# taz.de -- Pro und Contra Kazuo Ishiguro: Kobolde und Emotionen | |
> Beim Literaturnobelpreisträger Ishiguro ist Magie da, wo sie hingehört, | |
> sagt unsere Autorin. Der aktuelle Roman enttäuscht, findet unser Autor. | |
Bild: So oder so? | |
## Pro | |
Die Begründung ist schlicht, aber richtig: In seinem knappen schriftlichen | |
Statement zum Literaturnobelpreis lobt das Stockholmer Auswahlgremium die | |
„große emotionale Stärke“ in den Erzählungen des diesjährigen Preisträ… | |
Kazuo Ishiguro (siehe Kasten). | |
Geboren wurde Kazuo Ishiguro 1954 im japanischen Nagasaki. Im Alter von | |
fünf Jahren zog er mit seinen Eltern nach Großbritannien, wo er bis heute | |
mit Frau und Tochter lebt. Nach Japan kehrte er erst als Erwachsener wieder | |
zurück. Beide Länder und ihre neuere Geschichte haben ihre feste Rolle in | |
seinen Werken. Und doch: Ishiguro ist kein autobiografischer Brückenbauer | |
und erst recht kein politischer Autor. Er ist ein Erzähler, und zwar ein | |
außergewöhnlicher. | |
Die Vorsitzende des Gremiums, Sara Danius, bezeichnet ihn als eine Mischung | |
aus Jane Austen und Franz Kafka. Das ist eine sympathische Beschreibung | |
dessen, was den Stil des diesjährigen Preisträgers ausmacht, und sie trifft | |
es noch dazu sehr gut: Leises, präzises wie zurückgenommenes Erzählen | |
eigentlich unspektakulärer Augenblicke, in denen große gesellschaftliche | |
Verhältnisse verhandelt werden, die schier erdrücken könnten, aber von | |
allen eben genommen werden müssen, wie sie sind – von den Figuren wie auch | |
von denen, die über sie lesen. | |
Am schönsten zeigt sich das in Ishiguros bekanntestem Werk „Was vom Tage | |
übrig blieb“ von 1989, für das er den Man Booker Prize bekam. Wer in den | |
letzten zehn, zwanzig Jahren Englisch als Abi-Prüfungsfach belegt hat, | |
dürfte das Buch kennen, und wer nicht, der hat vielleicht den Film mit | |
Anthony Hopkins und Emma Thompson gesehen. Die Geschichte zieht sich von | |
den zwanziger Jahren bis in die Fünfziger und erzählt von einem Butler und | |
der Frau, in die er sich spät im Leben verliebt. | |
Es ist keine glückliche Liebe; zu hartnäckig sind die Schatten, die den | |
Butler begleiten, seitdem er sich durch seine Loyalität an den politischen | |
und gesellschaftlichen Niedergang seines Lords nach dem Zweiten Weltkrieg | |
gefesselt hat. Dieses durch ein inneres Korsett verhinderte Zusammenfinden | |
ist in der Tat eine modernere Form von „Stolz und Vorurteil“, nur viel | |
schöner, schlichter und vor allem trauriger, denn am Ende des Tages bleibt | |
wenig übrig, jedenfalls nicht die Liebe. Und weil das Original von Jane | |
Austen rational geprägten LeserInnen im 21. Jahrhundert kaum noch zuzumuten | |
ist, tritt Ishiguros Roman eine würdige Nachfolge an. | |
Sein Werk entzieht sich gängigen Deutungsmustern, mag in keinen Kanon der | |
Gegenwartsliteratur so recht passen. Das ist keine kokette Exzentrik und | |
erst recht keine Frage geringen Anspruchs, wie hoch oben in den | |
Elfenbeintürmen der literarischen Hochkultur jetzt mal wieder die Nase | |
gerümpft werden wird. Im Gegenteil: Ishiguro kann was, aber er spielt nicht | |
damit. Seine Literatur ist niemals gefällig – im Gegensatz zu den immer | |
ähnlicheren Coming-of-age-Pastellwelten eines Haruki Murakami, den viele | |
als Favoriten für den Nobelpreis 2017 gehandelt hatten. | |
Ishiguro ist da als Brite ganz klassisch: Er macht eben sein Ding. Er | |
schreibt Literatur, die da ist, um gelesen zu werden. Die ihre Leser | |
berührt und von ihnen geliebt werden kann, aber auch manchmal schmerzt und | |
ausgehalten werden muss. Deshalb sind die beiden Verfilmungen, die aus ihr | |
entstanden, sehr gut und nicht peinlich wie viele andere. | |
„Alles, was wir geben mussten“ folgt dem zweiten großen Roman Ishiguros. | |
Der geht in eine völlig andere Richtung als das Frühwerk: Er erzählt von | |
einer Gruppe junger Menschen, Klonen, die quasi als Ersatzteillager für | |
Organe leben und sterben müssen, wenn sie diesen Zweck erfüllt haben. Eine | |
eigentlich wilde Dystopie, aber auch hier spielt sie wieder die größte | |
Rolle: die Liebe, die stärker als alles ist und gleichzeitig verlieren | |
muss. Und das ist eine universelle Erkenntnis. | |
„Die meisten von uns sind Butler“ hat der Autor im Interview einmal über | |
das Identifikationspotenzial seiner Figuren gesagt. „Oft wissen wir nicht, | |
welchen Beitrag wir damit leisten. Wir hoffen nur, es möglichst gut zu | |
machen.“ Deshalb habe er die metaphorische Figur des Butlers Stevens | |
gewählt. Selten, dass ein Autor die Gedankengänge hinter seinem Werk so | |
bereitwillig offenlegt. Man kann das entzaubernd finden. Aber bei Ishiguro | |
ist Magie da, wo sie hingehört: in der Welt, die seine Leser betreten | |
dürfen. (Johanna Roth) | |
## Contra | |
Gelesen hatte ich „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro nicht wegen | |
Kazuo Ishiguro, sondern wegen der euphorischen Rezensionen – und des | |
Themas. Wobei ich mich doch leise wunderte, dass sich der Autor | |
geriatrischer Liebesgeschichten („Was vom Tage übrig blieb“) und finsterer | |
Dystopien („Alles, was wir geben mussten“) nun dem „dunklen Zeitalter“ | |
zugewendet hatte. | |
Nun ist über die britischen Inseln des fünften Jahrhunderts nach Christus | |
kaum etwas bekannt. Was könnte sich da alles entfalten in diesem | |
spätantiken Post-Doomsday-Szenario! | |
So hebt Ishiguro auch an, in einnehmender Märchenonkelhaftigkeit: „Nach den | |
kurvenreichen Sträßchen und Wiesen, für die England später berühmt wurde, | |
hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, | |
ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges | |
Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen | |
waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis | |
zurückerobert.“ | |
An den Küsten landen Angeln und Sachsen an, es geht blutig zu, was das alte | |
Ehepaar Axl und Beatrice aber nicht interessiert. Es sind einfache Leute, | |
die sich auf die Suche nach ihrem Sohn machen – durch ein Land, auf dem der | |
Nebel eines rätselhaften Vergessens liegt. Die Völker vergessen ihre | |
Geschichte, nah und fern, wie auch unsere Helden im Verlauf der Suche | |
beinahe ihr Ziel vergessen. | |
Als Parabel auf das Recht zur Erinnerung und die Macht des Entfallens liest | |
sich das für eine ganze Weile packend und unheimlich, auch wenn sich bei | |
grassierender Amnesie keine rechte Geschichte in Gang setzen mag. Es rührt | |
die Zärtlichkeit, mit der Beatrice und Axl einander zugewandt sind. Und | |
meisterhaft ist die Beschreibung der wechselnden und immer irgendwie | |
versinkenden Landschaften. | |
Dann allerdings kommen die Kobolde ins Spiel. Keine metaphorischen, keine | |
Trugbilder. Kobolde. Und Hexen. Teuflische Mönche, Drachen, Menschenfresser | |
und Gawain, ein Don Quixote der Tafelrunde und alter Kumpel von König | |
Artus. Verächter des Genres kommen spätestens hier ins Seufzen – ohne dass | |
Fantasy-Freunde auf ihre Kosten kämen bei diesem „Die Nebel von Avalon“ f�… | |
Leute, die dieses niemals lesen würden. | |
Am Ende ist es, als hätte sich ein klassischer Komponist aus purer | |
Spielfreude am Schlager versucht. Ein stilistischer Ausfallschritt, mehr | |
nicht. (Arno Frank) | |
5 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
Johanna Roth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Nobelpreis für Literatur | |
wochentaz | |
Roman | |
Englische Literatur | |
Englische Literatur | |
Literatur | |
Japan | |
Wirtschaft | |
Atomwaffen | |
Nobelpreis für Literatur | |
Nobelpreis | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Film „Living“ von Kazuo Ishiguro: „Eine multiple kulturelle Aneignung“ | |
Der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat für den Film „Living“ das Drehbuch | |
geschrieben. Ein Gespräch über den Gentleman in uns und Angst vor Gefühlen. | |
Neuer Roman von Kazuo Ishiguro: Die gekaufte beste Freundin | |
In „Klara und die Sonne“ zeigt Kazuo Ishiguro unsere Leistungsgesellschaft. | |
Und zwar durch die Augen eines Roboters in Mädchengestalt. | |
Man Booker Prize für Anna Burns: Sexuelle Übergriffe und Widerstand | |
Die Jury war hingerissen, doch in Deutschland ist die diesjährige | |
Man-Booker-Preisträgerin noch weitgehend unbekannt. Das sollte sich schnell | |
ändern. | |
Anna Burns gewinnt Man Booker Prize: Erstmals Nordirin geehrt | |
Burns Roman „Milkman“ preist die Jury als Werk, das nachhallen wird: Die | |
Themen in dem Werk seien auch in der #MeToo-Ära aktuell. | |
Nachruf auf den Schriftsteller V.S. Naipaul: Die Kondition des Migranten | |
Wer verstehen will, wie es Flüchtlingen und Migranten geht, muss Naipaul | |
lesen, den Analysten der entwurzelten Seele. Nun ist er gestorben. | |
Neues Buch von Haruki Murakami: Gefährliche Blicke | |
Murakami bleibt ein großer Zauberer seiner Zeit. Doch der Roman „Die | |
Ermordung des Commendatore“ birgt auch eine neue Seite des Autors. | |
Wirtschaftsnobelpreis für US-Ökonom: Irrationales Shopping | |
Der Verhaltensökonom Richard Thaler erhält den Nobelpreis für Wirtschaft. | |
Er beschäftigt sich mit den psychologischen und sozialen Mechanismen im | |
Konsum. | |
Vergabe des Friedensnobelpreises: Gegen die Atomwaffen | |
Der Friedensnobelpreis geht dieses Jahr an die Internationale Kampagne zur | |
Abschaffung von Atomwaffen (Ican). Das teilte das Komitee am Freitag mit. | |
Kommentar Literaturnobelpreis: Ishiguro? Für die Literatur das Beste | |
Ist es eine faire Entscheidung? Das Literaturnobelpreis-Jury schert das | |
nicht, sie tut, was sie muss: gut und gerne lesen. Dafür steht auch Kazuo | |
Ishiguro. | |
Literaturnobelpreis für Kazuo Ishiguro: Was sie ihm geben mussten | |
Der Brite Kazuo Ishiguro erhält den Literatur-Nobelpreis. Der in Japan | |
geborene 62-Jährige ist vor allem für seinen Roman „Was vom Tage | |
übrigblieb“ bekannt. |