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# taz.de -- Annalena Baerbock über Kanzler*innenamt: „Manches muss man auch …
> Die Grünen-Chefin über klare Regeln im Klimaschutz, Vorwürfe gegen die
> Grünen von Fridays for Future und das Kanzlerinnenamt.
Bild: Grünen-Chefin Annalena Baerbock spricht von Kanzler*innenschaft, explizi…
taz am wochenende: Frau Baerbock, [1][vor fünf Jahren wurde das Pariser
Klimaschutzabkommen beschlossen]. Damals waren alle begeistert – aber
bereitet Ihnen das Abkommen heute manchmal Kopfschmerzen, weil sich zeigt,
wie schwierig die dort formulierten Ziele zu erreichen sind?
Annalena Baerbock: Kopfschmerzen bereitet mir, dass fünf Jahre lang viel zu
wenig passiert ist, obwohl so viel möglich ist. Paris war historisch –
nicht nur, weil Klima zum zentralen Thema wurde, sondern auch, weil es ein
Akt der internationalen Zusammenarbeit war. Aber weil diese Gelegenheit
nicht ergriffen wurde, müssen wir heute die doppelte Geschwindigkeit
hinlegen. Die Klimakrise hat sich verschärft, aber gleichzeitig ist die
Erkenntnis gewachsen, dass wir handeln müssen. Zig deutsche Unternehmen
haben Ziele für Klimaneutralität – das hätte es ohne das Abkommen nicht
gegeben. Der Industriestandort Deutschland wird nicht bedroht, weil wir zu
viel Klimaschutz machen, sondern zu wenig.
Das Abkommen fordert, dass die Staaten sich anstrengen, den
Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Halten Sie das noch für
erreichbar?
Wenn wir so weitermachen wie bisher, auf gar keinen Fall. Derzeit sind wir
auf einem Pfad zu 3 bis 4 Grad. Deshalb müssen wir jetzt ins Machen kommen.
Das Gute ist: Wir wissen, dass Wohlstand und Klimaschutz Hand in Hand gehen
können. Um überhaupt auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen, müssen wir aber jetzt
die Weichen umstellen: Zum Beispiel bis Ende dieses Jahrzehnts aus der
Kohle aussteigen. Fünfmal so viel Windkraft an Land bauen wie jetzt.
Spätestens ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos in der Neuzulassung. Und
jedes Jahr eine Million Solaranlagen auf die Dächer bauen und vieles mehr.
[2][Fridays for Future sagt, auch die Grünen haben kein Programm], mit dem
Deutschland seinen fairen Anteil am 1,5-Grad-Ziel bringt. Dafür müsste
Deutschland spätestens 2035 klimaneutral sein.
Na ja, wir haben sehr deutlich aufgeschrieben, was nötig ist, um auf den
1,5-Grad-Pfad zu kommen. Aber – und an dem Punkt unterscheiden wir uns von
der [3][Wuppertal-Studie], auf die Fridays for Future sich bezieht: Für
Klimaneutralität kann man die Landwirtschaft nicht außen vor lassen, wie es
die Studie tut. Und man hat sich in Paris bewusst darauf verständigt, nicht
den Ausstoß pro Kopf zum Maßstab zu machen. Dann müssten die USA wegen
ihres hohen Pro-Kopf-Werts bis 2023 klimaneutral sein – und manche
Schwellenländer schon vor einigen kleinen Industriestaaten. Das ist nicht
machbar.
Es gab Forderungen, das 1,5-Ziel ins neue Grundsatzprogramm der Grünen zu
schreiben. Da steht jetzt, Sie wollen „auf den 1,5-Grad-Pfad“ kommen. Was
ist der Unterschied?
Der 1,5-Grad-Pfad bedeutet, dass wir alles dafür tun, um unseren Anteil an
den 1,5 Grad zu leisten. Aber das globale Limit von 1,5 Grad Erderwärmung
ist überhaupt nur weltweit und gemeinsam zu erreichen. Es wäre nicht
hilfreich, zu suggerieren, wir deutschen Grünen könnten das allein. Und wir
können als politische Partei eh nicht nur Ziele formulieren. Kern von
Politik ist auch, die Mittel zu beschreiben. Die Klimabewegung hat einen
anderen Ansatz, sie trägt Politik auf die Straße. Unser Job ist es, zu
zeigen, wie es gehen kann. Vor einem Jahr haben wir daher detailliert auf
37 Seiten konkrete Vorschläge gemacht.
Aber das reicht nicht für das 1,5-Grad-Ziel.
Das stimmt. Deswegen betone ich ja: Dazu kommen wir nur, wenn wir auch
international handeln. Zur Ehrlichkeit gehört zudem noch, dass es
zusätzlich Technologiesprünge braucht. Deshalb haben sich die
Industriestaaten verpflichtet, die Schwellen- und Entwicklungsländer mit
100 Milliarden Dollar jährlich zu unterstützen, damit diese gleich den
Sprung in saubere Technologien schaffen. Und ja klar, ich würde auch gern
sagen: In fünf Jahren steigen wir in Deutschland aus allen fossilen
Rohstoffen aus. Aber das würde bedeuten, dass etliche Haushalte und
Unternehmen keinen Strom mehr haben. Das geht nicht.
Ein anderer Vorwurf aus der Bewegung lautet, dass sich nichts ändert, wenn
die Grünen an der Macht sind. Bestes Beispiel: Eine Landesregierung mit
grüner Beteiligung fällt den Dannenröder Wald für eine überflüssige
Autobahn.
Ja, dieses Stück Autobahn im Dannenröder Wald schmerzt uns. Aber wir leben
in einem Rechtsstaat. Da muss sich jede Regierung an geltendes Recht
halten. Wo dieses Recht den Klimazielen entgegensteht, muss man es ändern.
Das kann man in einer Demokratie nur mit Mehrheiten. Deshalb kämpfen wir
darum, demnächst im Bund stark genug zu sein, um den Bundesverkehrswegeplan
grundlegend zu ändern.
Die Aktivist*innen sagen: Die Grünen in Hessen hätten sich stärker
wehren müssen.
Ich kann dieses Gefühl verstehen: Man muss doch alles tun. Aber mit dem
Gefühl allein komme ich als Politikerin nicht weiter. Ich muss auch sagen:
Wie willst du das tun? Und die hessischen Grünen haben das alles ganz genau
geprüft, der Rechtsweg ist ausgeschöpft. Nur noch die Bundesregierung,
namentlich Herr Scheuer, als Auftraggeber hätte im Herbst den Bau noch
stoppen können.
Aus Enttäuschung über die Grünen wollen einige Aktivist*innen jetzt auf
eigenen Klimalisten antreten. Fürchten Sie, dass sie Ihnen die am Ende
entscheidenden Prozente klauen werden?
Nein. Im Gegenteil: Eine aktive Zivilgesellschaft ist wichtig für eine
Demokratie, und Reibung erzeugt auch immer wieder neue Kraft. Ich glaube,
dass uns der Diskurs mit der Klimabewegung weiterbringt. Aber am Ende
werden Gesetze dann durch parlamentarische Mehrheiten geändert. Deswegen
streite ich für starke Bündnisgrüne in den Parlamenten und werbe auch in
der Klimabewegung dafür.
Wenn Sie dieses Ziel erreicht haben: Was wären denn Ihre klimapolitischen
Mindestanforderungen an einen Koalitionsvertrag?
Die gesamte Politik der nächsten Bundesregierung muss sich auf
Klimaneutralität ausrichten, in allen Ressorts, zentral von der nächsten
Kanzlerin oder dem nächsten Kanzler gesteuert. Und wir müssen schneller
werden, begonnen beim Kohleausstieg.
Bis wann?
Wir können das jetzt gern durchgehen, aber klar, ich führe hier jetzt keine
vorweggenommenen Koalitionsverhandlungen. Wofür wir streiten ist:
Kohleausstieg bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Außerdem brauchen wir ein
Tempolimit von 130 Kilometer pro Stunde. Und spätestens ab 2030 nur noch
die Neuzulassung neuer emissionsfreier Autos.
Und ein Moratorium für den Neubau von Autobahnen?
Was ich vorgeschlagen habe, ist: Nächstes Jahr muss der
Bundesverkehrswegeplan ohnehin überprüft werden. Da müssen alle Neubauten
von Autobahnen und die ihnen zugrunde liegenden alten Verkehrsprognosen auf
den Prüfstand, das Geld sollte umgeschichtet werden – zugunsten der
Schiene. Im letzten Jahr sind fast 200 Kilometer Bundesfernstraßen und 6
Kilometer Schienen neu gebaut worden. Dieses Verhältnis müssen wir
umkehren.
Wollen Sie Kurzstreckenflüge verbieten?
Wir wollen sie durch den Ausbau der Bahn erübrigen. Wenn es eine schnelle
Zugverbindung von Berlin nach Saarbrücken gäbe, würden die Menschen diese
Strecke nicht mehr fliegen. Wir müssen Alternativen schaffen und Geld dafür
mobilisieren.
Was soll mit Ölheizungen passieren?
Wir sagen, von jetzt an keine neuen Ölheizungen.
Sie planen auch Einschnitte in der Landwirtschaft.
Ja, alle Sektoren müssen liefern. Die Agrarsubventionen müssen sich am
Gemeinwohl orientieren, nicht mehr an der Fläche. Bäuerinnen und Bauern
sollten mit Klimaschutz Geld verdienen können. Und ja: Wir sollten die
Tierbestände sehr deutlich reduzieren und damit auch die Fleischproduktion.
Das Ganze geht über eine flächengebundene Tierhaltung. Das bedeutet zum
Beispiel, dass 2030 nur noch 2 Kühe pro Hektar gehalten werden dürfen.
Was ist eigentlich aus dem Veggie-Day geworden? Diese Forderung von 2010
ist verschwunden, obwohl wir wegen der Klimaneutralität eher fünf statt
einem vegetarischen Tag pro Woche bräuchten. Trauen Sie sich da nicht mehr
ran?
Im Gegenteil. Heute ist vegetarisches Essen in Kantinen doch oft Standard.
Der Punkt ist aber: Wir müssen das Angebot, was produziert wird, ändern.
Angefangen bei einer klaren Kennzeichnung und Vorgaben bei der Tierhaltung,
damit gutes und nachhaltiges Fleisch auf die Teller kommt. Jeder soll
Fleisch essen, wann er möchte, aber Umwelt, Klima und Tiere müssen geschont
werden.
Ganz schön viele Restriktionen. Fürchten Sie noch den Vorwurf, die Grünen
seien eine Verbotspartei?
Der Vorwurf der Verbotspartei hat mich nie getroffen. Ob in der Familie, im
Fußballverein oder in der Gesellschaft insgesamt: Überall gibt es klare
Regeln, was erlaubt ist. Manches muss man auch verbieten. Und Verbote
können sehr positive Folgen haben: Das Aus für Ölheizungen wird zu einem
Technologieschub bei erneuerbaren Heizsystemen führen. Wer heute noch nicht
begriffen hat, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland den Bach
runtergeht, wenn nicht alle Bereiche klimaneutral werden, kann in einem
führenden Unternehmen oder in der Politik keine Verantwortung tragen.
Dann werden Sie wohl eine absolute Mehrheit brauchen. Oder haben Sie das
Gefühl, dass das in Union und SPD alle so sehen?
Eine absolute Mehrheit wäre natürlich das Beste, aber 50 Prozent werden es
bei der Bundestagswahl für uns eher nicht werden, auch da bin ich
Realistin. Deshalb arbeite ich daran, dass wir stärkste Fraktion werden.
Die Union macht aus meiner Sicht im Moment wirklich viel falsch. 1990 haben
wir als Partei den historischen Moment der deutschen Wiedervereinigung
verpasst. Jetzt sind es CDU und CSU, die den historischen Moment nicht
erkennen, dass wir klimapolitisch umsteuern müssen, nicht nur aus
Umweltgründen, sondern gerade auch aus industriepolitischen Gründen. Das
halte ich für eine so große, alte Wirtschaftspartei für fatal. Auch deshalb
sage ich: Die Union hat kein Abo aufs Kanzlerinnenamt.
Sie sagen Kanzlerinnenamt. Gehen Sie von einer weiblichen Regierungschefin
aus? Oder hat das Wort ein Sternchen vor dem i?
Das hat ein Sternchen. Auch da sind wir auf der Höhe der Zeit.
12 Dec 2020
## LINKS
[1] /Weltklimaabkommen-in-Paris/!5261247
[2] /Fridays-for-Future-und-die-Gruenen/!5727724
[3] /Klimaziele-und-Wirtschaftswachstum/!5718595
## AUTOREN
Malte Kreutzfeldt
Bernhard Pötter
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