| # taz.de -- Ausblick auf das Wahljahr 2021: Schwarz-Grün kommt | |
| > Mit Union und Grünen würden sich altes und neues Bürgertum verbünden. | |
| > Alles deutet darauf hin – fast alles. | |
| Bild: Schwarz-Grün hat ein kompaktes politisches Projekt: den ökologischen Um… | |
| Die Republik wird, wenn kein Wunder passiert, bald von Schwarz-Grün | |
| regiert. In Parteizentralen, bei den Umfrageinstituten und unter den | |
| professionellen PolitikbeobachterInnen zweifelt daran kaum jemand. Der | |
| Grünen-Spitze ist das äußerst unlieb: Die Grünen möchten im Wahlkampf ja | |
| als energischer Angreifer wahrgenommen werden. | |
| Dass die Kompromisspapiere mit CDU und CSU, die den Weg in Ministersessel | |
| bahnen werden, schon halb fertig sind, wirkt da doch etwas hemmend. | |
| Außerdem fremdelt ein Teil der Grünen-Kernklientel noch immer bei der | |
| Vorstellung, mit Horst Seehofer und Andi Scheuer zu regieren. Aber die | |
| Schwarz-Grün-Dementi von Robert Habeck und Annalena Baerbock klingen | |
| mittlerweile müde. Es wissen ja sowieso alle. | |
| Es gibt ein paar Gründe, die dieses Bündnis naheliegend, logisch, fast | |
| zwingend erscheinen lassen. Politisch ist es eine verlockende Erzählung, | |
| kulturell eine Art letzte Selbstversöhnungsgeste des Bürgertums und | |
| gesellschaftlich ein neues Bündnis. | |
| Schwarz-Grün hat ein kompaktes politisches Projekt: den ökologischen Umbau | |
| der Industriegesellschaft. Das klingt wie ein Evergreen aus fast allen | |
| Parteiprogrammen der letzten 30 Jahre, ist aber mehr. Seit der Klimawandel | |
| überall spürbar ist, hat die Wirtschaft begriffen, dass der Kapitalismus | |
| grüner werden muss, wenn man in Zukunft Geschäfte machen will. | |
| Diese Botschaft ist, wenn auch spät, in vielen Konzernzentralen angekommen. | |
| Die Grünen wollen schon länger nicht gegen, sondern zusammen mit dem | |
| Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und den Wirtschaftseliten | |
| Stahlwerke und Autoindustrie umbauen. Das politische Pendant zum Bündnis | |
| mit den Konzernen ist Schwarz-Grün, was auch perfekt zur deutschen Neigung | |
| zum Konsens passt. | |
| Schwarz-Grün ist ein attraktives doppeltes Versprechen, die Fusion der | |
| verträglich portionierten Moral der [1][Baerbock-Rhetorik] mit dem | |
| erprobten, handfesten unternehmernahen Pragmatismus der Union. Die | |
| Regierung kümmert sich endlich mal ernsthaft um Klima und Öko, aber | |
| eigentlich bleibt alles, wie es ist – da ist auf den Wirtschaftsflügel der | |
| Union Verlass. Man wählt moralisch einwandfrei, ohne dass konkreter | |
| Verzicht droht. | |
| Die wechselseitigen Erzählungen von Union und Grünen passen mittlerweile | |
| bestens zueinander. Die Union hat, so sieht sie es, zugeschaut, wie die | |
| Rebellen von vorgestern politisch erwachsen und vernünftig geworden sind. | |
| Die Grünen wiederum halten es für ihr Verdienst, den verstockten | |
| Konservativismus der Union durchgelüftet zu haben. | |
| Wo früher beinharte weltanschauliche, politische Gegensätze waren, sind | |
| heute komplementäre Erzählungen, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Die | |
| Grünen haben den Plan für eine bessere Zukunft – die Union, programmatisch | |
| stets anspruchslos und derzeit besonders ideenarm, spielt ihre klassische | |
| Rolle als konservative Kraft, die den Wandel verlangsamt. | |
| Schwarz-Grün wäre als Symbol die finale Beglaubigung der | |
| intergenerationellen Selbstversöhnung des deutschen Bürgertums – der | |
| Post-68er und der Protestgeneration mit den Enkeln von Adenauer und Kohl. | |
| Der bundesdeutsche Familienroman mit dem Schlüsseljahr 1968 hat im Laufe | |
| der Jahre seine Prägekraft verloren und ist bis zur Unkenntlichkeit | |
| ausgewaschen. Doch als Bilder und Images funktionieren diese Muster noch | |
| immer. Der lässige, intellektuelle, etwas schluffige Robert Habeck ist eine | |
| ideale Kontrastfigur zu den routinierten Polittechnokraten in der Union vom | |
| Typus Altmaier und Brinkhaus. | |
| Schwarz-Grün ist eben noch immer ein kleines bisschen anders als eine Große | |
| Koalition. Es verströmt den Charme des Neuen, Ungewöhnlichen. Dabei sind | |
| die Grünen längst eine normale, liberale, stromlinienförmige und extrem | |
| disziplinierte Partei. Das Ex-Alternative und Lockere ist eher Teil der | |
| Marketingstrategie. Die harten Flügelkämpfe und die Teilung der Partei in | |
| Realos und Regierungslinke sind nur noch Folklore. Die Grünen wollen nach | |
| 16 Jahren an die Macht. Die linken Grünen heben beim Modell Schwarz-Grün | |
| pflichtgemäß noch mal die Augenbraue, haben aber nicht nur mangels | |
| Alternative längst nichts mehr dagegen. | |
| Gesellschaftlich wäre Schwarz-Grün eine Koalition von neuem und altem | |
| Bürgertum – von akademischem Mittelbau in den urbanen Zentren und dem | |
| Handwerksmeister in der Provinz. Die Grünen repräsentieren das | |
| Neobürgertum, das im öffentlichen Dienst oder an Unis arbeitet und in | |
| schicken Altbauten mit Authentizitätsversprechen wohnt. | |
| Das Ausbildungsniveau ist hoch, die Gehälter sind es meistens, aber nicht | |
| immer. Der verbindende Kitt dieses Milieus ist weniger das Bewusstsein, zum | |
| Besitzbürgertum zu gehören, als der Anspruch auf Selbstverwirklichung. So | |
| ist dieses Milieu im Wissenskapitalismus zur kulturell prägenden Klasse | |
| aufgestiegen, die definiert, was als gutes Leben gilt. Die Union wird | |
| hingegen noch immer mehr von Nichtakademikern gewählt, von Männern in der | |
| Provinz, von Familien, die in einem Vorstadtreihenhaus zur Miete wohnen und | |
| lieber eine Kreuzfahrt im Mittelmeer machen als ganz individuellen | |
| Wanderurlaub in Nordnorwegen. | |
| ## Instagram-Performer und Volksmusikfans | |
| Sachsen-Anhalt hat wie ein Blitzlicht erhellt, dass neben der liberalen | |
| Großstadt-Union, deren Lebenspraxis von dem grünen Milieu kaum zu | |
| unterscheiden ist, ein bedeutender Teil der Klientel auf Ordnung setzt und | |
| sich von Selbstverwirklichungskultur und Wissenskapitalismus bedroht fühlt. | |
| Plakativ gesprochen wäre Schwarz-Grün die Koalition von | |
| Instagram-Performern und Volksmusikfans, von Biosupermarkt und Edeka, von | |
| Linksliberalen und Kulturkonservativen. Die amtierende Groko verarbeitet | |
| die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit zu Kompromissformeln. | |
| Schwarz-Grün würde – im besten Fall – die Widersprüche zwischen | |
| stilprägendem urbanem Neobürgertum und konservativer Provinz austarieren. | |
| Wie explosiv diese soziokulturellen Spaltungen sind, kann man nicht nur in | |
| den USA beobachten. | |
| Keine Illusionen sollte man sich über die Durchschlagskraft der Grünen | |
| machen. Die Union ist eine kampferprobte Verhinderungsmaschine. Die SPD | |
| beherrscht als Juniorpartner den Kleinkrieg gegen den trägen | |
| Strukturkonservativismus der CDU/CSU recht professionell, wie zuletzt die | |
| zäh errungene Regulierung in der [2][Fleischindustrie] zeigte. | |
| Die Grünen werden sich sowieso auf ihr Kernprojekt Klimaschutz fokussieren. | |
| Ansonsten sind sie über die Maßen dehnbar: Die Blaupause dafür lieferten | |
| die Grünen in Hessen die contre cœur und aus Regierungsdisziplin gegen | |
| einen NSU-Untersuchungsausschuss stimmten. In Koalitionsverhandlungen | |
| werden Umverteilung und Vermögenssteuer im Papierkorb landen, noch bevor | |
| sich Robert Habeck an den Verhandlungstisch gesetzt hat, rasch gefolgt von | |
| Hartz-IV-Erhöhungen und Ähnlichem. Die Unterschicht, auf die sich die SPD | |
| zumindest gelegentlich besinnt, wird in dem schwarz-grünen Bürgerbündnis | |
| schlicht nicht vorkommen. | |
| ## Störfaktor Merz | |
| Eine grün-rot-rote Regierung wäre erfreulich, weil sie den ökologischen | |
| Umbau kraftvoll betreiben und mit moderatem sozialem Ausgleich verbinden | |
| könnte. Allerdings sprechen, abgesehen von der derzeit fehlenden Mehrheit, | |
| drei nicht ganz unwichtige Gründe gegen ein Mitte-links-Bündnis. Erstens | |
| die Linkspartei, die sich von ihren Fundis nicht trennen kann. Zweitens die | |
| SPD, die zwar nicht mehr Nein sagt, sondern wolkig vielleicht, aber | |
| meilenweit von der Erkenntnis entfernt ist, dass sie dieses Bündnis im | |
| eigenen Interesse organisieren müsste. Und drittens die Grünen, die andere | |
| Pläne haben. | |
| Also Schwarz-Grün? Ob Markus Söder oder Norbert Röttgen, Armin Laschet oder | |
| doch noch Jens Spahn [3][CDU-Kanzlerkandidat] wird, macht da keinen | |
| substanziellen Unterschied. Anders sieht das aus, wenn die CDU eigensinnig | |
| genug ist, demnächst Friedrich Merz zum Chef zu wählen. Denn damit würde | |
| ein schwer kalkulierbarer Störfaktor in dem harmonischen schwarz-grünen | |
| Bild auftauchen. | |
| Merz ist ein aggressiver Neoliberaler und Konservativer, dem zu Schwulen | |
| irgendwie als Erstes Sex mit Kindern einfällt und zur Armut in Deutschland, | |
| dass Merkel eine Million Migranten ins Land holte, die uns auf der Tasche | |
| liegen. Er will es meist nicht so gemeint haben und erklärt sich eloquent | |
| zum Opfer missgünstiger linker Konkurrenz, die ihn missverstehen will. Das | |
| erinnert an das Doppelspiel der AfD, die diskursive Grenzen verschiebt, um | |
| danach zu beteuern, alles anders gemeint zu haben. | |
| Merz ist kein Trump, wie manche vorschnell schrieben, als der Sauerländer | |
| gegen das eigene Parteiestablishment wütete. Er steht für einen Populismus | |
| light und einen politischen Stil, der das exakte Gegenteil von dem Angela | |
| Merkels ist. Die sagt fast nie ich, Merz hingegen dauernd. Merz würde die | |
| CDU zwar nicht zu einer „Liste Merz“ degradieren, wie es Sebastian Kurz in | |
| Österreich mit der ÖVP gemacht hat. Dazu ist die Union noch zu robust und | |
| nicht kaputt genug. | |
| Doch mit Merz würde sich die Union vom Prinzip der Machtausübung durch | |
| Moderation und von der unauffälligen Drosselung der politischen | |
| Leidenschaften verabschieden, die sie seit 15 Jahren so perfekt betreibt. | |
| Merz verkörpert polternde Egozentrik, er polarisiert und arbeitet im | |
| politischen Alltagsgeschäft mit wuchtigen Provokationen, die noch nicht mal | |
| taktisch kalkuliert wirken. Sie fallen ihm einfach so ein. Mit diesem | |
| Habitus werden die Grünen – freundlich, mittig, immer sehr vernünftig – | |
| echte Schwierigkeiten bekommen und dabei womöglich sogar an die Grenze | |
| ihrer schier endlosen Kompromissbereitschaft stoßen. | |
| Kurzum, Merz kann 2021 zum Gamechanger werden. Wählt die CDU ihn, ist das | |
| politische Spiel wieder offen. Für alles. Sogar für Unvorstellbares wie | |
| eine Mitte-links-Regierung. | |
| 19 Dec 2020 | |
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| Stefan Reinecke | |
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