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# taz.de -- Fridays for Future und die Grünen: Die Gradwanderung
> Fridays for Future wirft den Grünen Halbherzigkeit im Kampf gegen die
> Erderhitzung vor. Wie gefährlich ist das für die Ökopartei?
Bild: Grünen-Chef Robert Habeck im Gespräch mit Fridays for Future am 28. Okt…
Die Parkbank an der Spree ist noch feucht vom letzten Regenschauer. Luisa
Neubauer lehnt sich vorsichtig zurück. Dann legt sie los: „Die Grünen
kommen mir, vorsichtig gesagt, etwas panisch vor.“ Das sei zunächst
verständlich. Die Partei habe mehrmals die Erfahrung gemacht, kurz vor
einer Bundestagswahl einige Prozente zu verlieren, weil sie zu viel Öko
wollten.
Eine Sekunde Pause, Neubauer nimmt einen Schluck Tannenzäpfle. „Die Formel
hat sich in ihre Köpfe eingebrannt: Viel Klima heißt weniger Stimmen. Sie
denken, Fridays for Future tasten ihre heiligen 20 Prozent an.“ Neubauer
ist das prominente Gesicht der jungen Klimaschutzbewegung, die mit ihren
Protesten die Klimakrise ins Bewusstsein der Deutschen gebracht hat. Vor
ihr fließt schwarz die Spree, ein hell erleuchtetes Redaktionsschiff fährt
vorbei.
Je länger man sich mit Neubauer an diesem Donnerstagabend unterhält, desto
stärker wird der Eindruck: Zwischen der Bewegung und den Grünen ist eine
tiefe Kluft entstanden, die sich kaum noch überbrücken lässt. [1][Nicht nur
angesichts des Kampfes um den Dannenröder Wald], der teilweise für ein
Autobahnstück gerodet werden soll, zeigt sich: Fridays for Future (FFF)
hält die Grünen für nicht radikal genug. Diese wiederum sind von den
Attacken schwer genervt, weil andere Parteien noch weniger für Klimaschutz
tun.
Hält man Neubauer dieses Argument vor, lacht sie. FFF wende sich nun mal an
die Partei, von der die Bewegung wisse, dass sie ökologischen Sachverstand
habe. „Wer geht schließlich noch hoffnungsvoll zu Andi Scheuer und
versucht, ihn davon abzubringen, Autobahnen zu bauen?“, fragt sie. „Das ist
doch eine absurde Vorstellung.“ Wenn die Grünen keine Politik anböten, die
mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel sei, „wo sollen wir denn sonst
anfangen?“.
Neubauer, selbst Grünen-Mitglied, macht der Partei den schlimmsten Vorwurf,
den man einer ökologisch orientierten Partei machen kann. Er lautet: Ihr
habt keinen Plan für das ehrgeizige 1,5-Grad-Ziel. Ihr tut vielleicht grün,
seid es aber nicht wirklich.
Stimmt das? Nehmen selbst die Grünen die Klimakrise nicht ernst genug? Die
Antwort auf diese Frage ist vielschichtig.
Da wäre zunächst das Pariser Klimaschutzabkommen selbst, das im Dezember
2015 von 196 Staaten unterzeichnet wurde. Auf FFF-Demonstrationen wird oft
so getan, als fordere der Vertrag, die Erderhitzung bis 2100 bei 1,5 Grad
zu stoppen. Das ist aber nicht korrekt. In dem Abkommen haben sich die
Staaten darauf geeinigt, „den Temperaturanstieg deutlich unter 2 Grad
Celsius zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg auf 1,5
Grad zu begrenzen.“ Es gibt also einen Korridor vor, keine fixe Marke. Auf
diesen Korridor beziehen sich die Grünen bisher in ihren Beschlüssen.
Auch die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck schrieben
eine solche Formulierung in ihren Entwurf für das Grundsatzprogramm. Aber
sie sorgt für Streit, Teilen der Basis reicht sie nicht mehr. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft Energie warb dafür, sich an dem 1,5-Grad-Ziel zu
orientieren. In dem innerparteilichen Thinktank sitzen Basisgrüne, die sich
sehr gut mit Klimaschutz auskennen. Tagelang wurde über die richtige
Formulierung verhandelt.
Am Samstag wird nun über zwei Varianten abgestimmt, eine zahmere und eine
härtere. Die zahme wird vom Bundesvorstand präferiert und ist eine
Tatsachenbeschreibung, keine Selbstverpflichtung. Sie lautet: „Um auf den
1,5-Grad-Pfad zu kommen, ist unmittelbares und substanzielles Handeln in
den nächsten Jahren entscheidend.“ Ein Mitglied aus dem Kreisverband
Mannheim will die harte Variante durchsetzen: „Für uns ist daher das
1,5-Grad-Ziel Maßgabe unserer Politik.“
Beschließt die Grünen-Basis diese Variante, wäre das nicht nur eine
Brüskierung des Vorstands, sondern auch ein Bekenntnis mit unabsehbaren
Folgen. Als potenzielle Regierungspartei hätten sich die Grünen in eine
schwierige Lage manövriert. Wichtige Grüne ahnen, dass ihnen unangenehme
Fragen gestellt würden. Stehen die Grünen noch zu Paris – oder suchen sie
sich aus einem völkerrechtlich bindenden Abkommen den Halbsatz heraus, der
ihnen am besten in den Kram passt?
Aber auch die zahme Variante ist unangenehm. Bietet sie doch den jungen
KlimaschutzaktivistInnen einen neuen Beleg für die Zahnlosigkeit der
Grünen.
Die Grünen-Spitze ist alarmiert. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner
appellierte am Freitag auf taz-Anfrage fast flehentlich an die Basis: „Wenn
wir jetzt anfangen, die Pariser Ziele umzuformulieren, schwächen wir das
Pariser Klimaabkommen – und damit den gemeinsamen Kampf für Klimaschutz.
Die Zeit drängt, wir müssen ins Machen kommen.“
Oft sind Grünen-Parteitage sorgfältig orchestrierte Events ohne relevante
Entscheidungen, aber dieses Mal geht es um etwas. Die jungen
KlimaaktivistInnen haben ja recht damit, dass der Unterschied zwischen 1,5
und 2 Grad riesig ist. „Jedes Zehntelgrad mehr kostet Hunderttausende
Menschenleben“, sagt Luisa Neubauer an der Spree. „Mit welchem
Selbstverständnis sollte man nicht auf das ehrgeizigste Ziel hinwirken,
wissend, dass die Folgen sonst fürchterlich sind?“
Aber lässt sich das 1,5-Grad-Ziel überhaupt in politisches Handeln
umsetzen?
Das Dokument, das den Grünen schwer im Magen liegt, hat 115 Seiten und
wiegt 596 Gramm: [2][„CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen
Beitrags zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze“ ist der Titel des Gutachtens,
mit dem Fridays for Future die Grünen seit Oktober vor sich hertreibt.]
Darin hat das Wuppertal Institut aufgelistet, was in den nächsten Jahren
passieren müsste, um den deutschen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel zu leisten.
Schluss mit innerdeutschen Flügen, Halbierung des Autoverkehrs, das
Vierfache an Häusern energetisch sanieren, vier- bis fünfmal so viele
Windparks bauen wie bisher, Verbot von Ölheizungen, ein CO2-Preis, der
„perspektivisch“ bei 180 Euro pro Tonne liegt, statt bei 55 Euro, die für
2025 geplant sind. Eine Liste der Grausamkeiten für eine Partei, die sich
darauf vorbereitet, ab 2021 in der Bundesregierung zu sitzen.
In der Debatte um den Dannenröder Wald fordert ein offener Brief „die grüne
Partei auf, grüne Politik zu machen“. Das Schreiben vom Bund Deutscher
Pfadfinder_innen Hessen warnt, nur ein Baustopp könne „das kleinste
bisschen Glaubwürdigkeit wahren“, wollten die Bündnisgrünen „nicht kompl…
das Gesicht […] verlieren“. [3][Die Unzufriedenheit ist so groß, dass sich
überall in der Republik Klimalisten für anstehende Wahlen gründen] – in
Baden-Württemberg will eine solche Liste im März gegen den grünen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann antreten.
Kretschmann, der wiedergewählt werden will, hält die dunkelgrüne Konkurrenz
für eine „ernste Angelegenheit“. Sie könnte entscheidende Prozentpunkte
kosten.
Die Grünen-Spitze fürchtet, sich mit einer radikalen und einseitigen
Auslegung des Pariser Klimaschutzabkommens angreifbar zu machen. Kellner
nennt die Tatsache, dass sich alle Staaten dazu verpflichtet hätten,
historisch. „Diese massive Anstrengung schaffen wir als Welt aber nur
gemeinsam, mit aller Kraft.“
Außerdem fühlen sich Grüne von der FFF-Kritik auch in ihrem Stolz gekränkt.
Sie nähmen die Klimakrise nicht ernst? Die Partei, der das Thema so wichtig
war, dass sie 1990 bei der Bundestagswahl plakatierte: „Alle reden von
Deutschland. Wir reden vom Wetter“ – und damit an der Fünfprozenthürde
scheiterte?
Auf dem Papier ist ihr Engagement nicht zu bestreiten. 37 Seiten hat der
Beschluss „Handeln – und zwar jetzt!“, den die Bundesdelegiertenkonferenz
2019 in Bielefeld verabschiedet hat. Da findet sich alles, was das Herz von
KlimaschützerInnen höher schlagen lässt: 100 Prozent Ökostrom im Jahr 2030,
schneller Kohleausstieg ab 2022, Tempolimit 130 auf Autobahnen, Ölheizungen
verbieten, ein Mix aus Gesetzen, Anreizen und CO2-Preisen, jedes Gesetz auf
seine Klimaverträglichkeit prüfen und vieles mehr. Grundlage des Handelns
für alle Ministerien soll das Pariser Abkommen sein. Fazit: „Was wir
brauchen, ist eine Klimaregierung.“
Beim Regieren fängt das Problem aber an. Seit 2005 sitzen die Grünen im
Bundestag in der Opposition. Die entscheidenden Fragen in den Bereichen
Energie, Bauen, Verkehr oder Landwirtschaft werden seit 15 Jahren ohne sie
getroffen. Die letzte klimapolitische Großtat der Grünen, gemeinsam mit der
SPD, war das „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ (EEG), das einen weltweiten Boom
von Wind- und Solaranlagen ausgelöst hat. Seitdem haben sie das EEG über
die Bundesländer geschützt und verbessert, aber waren ansonsten
größtenteils zum Zuschauen verurteilt. Grüne Spuren hinterließ vor allem
der Einzelkämpfer Rainer Baake, der als Staatssekretär mit
Grünen-Parteibuch im SPD-geführten Wirtschaftsministerium von Sigmar
Gabriel von 2014 bis 2018 die Energiewende vorantrieb.
Die Bundestagsfraktion war auch nicht untätig. Die Abgeordneten forderten
100 Prozent Erneuerbare und das Ende des Verbrennungsmotors, sie nervten
Parlament, Regierung und Öffentlichkeit mit Aktionen und Eingaben zum
Klimaschutz. 2013 stellten sie ein Klimaschutzgesetz für den Bund vor, aber
erst 2019 setzte die Koalition von CDU, CSU und SPD auf Druck von FFF ein
solches Gesetz um.
Sie hätten „getan, was man als Opposition so tut – die Debatten
angestoßen“, sagt ein Parteistratege. „Die Frage ist nicht: Tun wir genug?
Die Frage ist: Erreichen wir genug?“
Eine Machtposition baute sich die Partei über den Bundesrat auf –
inzwischen sitzen die Grünen in 11 von 16 Landesregierungen mit am Tisch.
Das führte Ende 2019 zu ihrem größten klimapolitischen Erfolg seit Langem:
Die von Grünen mitregierten Länder zwangen die Bundesregierung, den
CO2-Einstiegspreis beim innerdeutschen Emissionshandel für Verkehr und
Gebäude, der ab 2021 beginnt, von 10 auf 25 Euro pro Tonne anzuheben.
Die Verhandlungen führten für die Grünen Winfried Kretschmann und
Fraktionschef Anton Hofreiter, ein Ultrarealo und ein Linksgrüner.
Parteichefin Annalena Baerbock saß zu Hause in Potsdam und beriet die
beiden per Telefon. Es ist ein klassischer Kompromiss, wie er in den
komplexen Bund-Länder-Beziehungen üblich ist: 25 Euro sind mehr als 10,
aber aus Sicht von FFF viel zu wenig.
In den Ländern zeigt sich auch: Kommen die Grünen in die Regierung, setzen
sie das Klimathema auf die Agenda. Inzwischen haben 10 Länder ein eigenes
Gesetz, das den Klimaschutz regelt – in 7 davon setzten das die
Bündnisgrünen durch: von Hamburg 1997 über NRW, Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz, Bremen, Schleswig-Holstein bis Thüringen 2018. In Hessen
und Berlin übernahmen sie Klimagesetze, nur Bayern schaffte eine solche
Regelung ohne grüne Beteiligung.
Aber auch grüne Regierungen mit einem Klimagesetz kämpfen mit ihren Zielen:
Baden-Württemberg hat trotz seines grünen Ministerpräsidenten ein
Minderungsziel von nur 25 Prozent bis 2020 – im Bund sind es 40 Prozent –
und erreicht bisher knapp 20; Hessen peilt 30 Prozent an, liegt aber bisher
bei 24,5 Prozent; Schleswig-Holstein will 40 Prozent weniger, steht aber
nach Zahlen von 2017 nur bei minus 25.
Eine Rangliste der klimafreundlichsten Bundesländer gibt es bisher nicht.
Die sei auch schwierig, weil die Umstände in den einzelnen Ländern so
unterschiedlich seien, sagt Stephan Sina, Experte für Klimagesetze des
Thinktanks [4][Ecologic Institute]. „Aber man kann sagen: Klimagesetze
sind jedenfalls insofern wirksam, als sie für eine bessere Steuerung und
Koordination der Regierungsaktivitäten sorgen, wie etwa in
Baden-Württemberg durch eine Stabsstelle für Klimaschutz.“ Sina weist aber
auch darauf hin, dass die wichtigsten Entscheidungen für das Klima bei der
EU und im Bund fallen. Hessens grüne Umweltministerin Priska Hinz sagt, ihr
Bundesland könne „nur maximal 20 Prozent der Treibhausgasemissionen selbst
beeinflussen“.
Allerdings behindern auch Grüne manchmal Klimaschutz. [5][Ministerpräsident
Kretschmann forderte während der Coronapandemie eine Kaufprämie für große
Diesellimousinen] – zusammen mit CSU-Mann Markus Söder. Dahinter steckte
der Wunsch, Arbeitsplätze in Baden-Württemberg zu schützen und dem
Daimler-Konzern einen Gefallen zu tun. Dass Kretschmann damit die Linie der
eigenen Partei torpedierte, störte ihn nicht weiter.
Weil Klimaschutz auf der anderen Seite auch vor Ort entschieden wird, sind
die Kommunen sehr wichtig. Hier zeigt sich: Ein engagierter
Oberbürgermeister und starke grüne Fraktionen im Gemeinderat wie in
Tübingen, Freiburg, Stuttgart oder Darmstadt bringen den Klimaschutz voran.
Ob und in welchem Ausmaß Grüne [6][„ökologisch regieren“] ist der Inhalt
einer Studie der Grünen-nahen Böll-Stiftung von 2019. Der
Politikwissenschaftler Arne Jungjohann, selbst zeitweise in der Regierung
Kretschmann tätig, zieht das Fazit: Die Partei „nutzt den
Handlungsspielraum, um die ökologische Modernisierung voranzubringen“.
Regierungen mit grüner Beteiligung „verfolgen mehrheitlich eine
ehrgeizigere Politik für eine ökologische Modernisierung als Regierungen
ohne ihre Beteiligung“.
Besonders deutlich sei das „in der Energiepolitik, etwa beim Ausbau der
erneuerbaren Energien, und in der Agrarpolitik – hier am deutlichsten beim
Tierschutz“. Was Klimaschutz angehe, nutzten die Grünen nicht nur den
Spielraum aus. Sie seien vielmehr „die treibende Kraft dahinter, dass sich
Klimapolitik als eigenes Politikfeld auf Landesebene überhaupt etabliert“.
Angesichts der Klimalisten, die jetzt zur Wahl antreten, fürchtet
Jungjohann, dass sich „die Klimakräfte kannibalisieren“ könnten. Er
bezweifelt, „dass sich die Mehrheiten für eine ehrgeizige Klimapolitik
dadurch ändern, dass eine weitere Partei antritt“. Sollte sie den Sprung
ins Parlament schaffen, würde sie in einer Koalition auch Kompromisse
machen müssen. „Wenn neue Mandate für eine radikale Klimakraft gewonnen
werden, stärkt das den Klimaschutz. Das klappt dort, wo keine
5-Prozent-Hürde gilt, zum Beispiel im Gemeinderat. In anderen Fällen droht,
dass die Stimme verschwendet ist.“
Die Klimalisten könnten aber auch dazu führen, dass die Grünen ihr
klimapolitisches Profil schärfen. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, sagt
Jungjohann. Es sei ja gerade das große Dilemma, dass „die anderen Parteien
den Grünen das Feld der Klimapolitik so lange überlassen haben“.
Luisa Neubauer hält noch einen anderen Punkt für entscheidend. Sie glaubt,
dass zu viele klimaschädliche früher getroffene Vereinbarungen nicht mehr
der Dramatik der Wirklichkeit entsprechen. „Es braucht einen
demokratischen, vertrauenswürdigen Weg, Verträge aufzulösen, wenn es um
planetare Grenzen geht.“ Dann müsse es Ausgleichszahlungen geben, aber der
Diskurs dürfe nicht tabuisiert werden. „Für einen Braunkohletagebau werden
auch Leute enteignet, weil ein höheres Interesse existiert.“
Deshalb sei auch der Dannenröder Wald so wichtig. „Es geht beim Danni für
uns nicht schlicht um ein paar Hektar Wald. Der Konflikt ist so symbolisch,
weil dahinter die Frage steht: Was tun wir, wenn Entscheidungen getroffen
werden, aber heute nicht mehr tragbar sind?“ Die hessischen Grünen halten
dagegen: Alle Wege seien rechtlich ausgeschöpft, zuständig sei der Bund.
Die Grünen quälen sich auch deshalb so mit diesen Fragen, weil es bei der
Erderhitzung auf jedes Zehntelgrad ankommt. Das hat 2018 ein Sonderbericht
des Weltklimarats (IPCC) deutlich gemacht: Bei 1,5 Grad würden viele
Schäden vermieden und Leben gerettet, die bei 2 Grad Erwärmung bedroht
wären. Aber bis zur letzten Verhandlungsrunde der Pariser Konferenz 2015
waren „1.5 to stay alive“ überhaupt keine ernst zu nehmende
Verhandlungsoption. Erst die kleinen Inselstaaten boxten diese Formulierung
ganz zum Schluss in den Text, der bei Umweltgruppen am letzten Tag der
Konferenz ungläubigen Jubel hervorrief.
„1,5 Grad, das hieße für Deutschland null Emissionen bis 2030, wenn man
unsere Wirtschaftskraft und historische Verpflichtung einrechnet“, sagt
Niklas Höhne, Experte für Klimaberechnungen vom [7][NewClimate Institute].
„Das ist technisch schwierig, und politisch noch schwieriger.“ Auch
Parteien in der Regierung „verlangt das sehr viel ab“, sagt Höhne. Diesen
Konflikt müssten sie „aushalten und diskutieren“.
Lutz Weischer von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch
sagt, „auch die Grünen haben keinen kompletten Plan, wie wir die
1,5-Grad-Grenze einhalten, aber sie führen die ernsthafteste
Auseinandersetzung darüber“. Und Greenpeace-Geschäftsführer Martin Kaiser
gesteht den Grünen zu, sie seien „die einzige Partei, die sich ansatzweise
am Pariser Abkommen ausrichtet“. Allerdings müsse sie präziser und mutiger
werden, das in einzelnen Bereichen umzusetzen – „etwa einen schnelleren
Kohleausstieg, 100 Prozent Erneuerbare und ein Ende des
Verbrennungsmotors“.
Da, wo es bei der Umsetzung von Klimapolitik wehtut, fühlen sich viele
Grüne allein. Manche vermissen bei den Debatten mit FFF die Einsicht, dass
selbst eine Regierungspartei noch mit Blick auf Koalitionspartner,
Industrie, Gewerkschaften und Sozialverbände Mehrheiten organisieren muss.
Eine Bewegung könne radikale Ziele formulieren, eine Partei müsse sie aber
in gesellschaftliche Kompromisse umsetzen, sagt ein Parteistratege. „Das
sind verschiedene Rollen. Aber dann sollten wir für unsere Rolle nicht
immer verprügelt werden.“
Wichtige Grüne halten die Fixierung auf die 1,5 Grad für fatal und naiv,
trauen sich aber nicht, das offen auszusprechen. Wenn man mal aus dem
Mikrokosmos der Grünen herauszoomt, in den Bundestagswahlkampf oder in die
Weltpolitik, dann stellen sich große Fragen. Ihre größte Sorge sei, sagt
eine Bundestagsabgeordnete, dass sich die Klimaschutzbewegung so
radikalisiere, dass das gesamte Anliegen einem Großteil der Bevölkerung
nicht mehr vermittelbar sei.
Überall bemüht sich die Grünen-Spitze deshalb, Positionen nicht zu sehr zu
radikalisieren. Eine Forderung, den Flugverkehr massiv zu reduzieren, wurde
in den Programmentwurf aufgenommen und dabei deutlich abgeschwächt.
Ähnliches passiert auch anderswo. Wie eine gut geölte Maschine schnurrte
die Antragskommission die Wünsche der Grünen-Basis zusammen.
Luisa Neubauer steht von der Bank an der Spree auf. Im Gehen erzählt sie
noch, wie sich die Kommunikation zwischen Grünen und Bewegung verändert
habe. „Der Ton, in dem einige der Grünen über uns und manchmal auch mich
reden, ist schon krass, partiell kommt es mir toxisch vor. Wenn ich durch
den Danni gehe, fragen mich alle, wann ich endlich austrete.“
Den Spagat zwischen Anspruch, Wirklichkeit und Basis haben die Grünen in
ihrem Beschluss von 2019 präzise beschrieben: „Die Lücke zwischen
wissenschaftlich Notwendigem und gesellschaftlich Nötigem […] klafft immer
weiter auseinander“, heißt es dort. „Es liegt gerade auch an uns, das
Vertrauen einer ganzen Generation in die Gestaltungs- und
Handlungsfähigkeit der Politik zu erhalten.“
20 Nov 2020
## LINKS
[1] /Streit-um-den-Dannenroeder-Forst/!5725692
[2] /Studie-zu-deutschen-CO2-Emissionen/!5719605
[3] /Fridays-for-Future-und-Politik/!5720941
[4] https://www.ecologic.eu/de
[5] /Streit-um-die-Abwrackpraemie/!5686826
[6] https://www.boell.de/de/2019/01/15/oekologisch-regieren-0
[7] https://newclimate.org/
## AUTOREN
Bernhard Pötter
Ulrich Schulte
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
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