# taz.de -- Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz: Die Sozialdemokratie schlägt zu… | |
> In einem Arbeiterviertel Ludwigshafens bekam die AfD 2016 mehr Stimmen | |
> als die SPD. Die kümmert sich wieder um die Basis und kann hoffen. | |
Bild: Wahlkämpfer an der Basis: Sozialdemokrat Christopher Hilgert | |
LUDWIGSHAFEN taz | Montag, zehn Uhr morgens. Christopher Hilgert schaut in | |
einen leeren, großen Raum mit abgeräumten Bierbänken, einen früheren | |
Schlecker-Markt. „Jetzt wäre eigentlich hier Frühstück dran“, sagt Hilge… | |
(36). Dreißig Ältere kommen normalerweise. Das geht jetzt nicht, wegen | |
Corona. | |
Nun macht Hilgert wie jeden Montag seinen Rundgang mit 40 Frühstückspaketen | |
durch die Ernst-Reuter-Siedlung in Ludwigshafen-Gartenstadt. Ludwigshafen, | |
nahe bei Mannheim gelegen, ist eine Chemiestadt. Fast 40.000 arbeiten bei | |
BASF. Das Bild der Siedlung prägen vierstöckige Mietshäuser, die nicht | |
gerade Schmuckstücke sind. | |
Früher war das Arbeiterviertel fest in SPD-Hand. Doch das ist lange her. | |
Bei den Landtagswahlen 2016 bekam die AfD in der Ernst-Reuter-Siedlung 30 | |
Prozent, die SPD 25. Das war ein Schock. Und ein Grund, warum die SPD hier | |
ein Quartierbüro einrichtete. | |
Bei der Frühstückstour – Brötchen und Ei – geht es auch ums Reden. | |
Einsamkeit ist ein Problem, gerade in Coronazeiten. Einer Rentnerin, deren | |
Telefon kaputt war, hat Hilgert ein Billighandy von Aldi besorgt, damit sie | |
Kontakt halten kann. Eine Frau öffnet um halb elf im Schlafanzug die Tür | |
und ist kurz angebunden. „Da waren wir mit dem Frühstück ja doch nicht zu | |
spät“ sagt Hilgert knapp. | |
## Ein Viertel mit schlechtem Ruf | |
Inge K. hingegen im vierten Stock hat Redebedarf. Sie klagt über das | |
Fernsehen, warum die nicht mal was Lustiges von früher bringen. Sie hat | |
rote Haare, ist 91 Jahre alt und hat ein Studium begonnen an der Uni | |
Mannheim, Archäologie und Alte Geschichte. Leider, sagt sie, findet wegen | |
Corona nichts statt. | |
Die Ernst-Reuter-Siedlung, ein Drittel Migranten, überdurchschnittlich | |
viele [1][Hartz-IV-Empfänger], hat keinen guten Ruf. Es liegt auch mal | |
Sperrmüll herum. Aber die Realität ist komplexer als das Image. Es gibt | |
auch propere Neubauten mit Aufzug und auch ein paar Reihenhäuser. | |
Gartenstadt ist kein Ghetto, im Gegenteil. | |
Hier wohnen Hilfsarbeiter, die bei BASF jobben, und auch Facharbeiter, | |
Krankenschwestern und Rentner. „Das ist nicht das Armenhaus von | |
Ludwigshafen“, sagt Hilgert. Er ist vom Nachbarbezirk Oggersheim hierher | |
gezogen. | |
Die Bürgersprechstunde ist das Herz der SPD-Charmeoffensive. Beim Frühstück | |
erreicht man eher die älteren Deutschen, zur Sprechstunde kommen auch die | |
nigerianische Familie und der Flüchtling aus Afghanistan. | |
## Das Geld ist hier eher knapp | |
Um halb eins hat sich Renate T. angemeldet. Ihr Mann ist gestorben, jetzt | |
bekommt sie Witwenrente und Hartz IV, hat auf einmal 2.000 Euro auf dem | |
Konto und will ja nichts falsch machen. Von dem Jobcenter bekommt sie keine | |
rechte Auskunft. „Ich dreh denen den Hals um“, knurrt sie. „Isch kann sch… | |
nicht mehr schlafe.“ Hilgert ruft für sie beim Jobcenter an und klärt die | |
Sache. Sie hat aus Versehen 1.600 Euro zu viel bekommen. | |
Zu viel Geld ist selten. Oft geht es um Schulden und Privatinsolvenzen. Oft | |
um kleine Fehler mit üblen Folgen, Hartz-IV-Empfänger, die von der GEZ | |
Mahnungen und Schlimmeres bekommen, obwohl sie sich mit einem Formular von | |
der GEZ-Gebühr hätten befreien können. Manchmal tun es Anrufe. Der größte | |
Erfolg war die Rücknahme einer fristlosen Kündigung der kommunalen | |
Wohnungsbaugesellschaft. | |
Mit Rechtsberatung gegen Rechtspopulisten. Ist das so einfach? Klaus | |
Beißel, schwarzes Hemd, schwarze Jacke, steht vor der Glastür des Büros und | |
dreht sich eine Zigarette. „Die kleinen Sachen werden unterschätzt“, sagt | |
der 33-Jährige. Beißel hat Kfz-Mechatroniker gelernt, dann | |
Politikwissenschaften studiert und bis zum Sommer 2019 das Büro aufgebaut. | |
Jetzt ist er in der SPD-Zentrale in Mainz für Mobilisierung zuständig. Man | |
bilde mit dem Quartierbüro ein Scharnier zwischen den Leuten vor Ort und | |
den Ämtern. Und achte auch darauf, nicht paternalistisch zu sein, nicht | |
alles zu regeln. Eher mal einen Tipp geben, welches Formular jetzt nötig | |
ist. | |
## Lässt sich der SPD-Mikrokosmos reanimieren? | |
Handgreiflichkeiten sind im Quartierbüro selten. Es gibt einige, die mal | |
rumbrüllen. „Da hilft frische Luft“, sagt Hilgert, breite Schultern, kurze | |
Haare, trockener Humor. Der frühere Fitnesstrainer macht den Eindruck, | |
solchen Ansagen den nötigen Nachdruck verleihen zu können. Hilgert hat, | |
auch krankheitsbedingt, umgesattelt auf Sozialarbeit und SPD-Büro. | |
Das Quartierbüro ist der Versuch, jene Lebenswelt wiederzuerwecken, die aus | |
städtischer Wohnungsbaugesellschaft und Gewerkschaften bestand, aus | |
Arbeiterwohlfahrt und SPD, die sich kümmert und in allen Lebenslagen | |
ansprechbar ist. Dieses Milieu gab es früher in sozialdemokratischen | |
Hochburgen. | |
Mit dem Strukturwandel ist viel zerbröckelt. Die Facharbeiter zogen in die | |
bürgerlichen Gegenden, die Arbeiterviertel wurden migrantisch und | |
abgehängt. Die Agenda 2010 und die Rente mit 67 beschleunigten den Verfall | |
dieser sozialdemokratischen Mikrokosmen. | |
Den Abwärtstrend hat die SPD in der Ernst-Reuter-Siedlung mit knapp 3.000 | |
Wahlberechtigten bei der Kommunalwahl 2019 gestoppt. Der SPD-Ortsvorsteher | |
bekam, bei bescheidener Wahlbeteiligung, in der Siedlung knapp 60 Prozent, | |
in dem Stimmbezirk rund um das Quartierbüro fast 80. | |
## Ein durchsichtiges Manöver? | |
„Ohne überheblich zu klingen, das haben wir mit verursacht“, sagt Beißel. | |
Anderswo schlage man der SPD beim Wahlkampf die Tür vor der Nase zu. „Das | |
passiert uns hier nicht mehr.“ An ein paar Balkonen in der Siedlung hängen | |
SPD-Wahlplakate. Die AfD ist hingegen kaum präsent. | |
Ist das kein durchsichtiges Manöver, das lädierte Image der SPD mit | |
Sozialarbeit aufzupolieren – anstatt [2][die Agenda-Fehler der | |
Vergangenheit radikal zu beheben]? Den Vorwurf habe man früher öfter im | |
Viertel gehört, sagt Beißel. Aber jetzt sei man schon drei Jahre da, da sei | |
er selten geworden. Hilgert hat früher auch gegen die Agenda 2010 | |
demonstriert. Im Viertel gehe es vielen darum, „wahrgenommen zu werden“, | |
sagt er. Das ist der Spin des Projekts. | |
Auch im Lockdown klopft immer mal wieder jemand an die Glastür des Büros. | |
Manche sagen kurz guten Tag, andere, wie Hartz-IV-Empfänger Lothar (62), | |
bleiben. „So alt bin auch noch ned, dass isch de ganze Tag im Bed liege | |
täd“, sagt er und packt auch im Büro mal an. Sein neuer Haarschnitt wird | |
allgemein für gut befunden. | |
Lothar, dessen breites Pfälzerisch Unkundige vor Rätsel stellt, sei | |
jahrelang Nichtwähler gewesen, das habe sich nun geändert, wird anerkennend | |
berichtet. „Schreib was Richtiges. Wir wisse, wo du wohnst“, sagt er zum | |
Abschied. | |
Das Konzept Quartierbüro hat Daniel Stich (43) entwickelt, Generalsekretär | |
der SPD in Rheinland-Pfalz in Mainz. Stich – roter Rollkragenpulli, | |
schwarze Jacke, eloquent – stammt aus einer katholischen Arbeiterfamilie in | |
Kaiserslautern und weiß, wie man in solchen Vierteln redet. Corbyns Satz | |
„For the many not the few“ leuchtet ihm ein. Dass die SPD neue Formate | |
braucht, hat er schon vor dem Aufstieg der AfD erkannt. | |
Aber das Neue kostet. Für den Ex-Schlecker-Markt fallen 1.200 Euro Miete | |
an, das gesamte Büro kostet, mit eineinhalb festen Stellen, rund 100.000 | |
Euro im Jahr. Je die Hälfte kommen von der Landes- und Bundespartei. Das | |
sei die Luxusvariante, sagt Beißel, aber „gut angelegtes Geld“. Stich | |
versucht das Konzept in der Bundes-SPD populär zu machen. Bislang ohne | |
Erfolg. Näheres will er ein paar Tage vor der Wahl lieber nicht in der | |
Zeitung gedruckt sehen. | |
Am Kiosk nebenan, so Hilgert, „haben sie mich anfangs nicht gegrüßt“. Mach | |
doch ein AfD-Büro auf, haben die Männer mit den Bierflaschen in der Hand | |
gerufen. Das sei vorbei. Sie schimpfen weiter auf Berlin, die SPD und | |
überhaupt. Aber was die im Quartierbüro machen, sei schon in Ordnung, heißt | |
es jetzt dort. Mehr kann man nicht erreichen. | |
12 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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