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# taz.de -- Spaziergang mit Autor Mischa Mangel: Ein Puzzle mit Leerstellen
> Was kann man erinnern und was nicht? In seinem Roman „Ein Spalt Luft“
> arbeitet Mischa Mangel an der Rekonstruktion einer Kindheit.
Bild: Mischa Mangel am Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain in Berlin
Die Mutter eines namenlosen Protagonisten bekommt nach der Geburt eine
endogene Psychose und zieht sich in ihre eigene Welt zurück. Der Junge ist
als Säugling 21 Monate lang mit seiner kranken Mutter isoliert. Als
Erwachsener versucht er zu rekonstruieren, was in dieser Zeit geschah. Und
warum der Kontakt zur Mutter später ganz abbrach. Dabei ist er auf die
Zeugnisse anderer angewiesen. Die Perspektive der Mutter fehlt.
Das ist die Geschichte in Mischa Mangels bei Suhrkamp erschienenem
Debütroman „Ein Spalt Luft“. In Form einer Collage von verschiedenen
Erzählstimmen, Gerichts- wie Jugendamtsakten, dystopischen Märchenpassagen
und surrealen Sequenzen erzählt Mischa Mangel von der Spurensuche des
mittlerweile erwachsenen Jungen. Dazu gehören auch wissenschaftliche
Exkurse zu [1][Orna Dornaths Studie „Regretting Motherhood“] sowie der
Wirkung des Neuroleptikum Haldol.
Die Geschichte, so legen die Auszüge aus Gerichts- und Jugendamtsakten
nahe, ist real, hat sich tatsächlich so zugetragen. Wie nähert man sich so
einem Thema literarisch? Der Autor willigt ein, bei einem Spaziergang
Einblicke in den Entstehungsprozess des Romans zu geben.
Als Treffpunkt schlägt der 36-Jährige, der zunächst ein Jahr lang
Psychologie auf Lehramt und später in Hildesheim Literarisches Schreiben
studierte, den Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain in Berlin vor.
Der ausgetrocknete Brunnen, dessen Märchenfiguren, sonst von Kindern
bespielt, an diesem stürmischen Tag verwaist sind, könnte nicht besser zu
seinem Roman passen. Schließlich spielen in der Erzählwelt von „Ein Spalt
Luft“ auch Märchensequenzen eine Rolle.
## Mit all dem nicht gerechnet
Mischa Mangel kommt auf die Minute pünktlich zum Eingang des Parks. Er
wirkt aufgeregt. Das Interesse an seinem Roman, seiner Person, ist für ihn
noch neu. Er erzählt mit leiser Stimme, dass die Veröffentlichung noch
immer surreal auf ihn wirke, weil er mit all dem nicht gerechnet habe: Er
habe das Schreiben eigentlich gerade aufgeben wollen, als er sich an die
Geschichte gesetzt habe: „Ich habe noch mal studiert und dachte, ich werde
Lehrer.“ Das Schreibstudium, erklärt er, hatte ihn eher verschreckt: „Ich
habe danach verkrampfte Lyrik geschrieben.“ Als er keinen Ehrgeiz mehr
bezüglich seines Schreibens hatte, habe er gedacht: „Ich schreibe noch
diese Geschichte.“
Wie kam er zu dem Thema? Auf die Frage nach dem Realitätsgehalt des Romans
antwortet er ausweichend, der Fall sei real, die Geschichte, einschließlich
der Akten, jedoch stark bearbeitet.
Im Grunde ist die Frage auch egal: Der Roman funktioniert nicht, weil die
Geschichte, die in ihm verhandelt wird, eine reale Grundlage hat, sondern
weil es Mischa Mangel gelungen ist, eine literarische Übersetzung für ein
Thema zu finden, das kein wissenschaftlicher Artikel begreifbar machen
könnte: Was die psychische Erkrankung eines Menschen für seine Familie
bedeutet. Und was die Abwesenheit eines Elternteils, das Nichtwissen um
sein Leben und den Grund für das Nichteinnehmen der Elternrolle mit einem
Kind macht.
Genau das, was Literatur Mischa Mangels Meinung nach sollte. „Wenn
Literatur einen Sinn hat, dann den, dass man darüber Sachen zeigen kann,
die in anderen Sprachen nicht zugänglich sind“, meint er nachdenklich. „Ich
habe lange an L’art pour l’art geglaubt. Jetzt spricht mich das nicht mehr
an.“ Wie aber ist es ihm gelungen, einem so komplexen Thema literarisch
gerecht zu werden? Wie schreibt man eine glaubwürdige psychotische Sicht?
## Das Seltsame zulassen
Mischa Mangel meint lapidar: „Übermüdet.“ Er sei sonst dagegen,
literarische Prozesse zu überhöhen: „Aber das Schreiben an sich war
intuitiv.“ Auch beim Verfassen der Mutter-Stimme, der Sie-Stimme, die auf
eine psychotische Wahrnehmung von Welt begrenzt ist, habe er nicht an eine
Psychose gedacht: „Ich habe schon davor so ähnlich geschrieben und musste
im Schreibstudium oft hören, dass das, was ich schreibe, seltsam sei,
unverständlich.“ Er lacht. Und fügt hinzu, dass er natürlich auch
recherchiert habe, um endogene Psychosen und Schizophrenie einordnen zu
können.
Was es mit einem Kind macht, wenn die eigene Mutter, die Person, die einem
Kind sonst die Welt erklärt, die Person, in der sich das Kind spiegelt,
diese Welt verzerrt wahrnimmt, wird in Mischa Mangels Darstellung durch das
Erleben des Ich-Erzählers eindringlich. Eine Schlüsselszene ist die Analyse
der Therapeutin des Ich-Erzählers: „Sehen Sie, dieses Haus brennt nicht.
Wenn Sie aber ein kleines Kind sind und Ihnen jemand immer wieder sagt, das
Haus dort drüben würde brennen, dann werden Sie irgendwann Ihren Augen
nicht mehr trauen und denken, dass das Haus dort in Flammen steht …“
Der Roman, meint Mischa Mangel beim Flanieren, sei letztlich wie ein Puzzle
geworden, bei dem die einzelnen Teile nicht unbedingt ineinanderpassen. Ein
Puzzle, das kein Gesamtbild ergebe, weil eine Leerstelle bleibe, die durch
verschiedene Stimmen und Zugriffe umkreist und dadurch deutlich werde.
Mischa Mangels Stimme ist so sanft und leise, dass sie immer wieder vom
Wind und den Gesprächsfetzen Entgegenkommender verschluckt wird. Als sich
auf dem Weg eine Gruppe Kindergartenkinder in gelben Warnwesten nähert,
bricht das Gespräch ab. Ihr Lachen übertönt alles. Bis ein augenscheinlich
alkoholisierter Radfahrer an den Kindern vorbeifährt und grölt:
„Dingdangdong! Dingdangdong!“ Mischa Mangel lächelt.
## Eine tragische Situation
Auf die Form der Collagierung vieler verschiedener Stimmen, erzählt er, sei
er in einem anderen Buch gestoßen, in [2][Olivia Rosenthals Roman „Wir sind
nicht da, um zu verschwinden“]. Der handele von einem Alzheimer-Patienten,
der versucht, seine Frau zu erstechen. „Olivia Rosenthal hat diese
Nachricht genommen und darum eine Collage gebaut.“
Bei Mangel ist das ganz ähnlich geschehen. Seine Geschichte sei nach und
nach durch Hinzufügen von immer mehr Stimmen entstanden, sagt er. Nach dem
Schreiben der literarischen Er- und Sie-Stimmen habe er dem Ganzen eine
nüchterne Außensicht entgegensetzen wollen und Auszüge der Gerichtsakten
mit reingenommen: „Das hat alles verändert. Es war klar, es muss weitere
Stimmen geben.“
Es sei ihm wichtig gewesen, dass sein Roman nicht als
Dämonisierungsgeschichte gelesen werde. „Erzählt wird ja aus der Sicht des
Kindes. Und das hat, finde ich, ein Recht darauf, wütend zu sein.“ Aber nur
diese eingeschränkte Perspektive zu zeigen, meint er, wäre der Komplexität
des Falles nicht gerecht geworden: „Es handelt sich schließlich um ein
Dilemma, um eine tragische Situation, an der niemand schuld ist.“
## Risiken und Nebenwirkungen
Durch die verschiedenen Stimmen und Zugriffe sind im Roman tatsächlich alle
Beteiligten zu verstehen. Der Diskurs zu Risiken und Nebenwirkungen des
Neuroleptikums Haldol macht auch die Ausweglosigkeit der Situation
deutlich: Endogene Psychosen sind nicht heilbar, Neuroleptika können nur
die Symptome mildern. Die Nebenwirkungen von Haldol, die im Roman durch
bearbeitete Sprache und Zeilenbrüche zu moderner Lyrik werden, sind nicht
harmlos. Zu ihnen gehören Psychosen, Depressionen und Bewegungsstörungen.
Psychische Krankheiten, meint Mischa Mangel am Ende des Spaziergangs, seien
nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Körperliche Beschwerden würden
eher mechanisch gesehen. „Da geht man halt zur Reparatur und bekommt es
gerichtet. Während psychische Leiden weniger nachvollziehbar sind, weil man
sie nicht sehen oder nachfühlen kann.“ Psychische Probleme würden daher
schnell abgetan. So nach dem Motto: Reiß dich zusammen! Stell dich nicht so
an! „Aber wenn du eine Disposition hast, stellst du dich nicht an, dann
kannst du da ja nichts für, dann kannst du nicht anders. Die Trennung ist
Quatsch.“
„Ein Spalt Luft“ wirft viele Fragen auf. Unter anderem die, ob man bei der
Mutter des Erzählers, die bereits vor seiner Geburt wegen psychischen
Problemen in Behandlung war, von Reue in Bezug auf die Mutterschaft reden
kann, wie der Diskurs zu „Regretting Motherhood“ nahelegt. Oder ob sie
nicht schlicht aufgrund ihrer psychischen Disposition mit den Anforderungen
der Mutterrolle überfordert war. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob
die Entscheidung des Vaters, den Sohn auch in späteren Jahren zu seinem
Schutz von der Mutter fernzuhalten, die richtige war. Das Ende des Romans
lässt keine eindeutige Leseweise zu. Mischa Mangel meint: „Das bleibt
bewusst offen.“
1 May 2021
## LINKS
[1] /Soziologin-ueber-Regretting-Motherhood/!5295083
[2] https://www.ulrike-helmer-verlag.de/buchbeschreibungen/olivia-rosenthal-wir…
## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
## TAGS
Literatur
Porträt
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Mutter
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