| # taz.de -- Kanzlerkandidatur der Grünen: Baerbock oder Habeck? | |
| > Was, wenn ein Intellektueller die größere Innovation wäre? Ein Blick auf | |
| > die Grünen und die Kandidatenfrage bei der Bundestagswahl. | |
| Bild: Die Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock und… | |
| Ich war zum Schreiben in den USA, als entschieden werden sollte, ob Barack | |
| Obama oder Hillary Clinton 2008 ins Rennen um die Präsidentschaft gehen | |
| sollte. Die Frage, die sich die Demokraten damals stellen mussten und die | |
| medial auf und ab diskutiert wurde: Are we more afraid of a black or a | |
| woman as president? Bekommt man eine Mehrheit eher hinter einen schwarzen | |
| Mann oder eine Frau? | |
| Die Art der Fragestellung scheint mir übertragbar auf die heutige Lage in | |
| der Bundesrepublik zu sein und konkret auf die Frage, ob Annalena Baerbock | |
| oder Robert Habeck die offizielle Kanzlerkandidatur der Grünen übernehmen | |
| soll. Natürlich weiß man seit Merkel, dass in Deutschland eine Frau | |
| gewinnen kann, aber könnte es auch eine junge Frau? | |
| Schwieriger noch die zweite Frage: Könnte es ein Intellektueller, gar ein | |
| Philosoph? Die Pandemie hat die Schwächen des Landes und seiner | |
| Politikkultur offengelegt. Politisches Handeln hat man sich durch | |
| „Selbsterhaltung statt Gestaltung“ abtrainiert. Die Hilflosigkeit der | |
| Regierenden im Umgang mit Corona – aber auch der Klimakrise – zeigen: Nicht | |
| der Wille fehlt, sondern die Methode. Die Verantwortlichen wissen nicht | |
| mehr, ob und mit welchen Mitteln man die Zukunft anzugehen gedenkt. | |
| Laschet, Söder, Scholz – das sind die Üblichen. Sie stehen für | |
| Besitzstandswahrung, die für viele Deutsche jahrzehntelang Priorität hatte. | |
| Doch ein immer größer werdender Teil der Republik hat verstanden: Der | |
| Besitzstand kann nicht mehr durchs Bewahren bewahrt werden. Baerbock und | |
| Habeck haben dieses Dilemma verstanden. Wer bringt das nun am besten | |
| Wählerinnen und Wählern bei, die gewohnt waren mit „Sie kennen mich!“ | |
| umworben zu werden? | |
| ## Baerbock und Habeck funktionieren besonders gut im Team | |
| Baerbock und Habeck haben jeweils einen eigenen Stil, das zu tun und | |
| funktionieren seit drei Jahren – gerade ob dieser Unterschiedlichkeit – als | |
| Team besonders gut. Nun aber steht die Genderfrage anders im Raum als | |
| zuvor: Sie hat als Frau das Erstzugriffsrecht auf die | |
| Kanzlerinnenkandidatur. Mehr noch: Man traut ihr zu, sich dieses Recht auch | |
| zu nehmen. | |
| Aus feministischer Perspektive muss man sagen: Sie sollte sich ihr Recht | |
| nehmen. So wie sie sich entschlossen vieles andere zuvor nahm. Sie tat | |
| genau das nicht, was viele Frauen Jahre zuvor getan haben: verzichten, weil | |
| die Zeit vermeintlich nicht reif ist. Das werden ihr viele Frauen, die | |
| selbst verzichtet haben, neidvoll übel nehmen. Doch weit mehr Frauen werden | |
| in Baerbock ein Vorbild sehen. Zudem sind auffällig viele, selbst | |
| konservative Männer für Baerbock als Kandidatin. Wo ist also das Problem? | |
| Das Problem ist nicht, dass Deutsche sich vor einer Frau fürchten würden, | |
| Merkel sei Dank. Das Problem besteht darin, dass durch diese gegenwärtige | |
| Krise Merkels große Schwäche in den Vordergrund tritt: Ihr viel | |
| kritisierter Stil, auf Stimmungen zu reagieren, statt eine zukunftsfähige | |
| Politik zu entwickeln. Etwas neu zu denken oder denken zu lassen, das war | |
| nicht Merkels Stärke. Innovationen fehlen. Risikobereitschaft fehlt. | |
| Obwohl Merkel selbst Naturwissenschaftlerin ist, fehlt auch die kluge | |
| Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik. Das offenbarte sich | |
| bereits beim Thema Klima, doch die Folgen dieses Mangels zeigen sich | |
| schneller seit Corona. Im Ergebnis ist die deutsche Bürokratie sich selbst | |
| zur Aufgabe geworden, statt Aufgaben anzupacken. Deutschland fehlen in | |
| allen gesellschaftlichen Bereichen intellektuelle Debatten, die sich von | |
| Grund auf in erneuerndes politisches Handeln übersetzen ließen. | |
| ## Die Zumutung von einem Philosophen regiert zu werden | |
| Was also, wenn zum jetzigen Zeitpunkt die größere Innovation für | |
| Deutschland, die größere Zumutung, als von einer jungen Frau regiert zu | |
| werden, darin läge, von einem Politiker geführt zu werden, der sich auch | |
| als Intellektueller und Philosoph versteht? | |
| Habeck verlangt von seinen Gegenüber immer etwas mehr, als sie gewohnt | |
| sind. Wenn er sagt, man müsse den Staat schlanker machen, dann meint er | |
| eben nicht: Weg mit dem Sozialstaat. Er entwickelt in seinem neuen Buch | |
| „Von hier an anders“ neue Ansätze für festgefahrene Fragestellungen. | |
| Habeck holt beim Antworten aus. | |
| Er analysiert Probleme, die Verstrickungen und Widersprüchlichkeiten der | |
| Lösungen. Für Momente wechselt er das Register, wird zum Macher. Habeck, | |
| der Minister, der weiß, wie man regiert. Doch selbst da hinterfragt er: Wie | |
| geht Führung? Was ist Verantwortung? Wohin will Politik? | |
| Seine Sprache und sein Denken sind für jene, die lieber Vorlagen in | |
| Ausschüssen diskutieren, eine Zumutung. „Was? Er kennt sich nicht in | |
| Fachfragen aus, dabei weiß selbst ich das!“, spotten Teile der Berliner | |
| Politik-Blase. Vielleicht ist aber genau das ein Problem in diesem Land: | |
| Eine Unmenge kluger Leute arbeitet an Detailfragen, doch der Blick aufs | |
| große Ganze, auf die seit Helmut Schmidt verpönte Vision, die fehlt. | |
| ## Es war bequem mit Merkel | |
| Es war bequem mit Merkel, selbst in der Coronakrise ist ihre Sprache | |
| redundant, ihre Ideen reichen von Woche zu Woche, sie wird gefeiert, weil | |
| sie erklären kann, woraus sich eine Reproduktionszahl ableitet. Was genau | |
| will die deutsche Bevölkerung, außer Politiker ihr Klein-Klein diskutieren | |
| zu sehen? | |
| Ein Kanzler, der laut nachdenkt und eben nicht nur über Ostern, wie Laschet | |
| das groß für die Coronamaßnahmen ankündigt, das wäre eine wirkliche | |
| Herausforderung für ein Land, das sich in seiner Denkfaulheit eingerichtet | |
| hat. Seit Jahrzehnten rennen deutsche Politiker der Zivilgesellschaft, den | |
| Krisen hinterher. Gegenwartsgerechte Politik von Regierenden, wie etwa | |
| Jacinda Ardern sie in Neuseeland betreibt, ist kaum vorstellbar. Die | |
| wichtigsten Zukunftsideen werden jenseits des Parlaments diskutiert. Soll | |
| das so bleiben? | |
| Das Pandemiemanagement lehrt: Es kann so bleiben, aber wir zahlen einen | |
| hohen Preis dafür. Dabei können Politik und Verwaltungsbehörden auch | |
| Partner sein, nicht nur Papiermauern. Den Impuls für einen solchen | |
| Kulturwandel müssen Regierende setzen. Die Deformationen der letzten | |
| Jahrzehnte lassen sich nicht mehr durch pragmatische Verordnungen lösen, | |
| sondern durch neue Leitbilder von ganz oben. | |
| Wer hätte das vor Kurzem gedacht, in einer Gegenwart des politischen | |
| Zuwenig sind die Grünen die einzige Partei geworden, die beinahe ein Zuviel | |
| im Angebot hat: Hier eine kluge, verhandlungsgeschickte Politikerin, die | |
| Deutschland von der Altmännerstaubigkeit erlösen könnte. Da ein Politiker, | |
| der das Ganze neu zusammendenken kann und will. Die entscheidende Frage | |
| ist, wer von beiden in der Kandidaten-Position in der jetzigen Lage mehr | |
| positive Dynamik auslösen kann. | |
| Grundsätzlich falsch aber wäre ein Rückfall in das alte und verbrauchte | |
| Denken, wonach es nur eine oder nur einen geben kann. Die neue | |
| gesellschaftsdynamisierende Kraft der Baerbock-Habeck-Grünen geht von | |
| einer bisher nicht dagewesenen Frau-Mann-Führung aus. Dieses Zentrum | |
| braucht es auch weiter, egal wer welchen Titel führt. | |
| 7 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
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