# taz.de -- Debatte um Minderheiten: Redet doch miteinander! | |
> Im Streit über Wolfgang Thierses Thesen sollten die Älteren mehr | |
> Verständnis für Minderheiten an den Tag legen – auch für deren Wut auf | |
> die Mehrheit. | |
Bild: Thierse und Schwan: Warum provozieren sie nur, statt mit den Jüngeren au… | |
In der [1][Debatte um Gesine Schwan und Wolfgang Thierse] scheint mein | |
Geist zu einer unzeitgemäßen Leistung fähig: Ich verstehe alle Beteiligten. | |
Die Älteren und, man muss es in Teilen auch als Generationenkonflikt lesen, | |
die Jüngeren. Vielleicht lasse ich mir das patentieren. | |
Was ich nicht tue: Eine Unterteilung in Identitätspolitik und etwas anderes | |
vorzunehmen. Was sollte dieses andere sein? Wer hat keine politische | |
Identität? Thierses politisches Denken ist geprägt von seiner Biografie und | |
der Teilung Deutschlands. Das heißt nicht, dass man beim Biografischen | |
stehen bleibt. Nur – weshalb ist bei den einen „Biografie“ in Ordnung und | |
bei den anderen nur Mittel zum Zweck? | |
Thierse wird seine ostdeutschen Lebenserfahrungen und die daraus gezogenen | |
intellektuellen Schlüsse immer in seine Werturteile einbeziehen. Doch bei | |
Minderheiten wird die Biografie plötzlich zum Vorwurf. Sie trübe den Blick. | |
Das Trübende liegt wohl eher daran, dass der migrantische Blick nicht | |
deutsch ist, wie man deutsch gewohnt ist. Man möchte „diesen anderen | |
biografischen Blick“ nicht im gesamtdeutschen Kontext gleichwertig | |
diskutieren müssen, so wie man die ost- und westdeutschen Biografien | |
diskutiert. | |
Minderheiten hatten jahrzehntelang kein öffentlich zur Kenntnis genommenes | |
Geistesleben in diesem Land. Das ist auch ein Versagen meiner Generation. | |
Wir, die kurz vor den Millennials Geborenen, wachten nach dem 11. September | |
in einer neuen Welt auf. Dann kam die Finanzkrise. Wir sicherten uns | |
irgendwie ab, gerade wenn wir Kinder von Einwanderern waren. Wir mischten | |
uns kaum hörbar ein. | |
[2][Ich verstehe Thierse. Und Schwan. Sie verdienen Respekt. Doch warum | |
provozieren sie die Jüngeren nur, statt auf Augenhöhe zu reden?] Thierse | |
selbst eröffnete die Debatte, erklärte die Positionen der Jüngeren, die | |
sich derzeit medial Gehör verschaffen, für zersetzend. Teile seiner Partei | |
positionierten sich gegen ihn, was in einer pluralistischen Demokratie, die | |
er sich ja in seinem Artikel wünscht, normal sein sollte. | |
## Nett sein reicht nicht | |
Er reagierte so, wie es aus seiner Sicht die Jüngeren tun: verletzt. Er bot | |
den Parteiaustritt an und sicherte sich so breite Solidarität. Die Debatte, | |
die er führen wollte, beendet er dadurch. Denn natürlich will niemand | |
Thierse ausschließen. Doch wer in einem Diskurs Positionen angreift, muss | |
damit rechnen, auch Ablehnung zu erfahren. | |
Die Generation Thierse und Schwan ist es gewohnt, mit Einwandererkindern | |
meiner Generation zu tun zu haben. Wir haben jahrelang freundlich dankbar | |
genickt, wenn Deutsche sagten: „Ja, auch Ausländer sind Mitbürger.“ Wir | |
haben nicht gefragt: „Kriegen wir dann auch den Job im Ministerium?“ Oder: | |
„Wenn unsere Eltern Mitbürger sind, warum kämpft ihr dann nicht für die | |
doppelte Staatsbürgerschaft? Wann dürfen sie wählen?“ | |
Meine Generation waren die Kinder der Geduldeten, oft Gastarbeiter ohne | |
Bürgerrechte. Wir wurden selbst erst spät deutsche Staatsbürger. An den | |
Unis waren wir noch Ende der Neunziger unter einem Prozent. Mit uns hatten | |
linke Deutsche leichtes Spiel. Gute linke Deutsche, das waren jene, die | |
Humanität predigten, aber was Teilhabe angeht, nie Konsequenzen zogen. | |
Aus dem Zusammenspiel der Generation Thierse, der Alt-68er und meiner | |
Generation erwuchs der Missstand, den wir heute sehen. [3][Ein Viertel der | |
Deutschen haben Migrationshintergrund, doch in Regierungen, Ministerien, | |
Verwaltungen findet man uns kaum.] | |
Ja, die Jüngeren sind wütend. Auch mir ist das manchmal zu popkulturell, zu | |
laut und zu sehr USA. Doch es ist trotzdem möglich, sie zu verstehen, ihren | |
Argumenten etwas entgegenzusetzen, statt ihnen nur zu unterstellen, sie | |
wollten die Gemeinsamkeit zersetzen. Es ist möglich, ihnen recht zu geben, | |
wo die Fakten auf ihrer Seite sind. | |
Es wundert mich sehr, dass ein Politiker wie Thierse, der selbst viel | |
Widerstand geleistet hat, nicht sagen kann: Meine Positionen sind mit 77 | |
Jahren vielleicht aus eurer Sicht alt. Wo steht ihr und warum? Thierse und | |
Schwan wollen hingegen stur recht behalten und suchen den Applaus der | |
Mehrheit. Wie einfach, wo doch die Jugend politisch gegen die | |
Boomer-Generation ohnehin schwach dasteht. | |
## Der Applaus der Mehrheit | |
Im Kern haben die Konfliktparteien einiges gemeinsam. Sie kämpfen um | |
Bürgerrechte. Um Pluralismus. Wo ist die Gelassenheit des Alters, auf die | |
Jugend zuzugehen und zu fragen: Was geschieht bei euch, was ich | |
offensichtlich nicht kenne? Das wäre Dialog. | |
Doch Thierse fordert in seinem Artikel, Diversitätsbeauftragte sollten | |
zugleich Gemeinsamkeitsbeauftragte sein. Das zeigt, wie wenig Kenntnis er | |
von der Materie hat. Natürlich haben Diversitätsbeauftragte den Auftrag, | |
Pluralität zu einem Gemeinsamen hin zu gestalten. Dafür muss man Pluralität | |
aber zulassen. | |
## Die schwierige Wut der Minderheit | |
Vieles ist schwierig an den neuen Diskursen von links: etwa unsaubere | |
Vergleiche mit den USA statt eigener, deutscher Konzepte. Das Schaffen von | |
„Safe Spaces“, die öffentlich finanziert werden sollen – eine demokratis… | |
Öffentlichkeit funktioniert aber nicht wie eine Selbsthilfegruppe. | |
Die unbearbeitete Wut auf die Mehrheit. Toni Morrison erzählte, ihr Vater | |
sei so wütend gewesen über den Rassismus der Weißen, dass er „defensive | |
racism“ praktizierte. Seine Wut tat ihr weh. Es gibt immer eine Wut der | |
Minderheiten auf die Mehrheitsgesellschaft, weil das, was man als | |
„Normalität“ bezeichnet, immer auf die Mehrheit zugeschnitten ist. Was den | |
Minderheiten abgeschnitten wird, bemerken nur die Minderheiten. | |
Die Wut der Jugend ist eine tickende Zeitbombe. Die Wütendsten sind nicht | |
auf Twitter. Die Wütendsten sind jene, die denken: „Hanau, das hätte meine | |
Schwester, mein Bruder sein können.“ Ihnen reicht es mit dekorativem | |
Antirassismus. | |
Thierse und Schwan könnten doch einmal erklären, warum die Teilhabe aller | |
nicht jahrzehntelang oberste Priorität hatte? Warum musste man auf die Wut | |
derer warten, die heute nicht mehr nur reden, sondern endlich auch Wandel | |
sehen wollen? | |
10 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Ein-Hagel-von-Vorwuerfen/!5751303/ | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/gesine-schwan-spd-ueber-identitaetspolitik-w… | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/die-elite-ist-weiss-und-kommt-aus-dem-w… | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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