setzen | |
sie das Klimathema auf die Agenda. Inzwischen haben 10 Länder ein eigenes | |
Gesetz, das den Klimaschutz regelt – in 7 davon setzten das die | |
Bündnisgrünen durch: von Hamburg 1997 über NRW, Baden-Württemberg, | |
Rheinland-Pfalz, Bremen, Schleswig-Holstein bis Thüringen 2018. In Hessen | |
und Berlin übernahmen sie Klimagesetze, nur Bayern schaffte eine solche | |
Regelung ohne grüne Beteiligung. | |
Aber auch grüne Regierungen mit einem Klimagesetz kämpfen mit ihren Zielen: | |
Baden-Württemberg hat trotz seines grünen Ministerpräsidenten ein | |
Minderungsziel von nur 25 Prozent bis 2020 – im Bund sind es 40 Prozent – | |
und erreicht bisher knapp 20; Hessen peilt 30 Prozent an, liegt aber bisher | |
bei 24,5 Prozent; Schleswig-Holstein will 40 Prozent weniger, steht aber | |
nach Zahlen von 2017 nur bei minus 25. | |
Eine Rangliste der klimafreundlichsten Bundesländer gibt es bisher nicht. | |
Die sei auch schwierig, weil die Umstände in den einzelnen Ländern so | |
unterschiedlich seien, sagt Stephan Sina, Experte für Klimagesetze des | |
Thinktanks [4][Ecologic Institute]. „Aber man kann sagen: Klimagesetze | |
sind jedenfalls insofern wirksam, als sie für eine bessere Steuerung und | |
Koordination der Regierungsaktivitäten sorgen, wie etwa in | |
Baden-Württemberg durch eine Stabsstelle für Klimaschutz.“ Sina weist aber | |
auch darauf hin, dass die wichtigsten Entscheidungen für das Klima bei der | |
EU und im Bund fallen. Hessens grüne Umweltministerin Priska Hinz sagt, ihr | |
Bundesland könne „nur maximal 20 Prozent der Treibhausgasemissionen selbst | |
beeinflussen“. | |
Allerdings behindern auch Grüne manchmal Klimaschutz. [5][Ministerpräsident | |
Kretschmann forderte während der Coronapandemie eine Kaufprämie für große | |
Diesellimousinen] – zusammen mit CSU-Mann Markus Söder. Dahinter steckte | |
der Wunsch, Arbeitsplätze in Baden-Württemberg zu schützen und dem | |
Daimler-Konzern einen Gefallen zu tun. Dass Kretschmann damit die Linie der | |
eigenen Partei torpedierte, störte ihn nicht weiter. | |
Weil Klimaschutz auf der anderen Seite auch vor Ort entschieden wird, sind | |
die Kommunen sehr wichtig. Hier zeigt sich: Ein engagierter | |
Oberbürgermeister und starke grüne Fraktionen im Gemeinderat wie in | |
Tübingen, Freiburg, Stuttgart oder Darmstadt bringen den Klimaschutz voran. | |
Ob und in welchem Ausmaß Grüne [6][„ökologisch regieren“] ist der Inhalt | |
einer Studie der Grünen-nahen Böll-Stiftung von 2019. Der | |
Politikwissenschaftler Arne Jungjohann, selbst zeitweise in der Regierung | |
Kretschmann tätig, zieht das Fazit: Die Partei „nutzt den | |
Handlungsspielraum, um die ökologische Modernisierung voranzubringen“. | |
Regierungen mit grüner Beteiligung „verfolgen mehrheitlich eine | |
ehrgeizigere Politik für eine ökologische Modernisierung als Regierungen | |
ohne ihre Beteiligung“. | |
Besonders deutlich sei das „in der Energiepolitik, etwa beim Ausbau der | |
erneuerbaren Energien, und in der Agrarpolitik – hier am deutlichsten beim | |
Tierschutz“. Was Klimaschutz angehe, nutzten die Grünen nicht nur den | |
Spielraum aus. Sie seien vielmehr „die treibende Kraft dahinter, dass sich | |
Klimapolitik als eigenes Politikfeld auf Landesebene überhaupt etabliert“. | |
Angesichts der Klimalisten, die jetzt zur Wahl antreten, fürchtet | |
Jungjohann, dass sich „die Klimakräfte kannibalisieren“ könnten. Er | |
bezweifelt, „dass sich die Mehrheiten für eine ehrgeizige Klimapolitik | |
dadurch ändern, dass eine weitere Partei antritt“. Sollte sie den Sprung | |
ins Parlament schaffen, würde sie in einer Koalition auch Kompromisse | |
machen müssen. „Wenn neue Mandate für eine radikale Klimakraft gewonnen | |
werden, stärkt das den Klimaschutz. Das klappt dort, wo keine | |
5-Prozent-Hürde gilt, zum Beispiel im Gemeinderat. In anderen Fällen droht, | |
dass die Stimme verschwendet ist.“ | |
Die Klimalisten könnten aber auch dazu führen, dass die Grünen ihr | |
klimapolitisches Profil schärfen. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, sagt | |
Jungjohann. Es sei ja gerade das große Dilemma, dass „die anderen Parteien | |
den Grünen das Feld der Klimapolitik so lange überlassen haben“. | |
Luisa Neubauer hält noch einen anderen Punkt für entscheidend. Sie glaubt, | |
dass zu viele klimaschädliche früher getroffene Vereinbarungen nicht mehr | |
der Dramatik der Wirklichkeit entsprechen. „Es braucht einen | |
demokratischen, vertrauenswürdigen Weg, Verträge aufzulösen, wenn es um | |
planetare Grenzen geht.“ Dann müsse es Ausgleichszahlungen geben, aber der | |
Diskurs dürfe nicht tabuisiert werden. „Für einen Braunkohletagebau werden | |
auch Leute enteignet, weil ein höheres Interesse existiert.“ | |
Deshalb sei auch der Dannenröder Wald so wichtig. „Es geht beim Danni für | |
uns nicht schlicht um ein paar Hektar Wald. Der Konflikt ist so symbolisch, | |
weil dahinter die Frage steht: Was tun wir, wenn Entscheidungen getroffen | |
werden, aber heute nicht mehr tragbar sind?“ Die hessischen Grünen halten | |
dagegen: Alle Wege seien rechtlich ausgeschöpft, zuständig sei der Bund. | |
Die Grünen quälen sich auch deshalb so mit diesen Fragen, weil es bei der | |
Erderhitzung auf jedes Zehntelgrad ankommt. Das hat 2018 ein Sonderbericht | |
des Weltklimarats (IPCC) deutlich gemacht: Bei 1,5 Grad würden viele | |
Schäden vermieden und Leben gerettet, die bei 2 Grad Erwärmung bedroht | |
wären. Aber bis zur letzten Verhandlungsrunde der Pariser Konferenz 2015 | |
waren „1.5 to stay alive“ überhaupt keine ernst zu nehmende | |
Verhandlungsoption. Erst die kleinen Inselstaaten boxten diese Formulierung | |
ganz zum Schluss in den Text, der bei Umweltgruppen am letzten Tag der | |
Konferenz ungläubigen Jubel hervorrief. | |
„1,5 Grad, das hieße für Deutschland null Emissionen bis 2030, wenn man | |
unsere Wirtschaftskraft und historische Verpflichtung einrechnet“, sagt | |
Niklas Höhne, Experte für Klimaberechnungen vom [7][NewClimate Institute]. | |
„Das ist technisch schwierig, und politisch noch schwieriger.“ Auch | |
Parteien in der Regierung „verlangt das sehr viel ab“, sagt Höhne. Diesen | |
Konflikt müssten sie „aushalten und diskutieren“. | |
Lutz Weischer von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch | |
sagt, „auch die Grünen haben keinen kompletten Plan, wie wir die | |
1,5-Grad-Grenze einhalten, aber sie führen die ernsthafteste | |
Auseinandersetzung darüber“. Und Greenpeace-Geschäftsführer Martin Kaiser | |
gesteht den Grünen zu, sie seien „die einzige Partei, die sich ansatzweise | |
am Pariser Abkommen ausrichtet“. Allerdings müsse sie präziser und mutiger | |
werden, das in einzelnen Bereichen umzusetzen – „etwa einen schnelleren | |
Kohleausstieg, 100 Prozent Erneuerbare und ein Ende des | |
Verbrennungsmotors“. | |
Da, wo es bei der Umsetzung von Klimapolitik wehtut, fühlen sich viele | |
Grüne allein. Manche vermissen bei den Debatten mit FFF die Einsicht, dass | |
selbst eine Regierungspartei noch mit Blick auf Koalitionspartner, | |
Industrie, Gewerkschaften und Sozialverbände Mehrheiten organisieren muss. | |
Eine Bewegung könne radikale Ziele formulieren, eine Partei müsse sie aber | |
in gesellschaftliche Kompromisse umsetzen, sagt ein Parteistratege. „Das | |
sind verschiedene Rollen. Aber dann sollten wir für unsere Rolle nicht | |
immer verprügelt werden.“ | |
Wichtige Grüne halten die Fixierung auf die 1,5 Grad für fatal und naiv, | |
trauen sich aber nicht, das offen auszusprechen. Wenn man mal aus dem | |
Mikrokosmos der Grünen herauszoomt, in den Bundestagswahlkampf oder in die | |
Weltpolitik, dann stellen sich große Fragen. Ihre größte Sorge sei, sagt | |
eine Bundestagsabgeordnete, dass sich die Klimaschutzbewegung so | |
radikalisiere, dass das gesamte Anliegen einem Großteil der Bevölkerung | |
nicht mehr vermittelbar sei. | |
Überall bemüht sich die Grünen-Spitze deshalb, Positionen nicht zu sehr zu | |
radikalisieren. Eine Forderung, den Flugverkehr massiv zu reduzieren, wurde | |
in den Programmentwurf aufgenommen und dabei deutlich abgeschwächt. | |
Ähnliches passiert auch anderswo. Wie eine gut geölte Maschine schnurrte | |
die Antragskommission die Wünsche der Grünen-Basis zusammen. | |
Luisa Neubauer steht von der Bank an der Spree auf. Im Gehen erzählt sie | |
noch, wie sich die Kommunikation zwischen Grünen und Bewegung verändert | |
habe. „Der Ton, in dem einige der Grünen über uns und manchmal auch mich | |
reden, ist schon krass, partiell kommt es mir toxisch vor. Wenn ich durch | |
den Danni gehe, fragen mich alle, wann ich endlich austrete.“ | |
Den Spagat zwischen Anspruch, Wirklichkeit und Basis haben die Grünen in | |
ihrem Beschluss von 2019 präzise beschrieben: „Die Lücke zwischen | |
wissenschaftlich Notwendigem und gesellschaftlich Nötigem […] klafft immer | |
weiter auseinander“, heißt es dort. „Es liegt gerade auch an uns, das | |
Vertrauen einer ganzen Generation in die Gestaltungs- und | |
Handlungsfähigkeit der Politik zu erhalten.“ | |
20 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Streit-um-den-Dannenroeder-Forst/!5725692 | |
[2] /Studie-zu-deutschen-CO2-Emissionen/!5719605 | |
[3] /Fridays-for-Future-und-Politik/!5720941 | |
[4] https://www.ecologic.eu/de | |
[5] /Streit-um-die-Abwrackpraemie/!5686826 | |
[6] https://www.boell.de/de/2019/01/15/oekologisch-regieren-0 | |
[7] https://newclimate.org/ | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Schwerpunkt Landtagswahl in Baden-Württemberg | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Grüne Berlin | |
Pariser Abkommen | |
Landtag Niedersachsen | |
Greta Thunberg | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Abzug | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Stuttgart | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Grüne | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Pariser Abkommen | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verleger Manuel Herder als CDU-Kandidat: Der große Erklärer | |
Manuel Herder, der bisher den Freiburger Traditionsverlag führte, will für | |
die CDU in den Landtag. Warum tut er sich das an? | |
Parteiaustritte altgedienter Mitglieder: Grüne Wachstumsschmerzen | |
Im Kreis Rotenburg (Wümme) treten zwei Ortsverbände fast geschlossen bei | |
den Grünen aus. Sie hadern mit dem Wandel der Partei. | |
Vor Landtagswahl in Baden-Württemberg: Strategiestreit bei der Klimaliste | |
Zwei Gründungsvorstände verlassen die junge Kleinstpartei. Sie fürchten, | |
der Antritt bei der Landtagswahl könnte das öko-progressive Lager spalten. | |
Baerbock will ins Kanzleramt: Sie bestimmt | |
Annalena Baerbock formuliert ihre Ambitionen aufs Kanzleramt. Die | |
Schnappatmung bei männlichen Analytikern ist bemerkenswert. | |
Spitzenkandidat*innen für Landtagswahlen: Grüner und weiblicher | |
Die Grünen in Berlin küren Bettina Jarasch zur Spitzenkandidatin für die | |
Landtagswahl 2021. In BaWü darf Kretschmann feiern. | |
Annalena Baerbock über Kanzler*innenamt: „Manches muss man auch verbieten“ | |
Die Grünen-Chefin über klare Regeln im Klimaschutz, Vorwürfe gegen die | |
Grünen von Fridays for Future und das Kanzlerinnenamt. | |
Niedersachsen bekommt Klimaschutzgesetz: Die Welt radikaler retten | |
Niedersachsens Große Koalition beschließt ein Klimaschutzgesetz und | |
verankert das Thema in der Landesverfassung. | |
Thunberg als Gastchefredakteurin: Wirkt der „Greta“-Effekt? | |
Greta Thunberg war für einen Tag Chefredakteurin bei Schwedens größter | |
Tageszeitung. Für die einen ist das PR, für andere ein Hoffnungsschimmer. | |
Die These: Klimakids, geht in die Verwaltung! | |
Behörden haben ein schlechtes Image, gelten als Gegenteil von | |
transformativ. Falsch! Gerade hier braucht es Leute, die die Spielräume | |
nutzen. | |
Die Grünen und die Bomben: Atomwaffen raus! Oder? | |
Im neuen Grundsatzprogramm fordern die Grünen den Abzug der Atomwaffen aus | |
Deutschland. Doch einige in der Partei klangen zuletzt weniger entschieden. | |
Rodung des Dannenröder Forstes: „Ich bin nicht Donald Trump“ | |
Hessens Vize-Ministerpräsident Tarek Al-Wazir verteidigt seine Linie beim | |
Bau der Autobahn 49. Die Rechtslage sei eindeutig. | |
taz-Community über Grünen-Klimapolitik: „Die Grünen haben jetzt die Chance… | |
Zögerlich haben sich die Grünen zur +1,5-Grad-Marke bei der Erderhitzung | |
bekannt. taz-NutzerInnen in sozialen Netzwerken sind weiter skeptisch. | |
Sozialökologischer Umbau: Grün ist die Zukunft | |
Ist umweltverträgliches Wachstum im Kapitalismus möglich? Das kann nur die | |
Praxis zeigen, mittels einer radikal sozial-ökologischen Reformpolitik. | |
Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart: Ökosozial vergeigt | |
Weil das linke Lager zerstritten ist, hat Stuttgart jetzt einen CDU-Mann | |
als Stadtoberhaupt. Klimalisten sollten sich Frank Nopper genau anschauen. | |
Klimaphysiker über Erderhitzung: „Nicht nur auf 1,5 Grad fixieren“ | |
Der Klimaphysiker Anders Levermann ist dagegen, das 1,5-Grad-Ziel als | |
absolute Forderung zu sehen. Er warnt vor Widerstand gegen Ökomaßnahmen. | |
Grüne und Grundeinkommen: Im Grundsatz bedingungslos | |
Die Grünen bekennen sich auf dem digitalen Parteitag zum bedingungslosen | |
Grundeinkommen. Das war in der Ökopartei lange umstritten. | |
Parteitag der Grünen: Demütig zur Macht | |
Sicherheit durch Veränderung: Das ist die Botschaft der Grünen-Spitze auf | |
dem digitalen Parteitag. Für Aufregung sorgt Baerbocks weißes Kleid. | |
Sven Giegold zum Grundsatzprogramm: „Linker und anschlussfähiger“ | |
Mit dem neuen Grundsatzprogramm der Grünen ist Sven Giegold insgesamt | |
zufrieden. Die Kritik aus Reihen der Klimabewegung weist er zurück. | |
Klimaschutz in den USA unter Biden: Rückkehr zum Pariser Abkommen | |
Joe Biden will einen ehrgeizigen Klimaschutz für die USA und die Welt. | |
Donald Trump hat ihm ein klimapolitisches Trümmerfeld hinterlassen. | |
Streit um Dannenröder Forst und A49: Aktivist*innen attackieren Grüne | |
Im Streit über die A49 wird die Parteizentrale besetzt. In Hessen kommt es | |
zu Verhaftungen. Die Rechtslage ist eindeutig. |