# taz.de -- Nachruf auf den Schriftsteller V.S. Naipaul: Die Kondition des Migr… | |
> Wer verstehen will, wie es Flüchtlingen und Migranten geht, muss Naipaul | |
> lesen, den Analysten der entwurzelten Seele. Nun ist er gestorben. | |
Bild: V.S. Naipaul im Oktober 2001 in Salisbury, Großbritannien | |
Berlin taz | Schon der Name war Programm. Als V. S. Naipaul erschien er in | |
der Öffentlichkeit, die Initialien anstelle der Namen Vidiadhar Surajprasad | |
schon ein Ausdruck des Bestrebens, nicht alles preiszugeben. Eine Aura der | |
Unnahbarkeit umgab Naipaul immer; sein Literaturverständnis galt als | |
elitär, sein Auftreten als herrschaftlich. Und doch hat kein anderer | |
Schriftsteller etwas so nachvollziehbar gemacht, ohne das die Welt der | |
Globalisierung nicht zu verstehen ist: die Kondition des Migranten. V. S. | |
Naipauls Literatur ist englische Weltliteratur im besten Sinne, sein Werk | |
überdauert ihn. In der Nacht zum Sonntag gab seine Familie in London seinen | |
Tod kurz vor seinem 86. Geburtstag bekannt. | |
„Ich bin kein Engländer, kein Inder, kein Trinidader, ich bin ich selbst“, | |
antwortete Naipaul einmal in einem Interview unwirsch auf die Frage nach | |
seiner Identität. Geboren wurde er 1932 auf der Karibikinsel Trinidad, im | |
britischen Empire, voller Nachkommen afrikanischer Sklaven, europäischer | |
Siedler und asiatischer Arbeiter. Seine Großeltern waren aus Indien | |
zwangstransportiert worden, sein Vater war Journalist. Mit einem Stipendium | |
zog er als 18-Jähriger nach Oxford. Er studierte und blieb – und schrieb. | |
Er ging nach London, heiratete eine Engländerin, verdiente sein Geld bei | |
der BBC und verfasste Bücher, erst unbemerkt, dann immer erfolgreicher: A | |
House for Mr. Biswas (1961) wurde zum Klassiker, 2001 erhielt er den | |
Literaturnobelpreis. Dazwischen standen Werke wie A Bend in the River, ein | |
düsteres Porträt des Kongo, oder India, das vor Vitalität und Staunen | |
sprühende Gesamttableau des Landes seiner Vorfahren. | |
Naipaul orientierte sich am englischen Literaturkanon und verachtete | |
modische postkoloniale Dogmen. Doch das postkoloniale Dilemma ist ihm | |
vertraut: Wo das Kolonialsystem alte Identitäten zerstört hat, müssen neue | |
Identitäten ohne die alten Wurzeln entstehen und „die Welt ist ständig in | |
Bewegung“, wie er in seiner Nobelpreisrede sagte. Wenn es eine Konstante in | |
seinem Werk gibt, dann die seines Buchtitels The Enigma of Arrival: die | |
Ankunft in der Fremde als Vorgang, den man nie zum Abschluss bringt. Ohne | |
Wurzeln Heimat zu finden, nur aus der eigenen Kraft heraus – darum geht es | |
in Naipauls Büchern, romanesk, autobiografisch, auch journalistisch. | |
„Das war mein Temperament: selbst im Moment des Entstehens die Möglichkeit, | |
die Gewissheit des Ruins zu sehen“, schreibt Naipaul in The Enigma of | |
Arrival. „Diese Nerven hatte ich als Kind in Trinidad teils durch meine | |
familiären Umstände erhalten: die halbruinierten oder verfallenen Häuser, | |
in denen wir lebten; unsere vielen Umzüge; unsere allgemeine Unsicherheit. | |
Vielleicht ging dieses Gefühl auch tiefer und war ererbt, etwas, das mit | |
der Geschichte kam, die mich erschuf: nicht nur Indien, mit seinen Ideen | |
einer Welt außerhalb menschlicher Kontrolle, sondern auch die | |
Kolonialplantagen von Trinidad, auf die meine verarmten indischen Ahnen | |
transportiert worden waren.“ | |
Naipaul ist ein Chronist der indischen Diaspora, aber er ist viel mehr: ein | |
Weltschriftsteller, geschätzt auf allen Kontinenten. Wer verstehen will, | |
wie es Flüchtlingen und Migranten geht, muss Naipaul lesen, diesen | |
kauzigen, verschlossenen und schonungslosen Analysten der entwurzelten | |
menschlichen Seele. Sein Tod macht die Weltliteratur ärmer, seine Kollegen | |
trauern. „Unser ganzes Leben lang haben wir uns gestritten, über Politik, | |
über Literatur, und ich bin so traurig, als hätte ich einen geliebten | |
älteren Bruder verloren“, schreibt Salman Rushdie. „RIP Vidia.“ | |
12 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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