# taz.de -- Gesundes Essen: „Heute regieren Dogmen“ | |
> Für unsere Vorstellungen davon, was gesund ist und was nicht, gibt es | |
> kaum wissenschaftliche Belege, sagt der Molekularphysiker Thomas Vilgis. | |
Bild: Offenbar hat es geschmeckt, das selbstgekochte Essen | |
taz am wochenende: Herr Vilgis, seit Jahren [1][erklären Sie], was | |
physikalisch passiert, wenn wir kochen – und wie man dieses Wissen | |
einsetzt. Nun haben Sie ein Buch geschrieben, das sich mit Ernährung | |
auseinandersetzt. | |
Thomas Vilgis: Ich fand es wichtig, einmal mit dem Blick eines | |
Naturwissenschaftlers darauf zu schauen, welche Wirkung Nahrungsmittel auf | |
den Körper haben. | |
Das Buch heißt „Einfach Essen“. Der Untertitel ist sehr politisch: „Gegen | |
den Ernährungswahn in unseren Köpfen“. Was meinen Sie damit? | |
Früher regierten beim Essen Geschmäcker und persönliche Vorlieben. Heute | |
sind es Ernährungsvorstellungen, die sich immer mehr zu Dogmen entwickeln. | |
Sehen Sie sich Phänomene wie Superfood an oder die Art, wie Zucker oder | |
Weizen verteufelt werden. Es sind da Meinungsschleifen entstanden, | |
Spiralen, die sich immer weiter verstärken. Mich erinnert da einiges ans | |
Mittelalter. Damals wurden Hexen verbrannt, aber es wurde nie gefragt, ob | |
Hexen überhaupt real existieren. | |
Heute geht es um das richtige oder falsche, vor allem aber das „gesunde | |
Essen“. | |
Aus naturwissenschaftlicher Sicht lässt sich das nicht definieren. Was wir | |
heute dem Essen zuschreiben und davon erwarten, wird seiner eigentlichen | |
Grundfunktion nicht mehr gerecht, nämlich dass es uns nährt und wärmt und | |
die Physiologie am Laufen hält. Das haben viele völlig vergessen. Dabei | |
kann der Homo sapiens im Laufe der Evolution nicht so viel falsch gemacht | |
haben. | |
Was meinen Sie damit? | |
Wir blicken auf etwa mehrere Millionen Jahre Menschheitsgeschichte, in der | |
wir nicht nur zu essen gelernt haben, was uns guttut – vielmehr hat sich | |
eine Art der Ernährung entwickelt, die uns zu Menschen hat werden lassen. | |
Weil wir Methoden gefunden haben, den Energieeintrag unserer Nahrung zu | |
erhöhen und nicht mehr ständig auf Futtersuche gehen mussten. Deswegen | |
hatten Hominiden auf einmal Zeit und Muße für anderes. Es entwickelten sich | |
Sprache, Kultur, Zivilisation. Wichtig war dafür natürlich die Entdeckung | |
des Feuers. Denn um gekochte Nahrung zu verdauen, braucht der Körper viel | |
weniger Energie als für rohe Lebensmittel. Aber es begann noch früher: Mit | |
der Entdeckung des Alkohols … | |
… der heute auch als Gift angesehen wird … | |
… was Alkohol auch ist, in zu hohen Dosen. Damals veränderte sich die DNA | |
mancher Affen. Sie entwickelten ein Enzym, das in der Lage war, Ethanol zu | |
verdauen, der von wilden Hefen produziert wurde, die sich auf den Früchten | |
niederließen und die Zucker vergärten. Wird aus Zucker Ethanol, wird er | |
nahrhafter. Er reicht, was die Kalorien angeht, fast an Fett heran. Die | |
Hominiden hatten so ein neues, sehr energiereiches Nahrungsmittel gefunden, | |
übrigens zwei bis drei Millionen Jahre vor der Entdeckung des Feuers. | |
Wie gut der Mensch sich an das Nahrungsangebot angepasst hat, beschreiben | |
Sie in Ihrem Buch. Wann hatten Sie das Gefühl, dass das verloren geht? | |
Ein Anlass, dieses Buch zu schreiben, war die Debatte über Acrylamid. Das | |
war vor rund zwanzig Jahren … | |
… auf einmal galten zu dunkle Pommes oder Pizza als krebserregend … | |
… und seit 2018 gilt eine Acrylamidverordnung, die etwa der Gastronomie | |
vorschreibt, nicht über 175 Grad heiß zu frittieren. | |
Aber gibt es nicht Studien, die das Risiko nachweisen? | |
Es war eine Studie, die das Ganze ins Rollen brachte. Ein Tierversuch mit | |
14 Laborratten, die ein standardisiertes Futter bekamen – kleine Würstchen, | |
speziell zusammengestellt. Ein Teil davon wurde dunkel gebraten, | |
eingeweicht und wieder in Würstchenform gepresst. Über ein paar Wochen | |
bekam der eine Teil der Ratten diese verbrannten Würstchen, der andere das | |
normale Futter. Die betroffenen Tiere zeigten anschließend keine Karzinome | |
– lediglich erhöhte Werte der Abbauprodukte des Acrylamid, die als | |
krebserregend gelten. | |
Und daraus lässt sich nichts ableiten? | |
Wenn man die Ergebnisse auf den Menschen übertragen will und dabei | |
einrechnet, dass der Mensch eine viel höhere Lebenserwartung hat, müsste | |
man die Probanden über Jahre einsperren, damit sie keinen Kontakt zu | |
anderen Lebensmitteln haben, und dem einen Teil normale Kartoffeln | |
hinstellen, dem anderen Bratkartoffeln. Dann vielleicht ergäben sich | |
ähnliche Ergebnisse. | |
Sie halten die Studie für unseriös? | |
Die Ergebnisse der Studie bleiben im Kern wahr. Ich kritisiere, was daraus | |
gefolgert wird. Und dass in den Wind geschlagen wird, dass Menschen seit | |
mindestens 500.000 Jahren Lebensmittel über Feuer halten. Denen war es die | |
meiste Zeit egal, ob das Essen verbrannt war. Seltsamerweise wird viel | |
seltener darüber berichtet, dass das Rösten auch gute Seiten hat. Die | |
Maillard-Reaktion bringt antioxidativ wirkende Substanzen hervor. Die | |
bekannteste ist Pronyl-Lysin. Es entsteht beim Rösten so unvermeidlich wie | |
Acrylamid. | |
Wofür plädieren Sie? | |
Es hat keinen Sinn, einzelne Lebensmittel als Ursache für Krankheiten zu | |
brandmarken, und genauso wenig, andere zu Medizin zu erklären. | |
Aber das ist ja nicht alles reine Fantasie. Es gibt immer wieder Studien, | |
die so interpretiert werden. | |
Viele Studien sind assoziative Beobachtungsstudien, die auf Korrelationen | |
achten. Ich bin Molekularphysiker und frage nach Kausalitäten. Ich finde, | |
es ist weit vernünftiger, Ernährungsfragen auch von den molekularen | |
Zusammenhängen her zu denken. | |
Was meinen Sie damit? | |
Alle Nährstoffe sind schlichte Moleküle mit ganz bestimmten Aufgaben. Da | |
sie von Pflanzen und Tieren stammen, dienen sie vor allem dem Stoffwechsel | |
und Überleben dieser Organismen. Sie sind primär nicht für den Menschen da. | |
Je besser sie sich mit der menschlichen Physiologie vertragen – und oft | |
sind das tierische Nährstoffe eher als pflanzliche –, desto mehr kann unser | |
Körper damit etwas anfangen. Mediziner und Ernährungswissenschaftler | |
sollten die physischen und chemischen Prozesse, die vorgeschaltet sind, | |
stärker in den Blick nehmen. | |
Sie meinen die Abläufe, bevor diese Nährstoffe direkt im Körper wirken, | |
also sowohl die Lebensmittelzubereitung als auch, was vorher in Magen und | |
Darm mit ihnen passiert. | |
Exakt. Natürlich wird das auch schon beobachtet, gerade das Mikrobiom im | |
Darm. Aber das besteht aus Billionen von Bakterien, Hefestämmen und Viren, | |
und nur ein sehr geringer Teil dieser Organismen ist bisher überhaupt | |
bekannt. Zudem haben alle Menschen eine völlig unterschiedliche | |
Zusammensetzung. Und da hört es dann schon auf mit allgemeinen | |
Ernährungsempfehlungen. Alles, was Menschen essen, wird anders | |
verstoffwechselt und kommt anders im Körper an. | |
Kann man da noch Ernährungsempfehlungen geben? | |
Ja und sie klingt banal: [2][selbst kochen!] Mit frischen Zutaten, | |
vielfältig und ohne hochprozessierte Produkte aus der Industrie. Das ist | |
die beste Art der Kontrolle, die vernünftigste Form – und ich nehme den | |
Begriff in den Mund – die gesündeste Art der Ernährung. | |
12 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kochtrend-Foodpairing/!5432513 | |
[2] /Kochen/!t5008829 | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
## TAGS | |
IG | |
Ernährung | |
Essen | |
Pariser Abkommen | |
Landwirtschaft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Annalena Baerbock über Kanzler*innenamt: „Manches muss man auch verbieten“ | |
Die Grünen-Chefin über klare Regeln im Klimaschutz, Vorwürfe gegen die | |
Grünen von Fridays for Future und das Kanzlerinnenamt. | |
Demo gegen Agrarindustrie: „Wir haben es satt“ nur in klein | |
Die Organisator*innen der „Wir haben es satt“-Demo in Berlin rufen nur | |
Menschen aus der Region zur physischen Teilnahme auf – wegen Corona. |