| # taz.de -- Kanzler*innenkandidatur der Grünen: Doppelspitzen können es besser | |
| > Wie unvernünftig, immer nur auf einen zu setzen! Unser Autor plädiert | |
| > daher für mehr Führungsduos. Auch im Kanzleramt. | |
| Bild: „Er mag sie und sie mag ihn. Sie mögen sich“…Die Grünen-Vorsitzen… | |
| Am Montag wollen Annalena Baerbock und Robert Habeck bekannt geben, wer | |
| von beiden als Spitzenkandidat:in der Grünen in den | |
| Bundestagswahlkampf zieht. Besser gesagt: [1][Sie müssen.] Da die Grünen | |
| realistische Chancen haben, als stärkste Partei aus der Wahl hervorzugehen | |
| und damit Zugriffsrecht auf das Kanzleramt haben, können sie schlecht mit | |
| zwei Spitzenkandidat:innen ins Rennen ziehen. Eine:r von beiden muss | |
| es werden. Oder? | |
| Bei aller Ruhe, mit der die Partei die Entscheidung verfolgt, sie fühlt | |
| sich auch merklich unwohl damit. Nicht, weil der Machtkampf die Partei | |
| lähmen würde, sondern eher, weil man beide für geeignet hält – weil man | |
| sich wünscht, sich gar nicht entscheiden zu müssen. Aber was wäre, wenn die | |
| Grünen, wenn Baerbock und Habeck sich nicht entscheiden müssten? | |
| Anders gefragt: Warum sollte es eigentlich nicht zwei Kanzler:innen | |
| geben? Was spricht dagegen, den verantwortungsvollsten Job, der in | |
| Deutschland zu vergeben ist, mit zwei Menschen zu besetzen? | |
| [2][Schon klar, das Grundgesetz] – aber das ließe sich ändern. Der an der | |
| Universität Potsdam lehrende Verfassungsrechtler Thorsten Schmidt hält eine | |
| solche Grundgesetzänderung „für grundsätzlich denkbar“. Die sogenannte | |
| Ewigkeitsklausel der Verfassung schütze staatsorganisatorische Prinzipien | |
| wie den Föderalstaat, den Sozialstaat oder eben die Demokratie. | |
| Das Kanzler:innenamt doppelt zu besetzen sei immer noch mit dem | |
| Demokratieprinzip vereinbar, solange die Rückkopplung zum Parlament – also | |
| Wahl und Abwahl der Kanzler:innen – gewährleistet ist. | |
| Die Frage nach einem Duo an der Staatsspitze wäre also keine rechtliche, | |
| sondern eine politische. Nun rechtfertigt das „Luxusproblem“ einer Partei, | |
| die zwei brauchbare Kandidat:innen vorzuweisen hat, noch keine | |
| staatspolitische Revolution. Der Gedanke einer | |
| Doppelkanzler:innenschaft ist aber auch unabhängig davon eine | |
| Überlegung wert. Bei genauerem Hinsehen erscheint es sogar erstaunlich, wie | |
| sehr dieser Eine-Person-lenkt-den-Staat-Fetischismus im 21. Jahrhundert | |
| immer noch Mainstream ist. | |
| Also: Welche Vorteile hätte ein Duo im [3][Kanzleramt]? Zunächst das | |
| Offensichtliche. Eine Person kann unmöglich all das überblicken, was im | |
| Grunde notwendig wäre, um eine Regierung, geschweige denn ein Land zu | |
| führen. Zwei Menschen könnten dies vielleicht auch noch nicht, aber es wäre | |
| ein Schritt in die richtige Richtung. | |
| Es wundert nicht, dass das Modell „Shared Leadership“ in so | |
| unterschiedlichen Sphären wie der Kultur und der Wirtschaft längst | |
| angekommen ist. Studien haben gezeigt, dass Teams, die von mindestens zwei | |
| Menschen geführt werden, effektiver arbeiten – was beim Blick auf den | |
| Zustand der Bundesregierung schon mal ganz sympathisch klingt. | |
| In zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen stehen zwei | |
| Geschäftsführer:innen an der Spitze. Viele Start-ups, Theater und | |
| Festivals setzen auf das Modell. In Genossenschaften sind (mindestens) zwei | |
| Vorstände sogar Pflicht. Und selbst große Konzerne wie SAP und die Deutsche | |
| Bank wurden schon von Duos geführt. | |
| ## Die Einpersonenspitze ist ein Erbe der Monarchie | |
| Nun ist ein Land – [4][alle Verschwörungstheoretiker:innen bitte | |
| kurz Ohren und Augen zuhalten] – keine GmbH. Doch auch auf politischer | |
| Ebene gibt es Beispiele für kollektive Machtausübung. Zuallererst die | |
| Parteien selbst. Dass politische Doppelspitzen ausgleichend wirken und | |
| dennoch führen können, zeigen die eingangs erwähnten Grünen. | |
| In der Schweiz regiert ein siebenköpfiger Bundesrat ohne singuläres | |
| Führungsamt. In Amsterdam, London und Prag gibt es sogenannte night | |
| mayors, Nachtbürgermeister. Zwar haben diese nicht die Kompetenzen des | |
| verfassungsmäßigen Bürgermeisters. Aber offensichtlich war man der Ansicht, | |
| dass ein Bürgermeister allein für eine vielfältige Stadtgesellschaft nicht | |
| ausreicht; dass man vielleicht hier und da Aufgaben auf mehrere Schultern | |
| verteilen kann und sollte. | |
| Das führt zum nächsten, eher praktischen Vorteil: Zeitmanagement. Schon | |
| heute überfordern die Krisen der Zeit die Terminkalender der | |
| Regierungschefs. Eine Kanzlerin, die ein gleichberechtigtes Pendant an | |
| ihrer Seite wüsste, müsste nicht mehr jede Auslandsreise antreten, nicht | |
| mehr zu jedem Hochwasser die Ärmel hochkrempeln und auch nicht an jedem | |
| EU-Gipfel teilnehmen. | |
| Aber die Verantwortlichkeit!, werden jetzt einige rufen. Ja, | |
| Verantwortlichkeit lässt sich in der Politik nicht so einfach aufteilen wie | |
| zwischen zwei zeichnungsberechtigten CEOs. Aber unmöglich ist auch das | |
| nicht, wenn man das Amt weiterhin als politische Einheit begreift – | |
| ausgeführt von zwei Personen. Das Prinzip der singulären Staatsspitze berge | |
| ein „Aroma von König, Papst und Papa“, schrieb die Autorin Mely Kiyak | |
| kürzlich. | |
| Das trifft es – und es ist mehr als das. Das personifizierte Spitzenamt | |
| ist, näher betrachtet, nichts anderes als ein Erbe der Monarchie. Irgendwie | |
| scheint man bei all den demokratischen Revolutionen vergessen zu haben, | |
| nicht nur die vertikale Erbfolge abzuschaffen, sondern auch gleich die | |
| horizontale Machtausübung zu überdenken. | |
| Für ein Duo im Kanzleramt gäbe es einige technische Dinge zu regeln, | |
| zuallererst, wie angesprochen, das Grundgesetz. Würden beide | |
| Kanzler:innen vom Bundestag einzeln oder als Team gewählt? Wie sähe das | |
| Misstrauensvotum aus? Was ist mit der im Grundgesetz verankerten | |
| Richtlinienkompetenz? Alles keine unlösbaren Probleme, wenn man denn | |
| wollte. | |
| Denkbar wäre zum Beispiel, so der Verfassungsrechtler Schmidt, das | |
| Kanzler:innenamt weiterhin als verfassungsmäßige Entität zu verstehen, | |
| die Kandidat:innen also nicht einzeln, sondern en bloc vom Bundestag | |
| wählen (und auch abwählen) zu lassen. Für die Richtlinienkompetenz müsste | |
| ein Modus gefunden werden, der regelt, was geschieht, wenn sich die beiden | |
| Regierungschef:innen uneinig sind, sagt Schmidt. | |
| Schwieriger könnte das Aufdröseln des Machtgefüges innerhalb einer | |
| Koalition werden. Zwei Kanzler:innen derselben Partei würden für ein | |
| Ungleichgewicht gegenüber dem kleineren Koalitionspartner sorgen. Zwei aus | |
| unterschiedlichen Parteien würden dem Führungsanspruch des Wahlsiegers | |
| nicht gerecht. | |
| Aber auch das ließe sich mit etwas Mut und Fantasie lösen (etwa durch eine | |
| andere Arithmetik der Vergabe der Minister:innenposten). Denkbar wäre | |
| zum Beispiel folgendes Modell: Beide Kanzler:innen erhielten ein | |
| Fachressort. Beide hätten dann konkrete inhaltliche Zuständigkeiten und | |
| führten darüber hinaus im Team die Regierung an. | |
| Neu ist die Idee der Doppelkanzlerschaft nicht. Sie wurde so oder ähnlich | |
| bereits häufig diskutiert. Interessanterweise jedoch immer am Beispiel | |
| Habeck und Baerbock. Dabei wäre das Modell auch für andere Parteien | |
| geeignet. CDU und CSU hätten sich den Eiertanz von Laschet und Söder | |
| gespart, und der SPD würde es eine Doppelkandidatur vielleicht einfacher | |
| machen, nach knapp 140 Jahren mal eine Frau aufzustellen. Man könnte nun | |
| einwenden, ein Förderprogramm für schwächelnde Volksparteien rechtfertige | |
| keine Verfassungsänderung. Geschenkt. | |
| Es ist nur zu leicht, die Idee zu belächeln. Aber man könnte sich auch | |
| ehrlich machen und sich eingestehen, dass ein ganzes Land zu lenken einfach | |
| kein One-Woman-Job ist; und dass jemand, der keine gleichberechtigte | |
| Kanzlerin oder keinen gleichberechtigten Kanzler neben sich erträgt, | |
| ungeeignet ist, ein Land zu führen. | |
| 18 Apr 2021 | |
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