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# taz.de -- Augenzeugenberichte im Ukraine-Krieg: Briefe, die sich im Innern st…
> Unsere Autorin sammelt beruflich Berichte von Menschen über Krieg und
> Gefangenschaft. Nach Feierabend einfach abzuschalten, ist schwierig.
Bild: Manchmal weint am anderen Ende der Telefonleitung stundenlang eine Mutter
Seit Beginn des russischen Großangriffs habe ich Tag für Tag Zeugenaussagen
von Ukrainern gesammelt, deren Angehörige in Gefangenschaft geraten sind,
vermisst werden, aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sind. Ich trage sie
zusammen und gebe sie an Menschenrechtsaktivisten und -organisationen
weiter.
Nach vier Interviews bin ich normalerweise wie betäubt. Aber für Pausen ist
keine Zeit. Die Anzahl der Menschen, mit denen wir sprechen müssen, liegt
schon bei über 500.
„Ich flehe Sie an, mir zu helfen, meinen Mann zurückzuholen. Zwei kleine
Kinder warten auf ihn und vermissen ihn sehr.“
„Mein Bruder und seine Tochter werden vermisst: acht Jahre alt, Autismus.
Das Mädchen spricht nicht.“
„Im März meldete sich mein Sohn nicht mehr. Wir haben ein Video entdeckt
mit [1][Menschen, die aus dem Stahlwerk Azovstal] kamen. Sagen Sie bitte,
ob er es ist oder nicht. Wir müssen wissen, ob er noch lebt. Ich flehe Sie
an.“
Viele denken, dass ich ihre Angehörigen finden kann. Andere, dass ich Leute
aus der Gefangenschaft herausholen kann. Ich fühle mit jedem Einzelnen von
ihnen. Zehnmal am Tag wiederhole ich: „Bitte verzeihen Sie mir, aber ich
kann Ihren Sohn, Mann, Ihre Schwester, Ihr Kind nicht retten. Ich sammle
nur Aussagen.“
Manchmal höre ich mir den ganzen Tag Aussagen von Gefangenen über ihre
Foltererfahrungen an. Manchmal weint am anderen Ende der Telefonleitung
stundenlang eine Mutter. Es ist schrecklich, in den Zuschriften den Namen
oder das Foto eines Bekannten zu entdecken. Es ist schwierig, wenn nach dem
Wort „vermisst“ das Wort „Mariupol“ steht. [2][Du weißt nicht, ob in d…
Stadt überhaupt noch Menschen am Leben sind]. Am schmerzlichsten ist es,
wenn ein Brief uns informiert, dass ein ukrainischer Soldat in
Gefangenschaft getötet wurde und die weitere Suche nach ihm vergeblich ist.
Doch neben alldem gibt es Momente des Glücks: Inmitten der Briefe eine
kurze persönliche Mitteilung: „aus der Gefangenschaft zurückgekehrt“ oder
„am Leben, wir haben ihn in einem Video entdeckt“. Ich wusste vorher nicht,
dass man von Texten umarmt werden kann.
Alle diese Briefe stapeln sich in meinem Inneren, ohne dass sie eine
Möglichkeit haben, dort herauszukommen. Abends schalte ich den Computer
aus, gehe mit dem Hund spazieren, vertiefe mich in ein Buch. Bei mir ist
alles in Ordnung. Alle meine Angehörigen, Freunde und Bekannten sind zu
Hause. Sie werden nicht vermisst, sind nicht gestorben und nicht in
Gefangenschaft.
Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie: die Fotos, Namen
und Lebensgeschichten der Menschen aus meinen Briefen auf der anderen Seite
meiner Augenlider.
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [4][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat [5][Verlag edition.fotoTAPETA] im
September herausgegeben.
2 Oct 2022
## LINKS
[1] /Austausch-von-Kriegsgefangenen/!5880165
[2] /Ukrainische-Stadt-als-Kriegsziel/!5864879
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[4] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245248
[5] https://www.edition-fototapeta.eu/
## AUTOREN
Anastasiia Opryshchenko
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kyjiw
Zeitzeugen
Menschenrechte
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