| # taz.de -- Diskriminierung, Diskussion und Identität: Kritik an den Verbünde… | |
| > Gerade Leuten aus dem eigenen Lager fällt es schwer, sich gegenseitig die | |
| > andere Meinung zu verzeihen. Dabei geht es oft nur um Nuancen. | |
| Bild: Jene, die uns eigentlich ähnlich sind, bekämpfen wir besonders leidensc… | |
| Stellen wir uns einmal vor, nur so „for the sake of the argument“, ich wäre | |
| der Meinung, dass alle besonders [1][diskriminierten Minderheiten] ein | |
| Recht darauf haben, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden. Und stellen | |
| wir uns vor, Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, alle | |
| diskriminierten Minderheiten hätten ein Recht darauf, eine Stimme zu haben | |
| und Gehör zu finden, wir sollten aber zugleich vermeiden, in die Falle der | |
| Fragmentierung zu tappen. | |
| Stellen wir uns des Weiteren vor, ich sei der Meinung, besonders | |
| diskriminierte Minderheiten sollten nun bevorzugt die Bühne bekommen und | |
| alle anderen sollen jetzt einmal für eine Weile die Klappe halten. Und Sie | |
| wären im Gegensatz zu mir der Meinung, besonders diskriminierte | |
| Minderheiten sollten nun auch eine Bühne bekommen, wir sollten aber immer | |
| auch darauf achten, Mehrheiten und Allianzen für gemeinsame Anliegen zu | |
| umwerben. | |
| Ich sage dann vielleicht, Sie würden das jetzt wieder viel zu sehr vom | |
| hegemonialen Zentrum der Mehrheiten her denken, Sie dagegen erwidern, ich | |
| würde Gefahr laufen, eine Sprache der Spaltung anzuschlagen. Stellen wir | |
| uns überdies vor, ich bin für absolute Gleichberechtigung von [2][Schwulen | |
| und Lesben] und überdies für Respekt vor Malochern am Bau und Angestellten | |
| im Büro, und Sie sind das ebenso, nur mit im Detail anderer | |
| Schwerpunktsetzung oder Wortwahl. | |
| Stellen wir uns vor, ich bin für Respekt vor der Lebensleistung einer | |
| Fabrikarbeiterin, die ihr Leben lang am Band gearbeitet hat, sowie für die | |
| Verbesserung der rechtlichen Lage von migrantischen Pflegekräften oder | |
| Paketausfahrern. Und Sie sehen das auch nicht sehr viel anders. Was meinen | |
| Sie? Sollten wir uns die Köpfe einschlagen? Ist irgendeines dieser fiktiven | |
| „Ichs“ oder „Sies“ gar ein schlechter Mensch? | |
| ## Kein Grund zum Kampf | |
| Stellen wir uns noch einmal vor, wir wären in so ziemlich allen | |
| grundsätzlichen, unser Wertefundament berührenden Fragen einer Meinung, | |
| hätten aber ein paar Differenzen darüber, wie wir mit Menschen umgehen, die | |
| diese Meinung nicht teilen (ich will mit denen reden, Sie nicht, was ich | |
| wiederum extrem dumm finde, was dann wiederum Sie extrem dumm finden). | |
| Und vielleicht haben wir auch diese gewissen Unterschiede im | |
| Erfahrungshintergrund, was nicht besonders störend wäre, würden wir uns die | |
| bei einem Bier oder Glas Wein erzählen. Sollte das ausreichen, uns Kämpfe | |
| miteinander ausfechten zu lassen? Meine bescheidene Meinung ist: Nein. Aber | |
| genau das passiert täglich im linken Sektenwesen und neuerdings sogar in | |
| der alten Tante SPD. | |
| [3][Wolfgang Thierse] sagt was, irgendwer ist dagegen, [4][Gesine Schwan] | |
| grüßt falsch, es gibt Aufregung, Thierse ist dann wieder beleidigt, | |
| irgendwer entschuldigt sich wiederum unnötig, Thierse droht mit | |
| Parteiaustritt. Sektierertum prallt auf Ego, und schon kloppt sich die | |
| Neigungsgruppe Weltverbesserung untereinander, der gemeinsame Gegner lacht | |
| sich schlapp, und Cicero freut sich über Interviews mit vielen Klicks. | |
| Kinder, Kinder. | |
| ## Zu viel Lärm um so wenig | |
| Ich muss da immer an Sigmund Freuds grandiose Formulierung vom „Narzissmus | |
| der kleinen Differenz“ denken. Jene, die uns eigentlich ähnlich sind, | |
| bekämpfen wir besonders leidenschaftlich, da wir uns von denen ja stärker | |
| abgrenzen müssen als von jenen, bei denen sich die Abgrenzung von selbst | |
| versteht. | |
| Freud hatte da als Österreicher selbstredend ein besonderes Sensorium | |
| dafür, weil wir Ösis, ich darf das hier verraten, wir grenzen uns natürlich | |
| mit besonderem Nachdruck von den Bayern ab, aber nie von den Ostfriesen, | |
| weil uns ohnehin niemand für Ostfriesen hält. Mit den Bayern jedoch | |
| verwechselt man uns schon mal. Dabei reden wir viel schöner. Freud hat ja | |
| noch nicht einmal das Internet und die Social Media gekannt. | |
| In den [5][Social Media] werden nahezu alle Menschen zu schlechten | |
| Karikaturen des Typus, den sie repräsentieren. Die Aufmerksamkeitsökonomie | |
| des Netzes belohnt das auch noch, das führt dann zur Verstärkung, wie beim | |
| Hund von Herrn Pawlow. Selbstreflexion, vielleicht sogar dieses | |
| „In-sich-Hineinhören“, sich selbst infrage zu stellen, das ist sowieso eine | |
| Tugend, oder besser, es wäre eine, hätte es nicht den Nachteil, nicht | |
| sonderlich verbreitet zu sein. Gerade bei der zunehmenden Gereiztheit in | |
| der Pandemie. | |
| Wir haben Meinungen, aber sie sind immer von Emotionen umgeben, und die | |
| Gefühle können schon das Kommando über unsere Meinungen übernehmen, zumal | |
| dann, wenn alle wegen der verschiedenen Belastungen, denen wir jetzt | |
| ausgesetzt sind, emotional vorwiegend mit sich selbst beschäftigt sind und | |
| damit vielleicht weniger Raum haben, die Emotionen anderer wahrzunehmen. | |
| Der Satz „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, ist zwar von [6][Jens | |
| Spahn], aber dennoch einer der klügeren Sätze, die in den letzten Monaten | |
| gesagt worden sind. | |
| 14 Mar 2021 | |
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| [4] /Gesine-Schwan-ueber-Olaf-Scholz/!5701993 | |
| [5] /Rechte-Social-Media/!5752124 | |
| [6] /Jens-Spahn-ueber-Homo-Heilung/!5573547 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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