# taz.de -- Mutmaßliche Kriegsverbrechen: Die Toten von Isjum | |
> Nach dem Fund hunderter Gräber in Isjum werfen Ermittler den russischen | |
> Besatzern Kriegsverbrechen vor. Einwohner erzählen von Folter. | |
Bild: Rettungskräfte exhumieren die Leiche eines Zivilisten | |
ISJUM taz | „Die meisten Menschen aus meinem Haus, ehemalige Nachbarn, | |
liegen hier“, sagt der 33-jährige Serhij Schtanko, der [1][im Wald bei | |
Isjum] vor den endlosen Gräberreihen steht. Er lebte in einem | |
Fünfgeschosser nahe der Fußgängerbrücke von Isjum. | |
Dieses Wohnhaus wurde von russischen Kampfflugzeugen am 9. März morgens um | |
neun während eines Versuches, die ukrainische Stadt zu stürmen, zerstört. | |
Serhij erinnert sich daran, dass die meisten seiner Nachbarn damals in | |
einem Keller saßen, der von einer Granate getroffen wurde. „Die Menschen | |
wurden im Keller verschüttet. Nach offiziellen Angaben hat man jetzt 46 von | |
ihnen identifiziert, sieben noch nicht. Wie viele Menschen sich noch in dem | |
Keller befinden, ist nicht bekannt, weil man erst einen Monat später | |
begonnen hatte, die Leichen dort zu bergen“, so Serhij. | |
Er selber hat wie durch ein Wunder überlebt. Während des Beschusses war er | |
bei seiner kranken Mutter in ihrer Erdgeschosswohnung geblieben. „Nach dem | |
Granateinschlag stürzte ich in den Keller, zusammen mit Ziegelsteinen und | |
einem Schrank. Ich konnte mich befreien, und meine damals bettlägerige | |
Mutter herausziehen. Die, die sich unter dem mittleren Teil des Hauses | |
befunden hatten, starben. Sechs Menschen, die am Rand des Kellers gesessen | |
hatten, überlebten“, erzählt Serhij. | |
## „Nach einigen Minuten verliert man das Bewusstsein“ | |
Ein anderer Einwohner von Isjum namens Maxim blieb ebenfalls durch ein | |
Wunder am Leben. Der 50-Jährige wurde von Angehörigen der ukrainischen | |
Streitkräfte gerettet, als sie die Stadt am 8. September von der russischen | |
Besatzung befreiten. | |
Maxim wurde am 3. September beschuldigt, aufgrund von gewöhnlichen | |
Papierlandkarten der Gebiete [2][Charkiw] und Donezk, die in seiner Wohnung | |
gefunden worden waren, zu spionieren und so der ukrainischen Artillerie bei | |
ihren Angriffen geholfen zu haben. Deshalb wurde er in den Keller einer | |
ehemaligen Polizeistation gebracht. | |
Die Okkupanten, so Maxim, hätten große Achtung vor Kriminellen gehabt, aber | |
Angehörige der Anti-Terror-Operation (ATO) im Donbass, bestehend aus | |
Angehörigen der ukrainischen Armee, die gegen die prorussischen | |
Separatisten eingesetzt wurden, gefoltert. | |
„Ich hatte nur die Gartenpforte geöffnet, da schrien sie gleich: ‚An die | |
Wand! Hände an die Wand!‘. Ich wurde gefesselt und abgeführt. Sie brachten | |
mich in die ehemalige Polizeiwache. Dort waren Zellen. Im Erdgeschoss saßen | |
Kriminelle, aber alle, sagen wir mal, Politischen oder Menschen, die sie | |
mit dem Krieg in Verbindung brachten, waren im Keller, also quasi unter den | |
Kriminellen“, erinnert sich Maxim. | |
Er erzählt, dass die russischen Besatzer Ukrainer gerne mit Stromstößen | |
gefoltert hätten. „Es gab diese Folter mit Strom. Sie fesseln dich mit | |
Handschellen, hier sieht man noch die Spuren davon. Dann setzen sie dich | |
auf einen Stuhl und legen Elektroden an. Es gibt dort so ein spezielles | |
Gerät, das ‚Tapik‘ heißt. Bei jedem Stromstoß beginnst du zu zittern. Ich | |
war auch an den Beinen gefesselt. Ich fiel hin und hatte überall | |
Schürfwunden. Das ist ein ziemlich heftiger Schmerz. Nach einigen Minuten | |
verliert man das Bewusstsein. Ich glaube, man hält das etwa 15 bis 20 | |
Minuten durch. Hinterher habe ich gefragt, wie lange ich bewusstlos gewesen | |
war. Sie sagten, etwa 40 Minuten.“ | |
## Verhöre und Folter mit Säcken über dem Kopf | |
Maxim zeigt die Schrammen und Narben an seinen Handgelenken und Füßen. Er | |
weiß nicht genau, wo genau sie ihn gefoltert haben, weil er immer mit einem | |
Sack über dem Kopf zu den „Verhören“ gebracht wurde. Die fanden immer in | |
dunklen Räumen statt und die „Ermittler“ selber trugen Stirnlampen, so dass | |
man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. | |
„Sie haben nach allen gesucht, die auf welche Weise auch immer den | |
ukrainischen Widerstand unterstützt haben. Sie haben sich für diejenigen | |
interessiert, die pro-ukrainisch waren, ob nun Angehörige der | |
Territorialverteidigung oder der ATO. Ich war eine Woche dort. Am 3. | |
September hatten sie mich eingesperrt, am 8. September wurden wir befreit. | |
Das verdanken wir unserer Armee“, erzählt Maxim. | |
Er steht nur fünf Meter von einem Massengrab entfernt. Hier fanden am 15. | |
September Ermittler aus Charkiw bestattete Armeeangehörige, die direkt vor | |
und während der Besatzung der Stadt im Frühjahr gestorben waren. | |
## 445 verscharrte Zivilisten | |
Nach Angaben von Olexandr Filtshakow, dem Leiter der Staatsanwaltschaft des | |
Gebietes Charkiw, wurden im Wald von Isjum bereits 445 verscharrte | |
Zivilisten und ein Massengrab mit 17 Leichen ukrainischer Soldaten | |
gefunden. Am Handgelenk eines getöteten Soldaten kann man noch zwei | |
Armbänder in den ukrainischen Nationalfarben erkennen. | |
„In dem ersten Grab, das wir geöffnet haben, fanden wir eine Leiche mit | |
einem Strick um den Hals. Eine Leiche mit Anzeichen eines gewaltsamen | |
Todes“, sagt er. | |
Bei mindestens einem exhumierten Soldaten waren die Hände gefesselt. | |
Filtschakow fügt hinzu, dass die Menschen, die sie jetzt exhumiert haben, | |
zwischen März und Mai diesen Jahres gestorben sind. Die Todesgründe sind | |
Raketen- bzw. Artilleriebeschuss, Ermordung, Luftangriffe. | |
Die Gräber waren erst am Vortag entdeckt worden, ein Ermittlungsverfahren | |
nach Artikel 438, Absatz 2 des Strafgesetzbuchs („Verletzung der Gesetze | |
und Gebräuche des Krieges“) wurde eingeleitet. | |
## Beweismittel für einen Prozess in Den Haag | |
Der Leiter der Ermittlungsabteilung der Staatspolizei der Ukraine im Gebiet | |
Charkiw, Serhiy Bolwinow, ergänzt, dass die Ermittlungen an den Gräbern | |
erst am 16. September begonnen haben. Hier arbeiten jetzt rund 200 | |
Ermittler, Kriminalisten, Gerichtsmediziner, Ärzte und Staatsanwälte. | |
„Wir haben die Menschen identifiziert, die an den Bestattungen beteiligt | |
waren und Registrierungsunterlagen sichergestellt, aus denen hervorgeht, | |
dass in diesem Gebiet 445 Leichen begraben wurden. Es gibt eine Liste, die | |
diejenigen geführt haben, die die Menschen bestattet haben. Hinter jeder | |
Nummer steht Vor- und Familienname und auch das Datum der Bestattung. | |
Einige der exhumierten Leichen konnten wir schon identifizieren“, erklärt | |
Bolwinow. | |
Er ist davon überzeugt, „dass jeder normale Mensch versteht, dass es sich | |
hier um [3][Kriegsverbrechen] der Raschisten (ukrainischer Neologismus für | |
„russische Faschisten“; Anm. der Redaktion) an der ukrainischen Bevölkerung | |
handelt.“ | |
„Dies ist die bislang größte Begräbnisstätte von Zivilisten, die während | |
der Besatzung des Gebietes Charkiw ums Leben gekommen sind. Aber es gibt | |
Informationen über weitere solche Orte, die wir derzeit prüfen“, sagt ein | |
Polizist. Und er fügt hinzu, dass seit Kriegsbeginn in Folge russischer | |
Angriffe rund 1.200 Zivilisten in der Region umgekommen seien, darunter 54 | |
Kinder. | |
Die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden denken, dass alle hier erstellten | |
Materialien später bei einer Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof | |
in Den Haag als Beweismittel dienen können. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
18 Sep 2022 | |
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Juri Larin | |
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