| # taz.de -- Friedensnobelpreise 2022: Wie hält man das aus? | |
| > Oleksandra Romantzowa und ihre Organisation dokumentieren | |
| > Kriegsverbrechen in der Ukraine. Auf einen Kaffee mit der Trägerin des | |
| > Friedensnobelpreises. | |
| Bild: Freude über den Friedensnobelpreis: im Center for Civil Liberties in Kiew | |
| „Ich brauche ein paar Tage Ruhe, um neue Kraft zu tanken. Und um mir | |
| klarzumachen, dass es noch etwas anderes gibt als diesen Krieg“, sagt | |
| Oleksandra Romantzowa. Die ukrainische Menschenrechtlerin sitzt an diesem | |
| frühherbstlichen Sonntag Anfang September vor einem Café im Berliner | |
| Stadtteil Neukölln. Der Krieg ist auch hier allgegenwärtig. An den | |
| Balkonen, aber auch in den Fenstern vieler Wohnungen hängen blau-gelbe | |
| Flaggen. | |
| Romantzowas Wunsch nach einer kurzen Auszeit ist verständlich. Die | |
| 36-Jährige ist Direktorin der ukrainischen Nichtregierungsorganisation | |
| [1][„Zentrum für bürgerliche Freiheiten“] (CCL). Das Zentrum hat sich mit | |
| 26 anderen Organisationen zu einem Bündnis namens „Tribunal für Putin“ | |
| zusammengeschlossen. | |
| Die Aufgabe: [2][Kriegsverbrechen] dokumentieren. Romantzowas Team, das für | |
| den Großraum Kyjiw zuständig ist, gehören 22 Mitarbeiter*innen an. | |
| Bislang sind beim CCL landesweit 17.000 Fälle aktenkundig. Das Zentrum hat | |
| 22 Plattformen im Internet eingerichtet. Dort können sich Ukrainer*innen | |
| melden, die Opfer von Kriegsverbrechen geworden sind oder entsprechende | |
| Gräueltaten beobachtet haben. | |
| Wie hält man das aus? „Das sind traumatische Erlebnisse, aber wir haben bei | |
| der Arbeit Psycholog*innen an unserer Seite“, sagt Romantzowa. „Wir | |
| alle sind im Dauerkampfmodus und ständig an der Front. Doch anders als ab | |
| 2014 sind jetzt viel mehr Menschen betroffen. Dabei denke ich immer wieder: | |
| Tschetschenien, Georgien, Syrien – was wäre gewesen, wenn die | |
| internationale Staatengemeinschaft schon damals reagiert hätte?“ | |
| Romantzowa, die aus Mykolajiw stammt, ging zum Studium nach Kyjiw. | |
| Mitterweile hat sie drei Masterabschlüsse – in internationaler Ökononomie, | |
| Projektmanagement sowie Konfliktmanagement und Mediation. 2013 arbeitete | |
| sie in gehobener Position in einer Bank, die Karriere schien vorgezeichnet. | |
| ## „Wir fixieren Fakten“ | |
| Im Herbst 2013 weigert sich der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch, ein | |
| Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Zigtausende gehen | |
| wochenlang auf die Straße. Die Proteste kosten über 100 Menschen das Leben. | |
| In dieser Zeit stößt Romantzowa zum CCL, das die Hotline „Euro-Maidan-SOS“ | |
| eingerichtet hat. Anrufen können diejenigen, die verletzt worden sind und | |
| juristische Unterstützung brauchen. Oder Menschen, die auf der Suche nach | |
| ihren Verwandten sind. „Wir haben mehr als 300 Vermisste gefunden und den | |
| Kontakt zu ihren Familien hergestellt“, sagt Romantzowa. | |
| Im Mai 2014 hängt sie ihren Job in der Bank an den Nagel und widmet sich | |
| fortan ganz der Menschenrechtsrechtsarbeit. Eines der ersten Projekte ist | |
| die Zusammenstellung von mobilen Freiwilligengruppen, die ausschwärmen, um | |
| auf der Krim und im Donbass Fakten über Kriegsverbrechen zu sammeln. Vor | |
| allem geht es dabei um Ukrainer*innen, die in russische | |
| Kriegsgefangenschaft geraten sind. | |
| Romantzowa konzentriert sich auf den Donbass, um den ein Krieg zwischen | |
| pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee tobt. Sie fährt über | |
| 40 Mal in den Osten der Ukraine, aber auch ins kroatische Vukovar und den | |
| Kosovo, um sich in der Dokumentation von Kriegsverbrechen weiterzubilden. | |
| Erste Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen finden Romantzowa und ihre | |
| Mitstreiter*innen in offen zugänglichen Quellen wie Medienberichten | |
| oder sozialen Netzwerken. Daran schließt sich ein Besuch vor Ort an. „Dort | |
| kommen immer mehr Fälle ans Tageslicht. Dabei versuchen wir, nicht zu viele | |
| Details zu erfragen, das könnte weitere Ermittlungen beeinträchtigen. Wir | |
| fixieren nur Fakten“, sagt die Menschenrechtlerin. Das Vorgehen der | |
| russischen Armee folge immer denselben Mustern: Gezielter Beschuss von | |
| kritischer Infrastruktur wie Krankenhäusern, Schulen sowie willkürliche | |
| Festnahmen. | |
| Schlussendlich übergibt die Organisation ihre Unterlagen der ukrainischen | |
| Generalstaatsanwaltschaft, die dann versucht, die Fälle mit | |
| Zeug*innenaussagen gerichtsfest zu machen. Dieser begegne die | |
| Bevölkerung mittlerweile mit Vertrauen, hat Romantzowa beobachtet. „Die | |
| Menschen wollen reden. Ihre größte Angst jedoch ist, dass die Besatzer | |
| wieder zurück kommen“, sagt sie. | |
| ## Was ihr Kraft gibt | |
| Wie die meisten Nichtregierungsorganisationen in der Ukraine ist auch das | |
| CCL von Zuwendungen ausländischer Spender*innen abhängig. Die | |
| Finanzierung über Crowdfunding ist bislang überschaubar. Demgegenüber | |
| erlebt das Engagement Freiwilliger einen regelrechten Boom in der Ukraine, | |
| auch schon vor Beginn des Ukrainekriegs. | |
| Am meisten belastet Romantzowa, dass die Menschen nicht nur unter dem | |
| Erlebten leiden, sondern sich mit der Frage quälen würden, warum die Russen | |
| ihnen das angetan hätten. Das seien doch Menschen wie sie, noch dazu mit | |
| einer gemeinsamen Geschichte. „Aber, sagt Romantzowa, „das vergrößert | |
| vielleicht auch die Fähigkeit in unserer Gesellschaft zur Kritik.“ | |
| Kraft gibt der CCL, dass ihre Vor-Ort-Besuche durchweg positiv aufgenommen | |
| werden. Tenor: Endlich höre jemand zu, würden alle von den Grausamkeiten | |
| erfahren. „Dann merken wir immer wieder, dass das, was wir tun, wichtig | |
| ist, vor allem dann, wenn diese Verbrechen vor Gericht kommen. Das gibt den | |
| Menschen das Gefühl, dass sie leben.“ | |
| Im Mai flog Romantzowa nach langer Zeit wieder einmal ins Ausland. So viel | |
| Himmel habe sie lange nicht gesehen. „Ich guckte aus dem Flugzeug und | |
| dachte nur: Da ist eine Klinik, die nicht geschützt ist, dort eine Schule…. | |
| Leute, ich hoffe, dass ihr eine gute Luftabwehr habt“. Immer dabei hat sie | |
| einen Rucksack mit dem Aufdruck: Made in Ukraine, belong to the world. Das | |
| mache die Menschen neugierig und sie stellten Fragen. | |
| Ihre Antwort lautet dann immer. „Wenn wir nicht gewinnen, habt ihr ein | |
| Problem. „Die Ukrainer*innen“, sagt sie, sind keine Engel. Aber wir haben | |
| etwas, das auch für Europa wichtig ist: Wir wollen Partner*innen sein. | |
| Das zeigt auch dieser Krieg. Wir sind entschlossen, unseren Staat selbst zu | |
| gestalten. Diese Energie haben wir.“ Mit der Verleihung des | |
| Friedesnobelpreises dürfte das CCL jetzt noch mehr davon bekommen. Barbara | |
| Oertel | |
| ## *** | |
| ## Die anderen Preisträger | |
| ## Erinnern für die Zukunft | |
| [3][Memorial] hat mehr als 30 Jahre lang Zeugnisse der stalinistischen | |
| Verbrechen gesammelt. Im Russland Putins ist die Organisation verboten | |
| Der sowjetische Schlächter Josef Stalin hat Millionen von sowjetischen | |
| Bürgern – und nicht nur ihnen – das Recht, ein Mensch zu sein, oft auf | |
| brutalste Art nehmen lassen. Millionen Menschen ließ er deportieren, | |
| Millionen im Gulag schuften, diesem menschenverachtenden, erbärmlichen | |
| Lagersystem, das sich über sein rotes Sowjetreich wie eine Art | |
| Fliegengitter gelegt hatte. Rot wie Blut. Bis heute wird in Russland nicht | |
| gern über die Vergangenheit gesprochen, nicht über die Opfer, nicht über | |
| die Täter. Manchmal waren auch Täter Opfer. | |
| Dass die Enkel- und die Urenkelgeneration dieser Geschundenen, aber auch | |
| selbst Töchter und Söhne der Verbannten und Gequälten etwas über ihre | |
| Vorfahren herausfinden konnten, manchmal Namen nur, Daten, Geburtsorte, | |
| Lagerorte, das haben sie Memorial zu verdanken. Einer Gruppe von Männern | |
| und Frauen, die sich 1987, zu Zeiten von Gorbatschows Perestroika, | |
| zusammentaten, um dieser Vergangenheit, so schrecklich und erschreckend sie | |
| war, eine Stimme zu geben. | |
| An ihre Spitze setzte sich damals Andrei Sacharow, der „Vater der | |
| sowjetischen Wasserstoffbombe“, der später in die Verbannung geschickt | |
| wurde, unter Überwachung durch die Behörden, und zum sowjetischen | |
| Dissidenten wurde. Mehr als 30 Jahre lang sammelten sie, was sie finden | |
| konnten. Das wurde mit den Jahren immer schwieriger. Die Archive sind kaum | |
| mehr zugänglich, Putins repressiver Staat, der in Stalin einen „effektiven | |
| Manager“ sieht, wartete mit immer neuen Hindernissen auf. Bis ein Moskauer | |
| Gericht Memorial im vergangenen Dezember verbot. | |
| Die Vergangenheit, zumindest die unmittelbare, sie ist nicht wichtig im | |
| Russland Putins. Im Russland Putins ist die Vergangenheit von vor 1.000 | |
| Jahren wichtig, als das russische Reich groß und mächtig war. | |
| Memorial aber schaffte eines: mit leisen Tönen die Hüterin der Erinnerung | |
| zu sein, die es braucht, um sich als Mensch zu begreifen. Für viele ist die | |
| Organisation eine „Augenöffnerin“, weil sie Vergessenen die Würde | |
| zurückgibt. Weil sie so auch den Hinterbliebenen ein Stück Identität | |
| verschafft. | |
| Gerade die heutige Generation junger Menschen macht sich manchmal auf die | |
| Reise quer durchs Land, zu unwirtlichen Orten, an denen oft nur noch | |
| verfaulte Holzbretter liegen, weil das offizielle Russland von sowjetischen | |
| Schandtaten wenig wissen will. Memorial aber wollte es wissen. Es wird | |
| immer schwerer für die unerschrockenen Geschichtsaufklärer*innen, auch mit | |
| einem Friedensnobelpreis. Inna Hartwich | |
| ## Einer von 1.348 | |
| Ales Bjaljazki sitzt in [4][Belarus] in Haft. Der zehnte Jahrestag von | |
| Tschernobyl machte ihn zum Aktivisten | |
| Seit dem 14. Juli 2021 geht Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki, | |
| Gründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation [5][Vjasna], nicht | |
| mehr an sein Telefon. Seit diesem Tag ist der Literaturwissenschaftler, | |
| Lehrer für Belarussisch und Russisch und Träger des alternativen | |
| Nobelpreises von 2020 in Haft. Offiziell gibt es weder eine Anklage noch | |
| einen Gerichtsbeschluss. Und trotzdem ist klar, dass der Belarusse in Haft | |
| ist, weil Diktator Lukaschenko Menschenrechtsarbeit nicht schmeckt. | |
| Es war nicht die erste Haftstrafe für Bjaljazki. Bereits von 2011 bis 2014 | |
| war er, angeblich wegen Steuerhinterziehung, im Gefängnis. Kaum eine | |
| Persönlichkeit steht in Belarus so für die unabhängige Demokratie- und | |
| Menschenrechtsbewegung wie Ales Bjaljazki. Es war der 10. Jahrestag der | |
| Katastrophe von Tschernobyl, als der Aktivist 1996 mit den Behörden | |
| aneinander geraten war. Am Vorabend des Jahrestages hatte er mit ansehen | |
| müssen, wie belarussische Milizionäre eine Gedenkveranstaltung brutal | |
| auseinander getrieben hatten. | |
| In einem ersten Schritt unterstützte Bjaljazki gemeinsam mit Weggefährten | |
| die Verletzten und Inhaftierten, stand den Angehörigen bei. In einem | |
| zweiten Schritt entschieden sich die Freunde um Bjaljazki, eine | |
| Menschenrechtsorganisation zu gründen. Und so entstand „Vjasna96“, zu | |
| deutsch „Der Frühling 96“. Seit ihrer Gründung hat sie Tausende juristisch | |
| beraten und betreut. Inzwischen gilt Vjasna als beste Adresse für alle, die | |
| sich einen Überblick über die Menschenrechtslage in Belarus verschaffen | |
| wollen. Auf ihrem Portal spring96.org findet sich eine Datenbank der | |
| Verfolgung, aktuell mit 1.348 Namen von politischen Gefangenen. Inzwischen | |
| kann die Organisation nur vom Ausland aus aktiv sein. | |
| Neben Bjaljazki sind noch sechs weitere Mitarbeiter von Viasna in Haft: | |
| Walentin Stefanowitsch, Wladimir Labkowitsch, Leonid Sudalenko, Marfa | |
| Rjakowa und Andrei Chapjuk. Auf Bjaljazki warten seine Frau Natalja und | |
| sein Sohn Adam. Bernhard Clasen | |
| 7 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
| Inna Hartwich | |
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