# taz.de -- Fridays for Future und Politik: Grüner als die Grünen | |
> Sandra Overlack engagiert sich für Fridays for Future. Doch die Grünen | |
> will sie bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg nicht wählen. | |
Bild: Wirft den Grünen Versagen beim Klimaschutz vor: Sandra Overlack | |
KARLSRUHE/BERLIN taz | Der 4. Oktober war kein so guter Tag für [1][Michael | |
Kellner], Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfmanager der Grünen. Er stand | |
auf einer Bühne bei einer Demonstration gegen den Ausbau der A 49 durch den | |
[2][Dannenröder Wald], kritisierte die Verkehrsplanung des Bundes und | |
sagte, er sei trotzdem froh, dass in „Deutschland keine Willkür herrscht | |
und Politiker sich an Recht und Gesetz halten müssen“. | |
Gegen die massiven [3][Buhrufe] kam Kellner nicht an. Kein Wunder: De facto | |
hatte er den Demonstranten gesagt, dass sie nach Hause gehen können. Die | |
Gerichte haben alle Klagen gegen die A 49 abgewiesen. Der Wald wird | |
gerodet, die Autobahn gebaut. | |
„Ich verstehe die Leute, die gebuht haben. Sie sind wütend, weil sie seit | |
Jahren gegen die A 49 kämpfen“, sagt Kellner im Rückblick. „Es gab aber | |
auch Anerkennung dafür, dass ich da war.“ Die Autobahn in Mittelhessen, die | |
Kellner „ein Symbol für den Irrsinn der deutschen Verkehrspolitik“ nennt, | |
ist für die Grünen auch schmerzhaft, weil ihr Mitglied Tarek Al-Wazir | |
hessischer Verkehrsminister ist – und Schwarz-Grün in Hessen lange als | |
Modell für störungsfreies Regieren auch im Bund galt. | |
Viele Grüne betonen unermüdlich, dass der Bund und nicht etwa das Land | |
Hessen für die Autobahn 49 die Verantwortung trägt. „Für eine echte | |
Verkehrs- und Klimawende müssen die Blockierer aus der CSU aus dem | |
Verkehrsministerium raus. Da liegt der Schlüssel“, sagt Kellner. Also: | |
Blick nach vorn auf die Bundestagswahl 2021. | |
Trotzdem fragen sich manche: Wie glaubwürdig sind Grüne, die Autobahnen | |
durchsetzen, die sie nicht wollen? Ist das der Preis für Schwarz-Grün? Und: | |
Bildet sich neben den zusehends Blassgrünen eine neue Partei entschlossener | |
Klimaschützer? Sogar im grünen Vorzeigeland Baden-Württemberg zeigen sich | |
erste Spaltungen. | |
„Wenn die Grünen das Grünste im Parteienspektrum sind, dann fehlt eine | |
Menge“, sagt Sandra Overlack mit Blick auf die Bilanz in Baden-Württemberg. | |
Wenig regenerative Energie, keine Konzepte für eine Verkehrswende – | |
stattdessen klagte die grün-schwarze Landesregierung gegen Fahrverbote in | |
den Innenstädten. Die 19-jährige Studentin ist eine der vier | |
Vorstandsmitglieder der [4][Klimaliste], die im Frühjahr bei den | |
Landtagswahlen antreten will. | |
## In die Politik oder zum Start-up | |
Overlack studiert Wirtschaftsingenieurwesen in Karlsruhe, früher mal der | |
direkte Weg zu einer gut dotierten Karriere mit Dienstwagen. Wenn sie nicht | |
Politik zu ihrem Beruf macht, könne sie etwas in der Start-up-Szene machen, | |
sagt sie. In der Wirtschaft könne man die Gesellschaft schneller verändern | |
als in der Politik. In der Klimapolitik setzt sie eher auf Green Economy | |
als auf Verbote. | |
Wer so redet, wäre früher automatisch bei den Grünen gelandet. Jetzt sitzt | |
Sandra Overlack in einem Café in der Karlsruher Südweststadt, bestellt | |
einen Kaffee mit Sojamilch und schlägt als Parteivorstand der Klimaliste | |
radikale Töne an. Das Ziel, die Erderwärmung bei 1,5 Grad zu stoppen, dürfe | |
mit keiner politischen Entscheidung mehr infrage gestellt werden, sagt sie. | |
Es brauche endlich eine Partei, die den Klimaforderungen der Wissenschaft | |
zum Durchbruch verhilft. Dazu müsse das CO2-Budget über die | |
wirtschaftlichen Sektoren verteilt werden. | |
Sie und ihre Mitstreiter haben die Geduld verloren mit der Politik, | |
speziell mit den Grünen. Die Botschaft ist angekommen. Der grüne | |
Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärt, er nehme die Ökoliste | |
ernst. | |
Kretschmann wird fuchsig, wenn man ihm vorwirft, die grüne Regierungszeit | |
in Stuttgart seien verlorene Jahre im Kampf gegen den Klimawandel gewesen. | |
„Für Ziele, die man sich vorgenommen hat, hat man immer zu wenig getan“, | |
sagt er und verweist darauf, mit anderen Ländern im Bundesrat die | |
Kohlendioxidbepreisung von 10 auf 25 Euro gehievt zu haben. | |
Das Problem: Es müssten mindestens 180 Euro sein. Das sagen Klimaforscher, | |
deshalb steht es so im Parteiprogramm der Klimaliste. Auch Kretschmann | |
kennt die Zahlen, aber mehr sei eben nicht durchzusetzen gewesen. „Die, die | |
uns kritisieren, können uns leider nicht sagen, wie man mehr erreicht“, | |
sagt er. Das wiederum beeindruckt die Aktivisten von der Klimaliste nicht. | |
Dem Klimawandel seien Mehrheitsverhältnisse egal. | |
## Fridays for Future: Keine Verjüngungskur für die Grünen | |
Die Grünen dachten lange, dass ihnen [5][Fridays for Future] neuen Wind | |
unter die Flügel pustet. Kretschmann lud Bewegungsvertreter in den Garten | |
der Villa Reitzenstein, mit denen er im Schneidersitz über den Klimawandel | |
diskutierte. Das gab schöne Bilder. Jetzt traue er sich, einen „radikaleren | |
Sound“ anzuschlagen, sagte Kretschmann danach. Aus Sicht der Kritiker ist | |
es beim Sound geblieben. Es gibt zwar Aktivisten von Fridays for Future, | |
[6][die sich bei den Grünen engagieren]. Aber da sind auch Leute wie Sandra | |
Overlack. | |
Die wäre selbst fast bei den Grünen gelandet. In ihrer Heimatstadt Rastatt | |
hat sie sich für Fridays for Future engagiert – und zugleich bei der Grünen | |
Jugend. „Wenn die Grüne Jugend die Partei wäre, müssten wir die Klimaliste | |
nicht gründen“, sagt sie. Doch das ist sie wohl nirgends weniger als im | |
konservativen Baden-Württemberg. | |
Das weiß auch Sarah Heim, Vorsitzende der grünen Jugendorganisation im | |
Land. Grüne Politik sei in einer Koalition mit der CDU und mit einem | |
Ministerpräsidenten, der kaum etwas so scheut wie einen Krach mit den | |
Konservativen, schwer durchzusetzen, sagt sie. „Wir schauen alle etwas | |
nostalgisch auf die erste Regierungszeit mit der SPD“, sagt Heim und hofft | |
auf eine progressive Mehrheit in Baden-Württemberg nach dem Wahltag am 15. | |
März. Mit der Klimaliste sei man im Gespräch, man kenne sich. Die | |
Parteigründung hält Heim für falsch. Am Ende könnte die Klimaliste an der | |
Fünfprozenthürde scheitern und ein progressives Bündnis entscheidende | |
Prozentpunkte kosten. | |
„Das wäre der schlechteste Ausgang“, sagt auch Sandra Oberlack. Aber: Das | |
Antreten von Klimalisten bei den Kommunalwahlen in Bayern und | |
Nordrhein-Westfalen hätte die Grünen keineswegs geschwächt. Und: Sollte die | |
Klimaliste es in den Landtag schaffen, sagt Overlack, würde sie natürlich | |
eine grüngeführte Regierung unterstützen. | |
## Klimaliste bereitet sich auf Wahlen vor | |
Bis dahin ist es noch weit. Die Liste benötigt Kandidaten für alle 70 | |
Wahlkreise, gefunden hat sie bisher nur rund 20. Und jeder Kandidat braucht | |
150 Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu werden. Bis Mitte Januar muss | |
das geschafft sein. | |
Diese Woche reden Klimaliste und grüne Parteispitze miteinander. Wenn man | |
so will, ein weiterer Ritterschlag der Politikprofis für die Newcomer. Klar | |
ist: Die Klimaliste wird sich mit Versprechungen nicht von ihrer Kandidatur | |
abhalten lassen. | |
Die Risse im Ökolager sind noch fein, aber unübersehbar. Luisa Neubauer, | |
das Gesicht von Fridays for Future, will nicht für die Grünen in den | |
Bundestag einziehen und hält deren „ökologische Integrität für | |
erschüttert“. Im Südwesten hat sich die Klimaliste gegründet, in Hessen | |
rebellieren Ökos gegen die Grünen. | |
Auch die Konkurrenz wittert eine Chance, den Grünen doppelte Standards | |
nachzuweisen. Man wolle um „die Hegemonie im Mitte-links-Bereich“ kämpfen, | |
sagt SPD-Mann Carsten Schneider. Der hessische Wirtschaftsminister Tarek | |
Al-Wazir habe noch 2015 die zügige Umsetzung des Baus der A 49 gefordert, | |
in Baden-Württemberg erkenne die Härtefallkommission weit weniger | |
Asylbewerber an als noch unter Grün-Rot, sagt Schneider. Doch der | |
SPD-Angriff überzeugt nicht immer. Die Sozialdemokraten halten nichts von | |
der grünen Idee, keine neuen Autobahnen mehr zu planen – da wirkt der | |
Verweis auf grüne Doppelmoral bei der A 49 selbst bigott. | |
## Grüne Zentrale gibt sich gelassen | |
Die Grünen geben sich in ihrer Berliner Zentrale nicht nur bei den | |
SPD-Attacken gelassen. „Beim Atomausstieg gab es zwischen Partei und | |
Bewegungen auch viel Stress. Die beiden haben eben verschiedene Rollen“, | |
sagt Michael Kellner. Kritik von Verbänden und Bewegungen sei „für die | |
Grünen nichts Neues. Das gehört in einer pluralen Gesellschaft dazu.“ Ein | |
kleiner Familienkrach also, nichts Ernstes. Vielmehr kämpfe man an | |
verschiedenen Orten für das gleiche Ziel: die Einhaltung des Pariser | |
Klimaabkommens. Also alles im grünen Bereich. | |
Tatsächlich sind die Aussichten der Ökopartei so gut wie schon lange nicht | |
mehr. In Umfragen liegen sie bei 20 Prozent. Kaum jemand zweifelt, dass sie | |
nach 16 Jahren Opposition wieder regieren werden. Allerdings haben die | |
Grünen schon oft Umfragen gewonnen. Ein Jahr vor der Bundestagswahl im Jahr | |
2013 lagen sie bei 13 Prozent, ein Jahr vor der Wahl 2017 bei 12 – doch am | |
Ende machten jeweils 25 Prozent weniger Wähler ihr Kreuz bei den Grünen. | |
Kellner hält das für kein Naturgesetz. Man sei 2013 und 2017 „in dem Horse | |
Race zwischen Union und SPD untergegangen“. Das aber werde „sich 2021 nicht | |
wiederholen, weil wir die Nummer zwei sind“. Auch bei den Wahlen in Bayern, | |
Hessen und Europa hätten, so Kellners frohe Botschaft, „die Grünen am Ende | |
zugelegt“. Zudem ist die Wahlkampfkasse gut gefüllt. Die Grünen haben | |
100.000 Mitglieder, 40.000 mehr als vor vier Jahren. Alles Zeichen, dass | |
der Bann gebrochen ist. | |
Wirklich? Die Partei befindet sich in einem mehrfachen Stresstest: Nach | |
außen demonstrieren Habeck & Co wie immer Lässigkeit, nach innen herrscht | |
mitunter nervöse Kontrollsucht. Die Grünen, sagt ein CDU-Spitzenpolitiker | |
anerkennend, seien auch im Vergleich mit der Union „extrem diszipliniert“. | |
In keiner anderen Partei würden Zitate vor der Presseveröffentlichung so | |
akribisch überprüft. Man will coole Bewegungspartei sein, aber mit starrem | |
Blick auf Schwarz-Grün bloß keinen Zweifel an der eigenen Verlässlichkeit | |
aufkommen lassen. | |
Bei den Wahlen 2013 und 2017, sagt Kellner, haben „die Leute gefragt: Warum | |
soll man grün wählen? Jetzt heißt die Frage: Was macht ihr in der | |
Regierung?“ Die Antwort kann sehr kompliziert sein. | |
28 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gruene.de/leute/michael-kellner | |
[2] /Protest-im-Dannenroeder-Wald/!5715870/ | |
[3] /Rolle-der-Gruenen-im-Dannenroeder-Wald/!5716026/ | |
[4] https://www.klimaliste.de/ | |
[5] https://fridaysforfuture.de/ | |
[6] /Aktivisten-treten-zur-Wahl-an/!5704234 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Benno Stieber | |
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