Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zum Umgang mit gefühlter Wahrheit: Keine Diktatur. Punkt
> Mit Austausch und Aufklärung versuchen wir, der quer denkenden
> Gegenöffentlichkeit zu begegnen. Doch nicht jeder Quatsch verdient eine
> Überprüfung.
Bild: Aluhutträger gegen Corona: Widersprüchlichkeit überwinden, indem sie i…
Sein Sohn werde gekreuzigt wie der Sohn Gottes, sagt Srdjan Đoković, ehe er
genug hat und mit den Augen rollt. Seine Frau und weitere
Familienmitglieder tun es ihm gleich. Die Gruppe erhebt sich und stimmt ein
serbisches Volkslied an. Die Pressekonferenz ist beendet.
Sohn Novak sitzt zeitgleich in Australien fest. Er will beim dortigen
Grand-Slam-Tennisturnier seinen Titel verteidigen, doch die Einreisebehörde
lässt ihn nicht rein. Ein paar Tage und Gerichtstermine später wird ihm
[1][sein Visum endgültig entzogen]. Die Australian Open starten ohne ihn.
Es ist ein Leichtes, den Fall Đoković seiner Lächerlichkeit zu überführen.
Schnell war klar, dass der Tennisstar nicht sauber aus der Sache
herauskommen würde. Denn entweder hatte er gelogen und seine Angaben, wann
und wie er getestet wurde, waren falsch. Oder aber er hatte sich asozial
verhalten und war trotz eines positiven Covid-19-Tests maskenlos auf
öffentlichen Veranstaltungen unterwegs. Der Fall hat gute journalistische
Arbeit produziert. In kleinteiliger Analyse wurde die Timeline, welche Team
Đoković angeboten hatte, auseinandergenommen und geordnet.
Noch mal: Es ist einfach, die Widersprüchlichkeiten Đokovićs
herauszustellen, [2][des serbischen Volkshelden], der in Monaco Steuern
zahlt; oder sich über die Kommunikation seines Teams lustig zu machen – die
Heiligenvergleiche und die Folklore bieten viel an. Gerade die sozialen
Medien können ihr Glück mal wieder kaum fassen. Aber was, wenn das alles
einkalkuliert ist? Was, wenn der Fall Đoković von etwas anderem als der
Wahrheitsfindung erzählt? Warum treibt sich seit Beginn der Posse der
Brexitbrandstifter Nigel Farage im Lager von Đoković herum und verteidigt
ihn in jede Kamera?
Es ist an anderer Stelle schon oft gesagt worden: Längst geht es nicht mehr
um Fakten und Wahrheiten, sondern um gefühlte Wahrheiten. Es geht um
politische Lager, um Kämpfe, um Gräben und darum, wer in welchem liegt.
Đoković ist der neueste Posterboy der politischen und kulturellen
Konter-(Konter?)-Revolution, die derzeit jedes gesellschaftliche Thema
befällt.
## Die Seifenoper der Widerstandsromantik
Ob beim Klimawandel und seinen Leugnern, bei Spontanlinguisten, die vom
Gendern überfordert sind, bei rassistischer Besorgnis vor der Überfremdung
oder bei Covid-19 und seinem quer denkenden Gemisch: Die gefühlten
Wahrheiten sind allgegenwärtig. Und weil sie emotional und umfassend sind,
lassen sie Nazis und Esoteriker die Schultern schließen, vereint gegen das
Diffuse, gegen das schwer zu Erklärende und genau dadurch wahrhaftige
Gefühl der Unterdrückung. Stolz bestehen sie auf der eigenen Rolle in der
selbst verfassten Seifenoper der Widerstandsromantik.
Im November 2020 verglich sich eine Elfjährige auf einer Querdenkerdemo in
Karlsruhe, von ihren Eltern ans Mikro gelassen, mit Anne Frank. Im gleichen
Monat gab eine Jana aus Kassel öffentlich zu Protokoll, ihr ginge es wie
Sophie Scholl, womit sie [3][kurze, bittere Berühmtheit erlangte]. Das
absolute Gefühl, im Recht zu sein, heiligt die Mittel, erlaubt es, sich
einen gelben Stern mit dem Wort „Ungeimpft“ an den Oberarm zu heften.
Ästhetische und intellektuelle Verfehlungen wie diese verdienen es
selbstredend, als ebensolche beschrieben zu werden: als schrille,
historisch verblendete, problematische bis ekelerregende
Kommunikationsdesaster. Jedoch: Was, wenn all jene, die so reden, die so
argumentieren, all dies bereits wissen?
Der allgemeine Versuch, dieser Masse an Verfehlungen Herr zu werden, ist
das Ethos des Austausches. Man schenke ihnen allen eine
Anne-Frank-Biografie! Man nehme sie mit zum Diskurs! Es wird gelanzt und
gehartaberfairt, es wird eingeladen, ins Wort gefallen und ausgeredet, ehe
es wieder in die Maske geht, ohne dass sich jemand inhaltlich bewegt hätte.
Im Gegenteil, jede Seite nimmt sich die liebsten Schnipsel des selbst
Gesagten und recycelt sie auf Twitter.
## Der Duktus der Aufklärung adelt jedwede Idiotie
Währenddessen nimmt der klassische Journalismus das wenige Geld, das er
noch übrig hat, und steckt es in Faktencheckbudgets und Recherchepersonal.
Hier wird versucht, die Realität in ihre Einzelteile zu zerlegen, sodass
sie irgendwann klein beigibt. Dem gegenüber steht der Versuch der
Bündelung. Von Querdenkern und Absolventen der Donald-Trump-Schule wird
versucht, alles einer nicht selten faschistoiden Logik zu unterwerfen. Die
Widersprüchlichkeit wird überwunden, indem sie infantil banalisiert wird.
Nun ist es löblich, dass der Journalismus das Prüfen von Gesagtem und das
Aufdecken von Verschwiegenem als Markenkern (wieder)entdeckt. Nur
entwickelt sich dieser Prozess nicht immer in dem Sinn, den er suggeriert.
Der aufklärerische Duktus, der alle ausreden lässt, der jede noch so
idiotische Aussage und jeden hanebüchenen Vergleich mit Faktenchecks adelt,
lässt oft genau jene Kräfte erstarken, denen man eigentlich die
Argumentationsgrundlage zu entziehen versucht.
Dabei ist die Faktenlage und ihre Beschwörung immer auch Selbstfürsorge. Ob
beim Abendbrot, in der Redaktion oder auf Twitter: Manchmal muss man bei
all den Verrückten und Faschisten einfach nur bestätigt bekommen, dass man
nicht den Verstand verloren hat. Es ist ein erleichterndes Gefühl, dass es
anderen auch so geht. Auf dieser Grundlage schaffte es ein Fall wie Jana
aus Kassel über den eigenen Hashtag bis zu Jan Böhmermann.
Doch es besteht die Gefahr, dass der Versuch, sämtlichen politischen
Widersprüchen mit Fakten und Sachlagen zu begegnen, etwas Neurotisch-Naives
bekommt. Dieser Impuls ist genauso wirksam, wie dem/der Fünfjährigen zu
erklären, warum das frühe Zubettgehen ja eigentlich in seinem/ihrem Sinne
sei. Die Argumente mögen noch so stichhaltig sein, dennoch will der
Nachwuchs die Playstation einfach nicht ausmachen.
## Solidarität als Gegennarrativ
Es ist nicht hinderlich, die Fakten der politischen Kräfte zu überprüfen.
Aber je extremer die Auswüchse, desto mehr ist noch eine weitere Komponente
nötig. Anstatt die eigenen gefühlten Wahrheiten zu beseitigen, wie es der
Versuch der reinen Sachargumentation suggeriert, braucht es ein
Gegennarrativ. Zum Beispiel Solidarität.
Solidarität ist durchaus auch eine gefühlte Wahrheit. Sie berührt nicht nur
Rationales, sondern auch Emotionales. Aber eine solidarische Haltung
begründet rational 2G-Regelungen und auch, warum Novak Đoković nicht bei
den Australian Open seinen Titel verteidigen darf.
Sich selbst, bei allem Glauben an die Kraft des demokratischen Austausches,
auch eine gefühlte Wahrheit zuzugestehen, ist wichtig. Es gibt Momente, da
ist es nicht die Logik, die nützt, sondern das Selbstbewusstsein eigener
Realität. Jeder kleinsten Ausführung nachzugehen, mit neurotischem
Austauschglauben, führt zur Stagnation, zu Realitätsverlust, zur Lähmung,
und das gilt sowohl für den Versuch, es mit dem Verschwörungsonkel durch
die Weihnachtstage zu schaffen, als auch für journalistisches Arbeiten und
den gesamten demokratischen Prozess.
Die Wahrheit ist: Deutschland ist keine Diktatur. Wer das Gegenteil
gegencheckt, verstärkt nur den Verdacht, dass daran tatsächlich etwas dran
sein könnte. Vielerorts ist der Punkt erreicht, an dem ein mündiger Umgang
miteinander auf Augenhöhe und ein faktenbasierter Austausch sich
gegenseitig ausschließen. Wer sich um die Wahrheit schert, muss auch
wissen, wann sie nur verschwendete Energie ist. Verschwörungstheorien und
perverse Holocaustvergleiche lassen sich mit Fakten nicht entkräften. Sie
haben eine psychologische, gar pathologische Natur. Ihre Urheber wollen
keinen Dialog, sie wollen nur sehen, wie weit sie mit der Masche kommen.
Manchmal will der Nachwuchs nur austesten, wie viele Minuten er
rausschlagen kann. Vielerorts ist es Zeit, das Kind ins Bett zu schicken.
23 Jan 2022
## LINKS
[1] /Aus-fuer-Tennisprofi-Novak-okovic/!5826364
[2] /Nach-Novak-okovics-Abschiebung/!5826373
[3] /Aufmerksamkeit-in-der-Corona-Krise/!5727369
## AUTOREN
Lukas Wilhelmi
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
"Querdenken"-Bewegung
Podcast „Vorgelesen“
GNS
Verschwörungsmythen und Corona
Adolf Hitler
Schwerpunkt AfD
NS-Widerstand
Schwerpunkt Coronavirus
Hamburg
Verschwörungsmythen und Corona
Verschwörungsmythen und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
Verschwörungsmythen und Corona
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jahrestag des Stauffenberg-Attentats: Ambivalenz aushalten
Erneut wird über die Motive der Umsturzgruppe um Graf Stauffenberg
debattiert. Es zeigt, welche Leerstellen die Widerstandsgeschichte noch
aufweist.
„Querdenker“ unterstützen Putin: Das reaktionäre „Bauchgefühl“
Erst machten sie Stimmung gegen eine angebliche „Coronadiktatur“, nun
folgen sie Wladimir Putins Kriegsgeheul. Wie Rechte um ihr Publikum buhlen.
Alle im Widerstand wie Sophie Scholl?: Bewegt auf fremde Kosten
Das Instagram-Projekt „@ichbinsophiescholl“ ist beendet. Es eröffnete einen
Identifikationsraum, der nicht der historischen Realität entspricht.
Proteste gegen Coronapolitik: „Spaziergänge“ bleiben verboten
Die Stadt Freiburg hat die Montagsspaziergänge der Querdenkenden präventiv
verboten. Das BVerfG hat einen Eilantrag hiergegen abgelehnt.
Sozialhistoriker über Diskussionskultur: „Wir müssen über Fairness spreche…
Die Gesprächskultur hat sich verändert, sagt Sven Tetzlaff von der
Körber-Stiftung. Mit dem Literaturhaus startet die eine Veranstaltungsreihe
dazu.
Kasseler „Querdenker“ im Verdacht: Bombendrohung gegen Stadtparlament
Eine Sitzung des Stadtparlaments musste am Montagabend unterbrochen werden.
Die Absender der Drohung werden im Milieu der „Querdenker“ vermutet.
Todesschuss wohl wegen Maskenpflicht: Anklage nach Mord in Idar-Oberstein
Ein 49-Jähriger soll im Herbst einen Tankstellenmitarbeiter erschossen
haben – mutmaßlich aus Ärger über die Maskenpflicht. Nun wurde er
angeklagt.
Nachrichten in der Coronakrise: Inzidenz klettert auf 840,3
Das Robert Koch-Institut meldet rund 63.000 Corona-Neuinfektionen. Bund und
Länder wollen bei ihrem Treffen über die Priorisierung von PCR-Tests
beraten.
Querdenker und Coronaleugner: An Verschwörungsgläubige gewöhnt
Coronaleugner verbreiten Tag für Tag ihre antisemitischen
Verschwörungsmythen. Doch die Empörung darüber hat abgenommen.
Umgang mit der AfD: Rechte ausgrenzen
Mit Rechten reden? Nein. Solange man die AfD ausgrenzt, schadet man ihr.
Stark ist sie dort, wo sie in Teilen der Gesellschaft normalisiert ist.
Gefühle und Krisen: Cry hard, my friends
Deutschland hat einen Faktenfetisch. Gefühle haben da keinen Platz. Dabei
sind Emotionen wichtig: Tränen wirken abführend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.