# taz.de -- Berlin Fashion Positions: Taschen für das Zurückgelassene | |
> Die ukrainische Designerin Irina Dzhus verarbeitet in ihrer Mode Kriegs- | |
> und Fluchterfahrungen. „Thesaurus“ ist ihre neueste Kollektion. | |
Bild: Aus dem Lookbook von Irina Dzus' Kollektion „Transit“ für Herbst/Win… | |
Zuerst denkt man an [1][Christo und Jeanne-Claude]: Verhüllungen, schwer | |
und schützend. Aber sobald man sie berührt, merkt man, wie leicht die | |
Stoffe in Wirklichkeit sind. Es sind schwerelose Outfits, oft einfarbig, | |
viele Materialien haben beschichtete Oberflächen. Reihen eingesetzter | |
Reißverschlüsse mit dazwischengelegten Falten vermitteln den Eindruck eines | |
gestreckten Akkordeons und verschaffen dem Körper Freiheit: für eine | |
Metamorphose der gesamten Silhouette, eine langsam entfaltbare Plastik, | |
eine tonlose Musik des Körpers. | |
Die Meisterin dieser Kreationen heißt Irina Dzhus, wir treffen uns auf der | |
Berlin Fashion Positions, einem Teil der Berliner Kunstmesse Positions. | |
Dort wird in kleinen Stellwandecken in zwei Hangars des ehemaligen | |
Flughafens Tempelhof Mode in Installationen inszeniert. Dzhus, die zum | |
ersten Mal dort teilnimmt und selbst fast ausschließlich Schwarz trägt, | |
führt zu ihrer Installation. Sie zeigt Teile ihrer Kollektion für die | |
Sommersaison 2024. Sie heißt „Thesaurus“. | |
So nennt man große Wörterbücher alter Sprachen, Thesaurus linguae graecae, | |
latinae, aegyptiae. Bei Dzhus ist der Titel nicht metaphorisch. An einer | |
weißen Wand hängen ein mehrteiliger schwarzer Hosenrock, ein BH aus zwei | |
verknüpften Baseballkappen mit einer Weste, zusammengesetzt aus zwei | |
quadratischen Beuteltaschen und ein naturweißes, schlauchartiges Kleid mit | |
langen Handschuhen an den Seiten, geraffte Puffärmel. Aus dem Hosenrock | |
schauen wie Unterröcke die Blätter eines Wörterbuchs heraus, fließen in | |
Bändern aus dem Inneren des Kleids. Dzhus hat „Thesaurus“ zum ersten Mal im | |
Juli auf der Berliner Fashion Week gezeigt. | |
Hauptgedanke der Kollektion seien die radikalen innerlichen Veränderungen | |
des Menschen, ausgelöst durch die Erfahrung des Krieges, erklärt die | |
Ukrainerin: „Die Leute, die jetzt während des Krieges aus der Ukraine | |
geflohen sind, haben auch im Inneren eine Transformation erlebt. Der Anfang | |
war ein Schock. Die einzige Frage war: Wie kann ich überleben? Mit der Zeit | |
aber stellt man sich die Frage innerlicher, man fragt: Was kann ich nun mit | |
meiner Überlebensexistenz anfangen? Wie baue ich mir als Überlebende eine | |
Existenz in einer neuen Realität?“ | |
## Der Evakuierung gewidmet | |
Dzhus' voherige Kollektion, die sie [2][Anfang des Jahres bei der Berliner | |
Fashion Week] gezeigt hatte, hieß „Transit“. Es war ihre erste während des | |
Krieges entstandene Kollektion: „Sie war der Evakuierung gewidmet und den | |
notwendigen, fundamentalen Veränderungen, die Personen in extremen | |
Situationen von außen zustoßen, Veränderungen, durch die der Mensch in | |
solch extremen Situationen leben und überleben kann,“ sagt sie. | |
„Thesaurus“ erzähle von den individuellen psychologischen Folgen: „Aufgr… | |
der Katharsis durch die extreme Situation ist der Mensch in dieser nächsten | |
Phase ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Und du fängst an, alle deine | |
eigenen Lebensmaterien und Lebenswerte von Neuem zu untersuchen. Dadurch | |
eröffnen sich individuelle Eigenschaften deiner Persönlichkeit, die du | |
vorher überhaupt nicht gekannt hast.“ | |
Für „Transit“ hatte Irina Dzhus in ihre Mode ganz neue Designelemente | |
eingeführt. Am auffälligsten: die Taschen. Etwa bei einer langen Jacke, die | |
komplett aus weißen, wie Schuppen aufgesetzten Taschen besteht. Und jüngst | |
auf der ukrainischen Kunst- und Modemesse Motanka zeigte sie ein einfaches | |
und geniales Kunststück: eine schöne weiße Tasche mit drei Reißverschlüssen | |
an den Seiten und im Boden. Man öffnet sie – und schon wird aus der Tasche | |
ein Top, ein Loch für den Kopf und zwei für die Arme. | |
Die Taschen beschreibt sie als eine optische wie funktionale Idee: „Man | |
kann nur das Wichtigste mitnehmen. Mit diesem Schritt wollte ich sagen, | |
dass es mir so leidtut, nicht mehr mitnehmen zu können in unsere neue | |
Realität, nicht mehr Dinge aus unserem alltäglichen Leben.“ Im Prozess der | |
Massenevakuierungen habe es oft kaum Zeit gegeben, alle Sachen | |
zusammenzupacken, oder im Auto war kein Platz mehr. | |
„Viele Leute haben nur symbolische Sachen mitgenommen, die ihnen wichtig | |
waren, kleine Figürchen etwa, die sie immer bei sich haben wollten. Es | |
waren ganz unpraktische, wenig nützliche kleine Dinge, die nur einen | |
persönlichen Wert haben, etwas, was man im neuen Leben braucht, um seine | |
Persönlichkeit festhalten zu können.“ | |
## Genderneutrale Mode | |
Darauf sei ihre Idee mit den Taschen zurückzuführen. „Viele dachten, es sei | |
alles nur vorübergehend und schnell vorbei, aber jetzt weiß niemand mehr, | |
wie lange man noch weiter in eine andere Realität transportiert wird.“ Für | |
kurze Zeit kann man überall leben, ohne feste Verbindungen knüpfen zu | |
müssen, aber was, wenn man doch lange bleiben muss? | |
Die neuen Realitäten rühren bei Dzhus auch Fragen der Gender-Identität an: | |
„Der Mensch, der in Stereotype versunken ist, hat Angst, über seine | |
Persönlichkeit, seine Identität in der Öffentlichkeit zu sprechen. Aber | |
extreme Umstände bringen ihn zum Reden.“ | |
Dzhus sagt, erst in letzter Zeit habe sich ihre Marke in Richtung | |
genderneutrale Mode entwickelt. Plötzlich sei Unifizierung des Schnitts, | |
Unisex in der gesamten Silhouette ein wichtiger Aspekt geworden. Vor dem | |
Krieg habe sie auch in den Lookbooks Genderneutralität nie besonders | |
betont. Das sei nun anders: „Die Umstände verändern fundamentale Begriffe | |
von Mensch und Persönlichkeit.“ | |
Irina Dzhus ist 1988 in Kyjiw geboren und lebt derzeit im polnischen | |
Warschau. Sie verbrachte ihre Kindheit in der Oblast Charkiw, wuchs dort | |
bei ihren Großeltern auf, die sie als „vorbildliche, sowjetisch geprägte | |
Persönlichkeiten“ beschreibt. Der Großvater war Leiter eines großen | |
Agrokomplexes, die Großmutter war Lehrerin und investierte viel Zeit darin, | |
dem Kind Sprechen und Schreiben beizubringen. Mit drei Jahren habe sie | |
schon schreiben können, berichtet Dzhus: „Ich war sozusagen Opfer einer | |
vertieften linguistischen Erziehungsmethode.“ | |
## Frühkindlicher Berufswunsch | |
Auch gezeichnet habe sie viel mit der Oma. Der Berufswunsch Modedesignerin | |
bildete sich schon früh heraus. Es gab im Haus der Großeltern Mitte der | |
1990er Jahre eine Menge sowjetischer Modezeitschriften und Bücher über | |
Schnittkonstruktion und Nähen. Auch in der ökonomisch schwierigen Situation | |
der unabhängigen Ukraine hatten sich alle, wie zu Sowjetzeiten, selbst die | |
schönsten Sachen genäht, und sie fing an, Kleider für Puppen zu nähen. Mit | |
sieben gab sie eine eigene handgezeichnete Modezeitschrift heraus. | |
Als Dzhus zu ihren Eltern nach Kyjiw zurückkehrte, kam sie in eine | |
Kunstschule für Kinder, eine einzigartige ihrer Art in Bezug auf das Niveau | |
und Format: Die Kinder wurden von Lehrern begleitet, die allesamt bekannte | |
ukrainische Künstlerinnen und Künstler waren. Nach der Schule begann sie an | |
der KNUTD, der Kyjiwer Nationalen Universität für Technologie und Design, | |
ein Studium in „Künstlerische Projektierung der Erzeugnisse der Textil- und | |
Leichtindustrie“. Aber die Enttäuschung war sehr groß, vieles war | |
grundsätzlich veraltet. | |
Ihre wichtigsten Prägungen erhielt die Designerin daher vor und nach dem | |
Studium. Mit 14 bereits machte sie die Bekanntschaft mit der Designerin | |
Viktoria Krasnova, die mit ihrer sehr avantgardistischen und | |
konzeptionellen Auffassung von Mode eine Berühmtheit der damaligen | |
ukrainischen Modeszene war. In Dzhus' Entwürfen habe Krasnova sofort | |
gesehen: Hier denkt jemand die Mode neu! | |
Es ist erstaunlich, wie grundsätzlich Irina Dzhus oft über Mode nachdenkt. | |
Einmal sagt sie: „In der Kunst gibt es keine Grenze, sie ist metaphysisch. | |
Im Design gibt es diese Grenzen. Design ist dialektisch.“ | |
9 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Marina Razumovskaya | |
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