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# taz.de -- Kriegsalltag in der Ukraine: Kyjiw, mein Hund und ich
> Kurz vor Kriegsbeginn bekommt unsere Autorin einen Hund. Das ist viel
> Arbeit, aber hat ihr auch geholfen, die Zeit der Luftangriffe besser zu
> überstehen.
Bild: In einem Außenbezirk von Kyjiw
„Hallo, ich bin die Mutter eines Kriegsgefangenen, Sie sind unsere letzte
Hoffnung, ihn lebend zurückzubekommen.“ So beginnt der Großteil der
Nachrichten, die ich in meinem Job seit dem 24. Februar erhalte. Tag und
Nacht gehen Anrufe und Briefe ein, es sind schon mehr als 500. Und alle
zerreißen sie einem das Herz. Wie spricht man mit denen, die das Teuerste,
was sie im Leben hatten, verloren haben? Wie hört man die Geschichten
derjenigen an, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sind, ohne
anschließend eine Stunde zu weinen? Ich weiß es nicht. So etwas lernt man
nicht an der Uni.
Ein halbes Jahr bevor der Großangriff auf unser Land begann, hatte ich
angefangen, als Journalistin zu arbeiten. Ich hatte gerade mein
Masterstudium abgeschlossen. Trotz der angespannten Lage glaubte ich nicht
ernsthaft daran, dass er wirklich ausbrechen würde. Mehr noch, ich war
überzeugt, dass es keinen Krieg geben würde. Dafür erfüllte sich ein
Kindheitstraum: ich bekam einen Hund, einen Spaniel namens Dina.
„Ich wusste ja, wir hätten sie nicht nehmen sollen, aber jetzt ist sie halt
da“, sagte Papa zu mir, als die ersten Raketen auf Kiew flogen.
Hätte ich nicht den Hund und die täglichen damit verbundenen Routinen, dann
hätte ich all das, was seit dem 24. Februar passiert ist, vielleicht gar
nicht ausgehalten. Sind Sie schon einmal mit einem Hund zum Impfen
gefahren, während am Stadtrand Granaten einschlugen? Vielleicht haben Sie
schon Hundekacke aufgesammelt, während über Ihnen die Luftabwehr gerade
eine Rakete zerstörte?
Oder haben Sie schon eine Woche überall nach Hundefutter für Ihren Liebling
gesucht und dann die letzten 15 Kilogramm bei einem sehr verdächtigen Mann
in einer Garage gefunden, irgendwo am Stadtrand? Haben Sie jemals darüber
nachgedacht, was Sie den Soldaten sagen, wenn Ihr Hund nach Beginn der
Sperrstunde dringend noch mal raus muss?
Ich habe Dina vier Tage vor Kriegsbeginn bekommen und weiß seitdem nicht
mehr, was Schlaf ist. Am Anfang wachte sie acht Mal in jeder Nacht auf und
winselte. Trotz allem ging das Leben weiter. Ich blieb in Kyjiw und sah,
wie sich die Stadt innerhalb einer Woche in eine Festung verwandelte.
Ängstliche Menschen saßen in Schutzbunkern, suchten nach Geldautomaten und
Medikamenten, gingen vorsichtig im Stadtzentrum spazieren, erstarrte mitten
auf der Straße und scrollten auf ihren Smartphones durch die Nachrichten.
Und wenn sie nicht mit Worten vom Krieg sprachen, taten sie es mit Blicken.
[1][Jetzt sind die meisten geflohenen Kyjiwer zurückgekehrt]. Die Menschen
sprechen wieder über ihre Pläne für die Woche, über Schulen, Prüfungen.
[2][Sie suchen Jobs oder Wohnungen]. Alle, die in der Stadt geblieben
waren, erkennt man an ihrer Ruhe und Gelassenheit. Wir kennen alle
Freiwilligenzentren, alle offenen Apotheken, wissen, wo Brot gebacken wird,
auch dann, wenn die Stadt belagert wird. Diejenigen, die zurückkamen,
erkennt man an ihren Streitereien, an der nervösen Angewohnheit, sich bei
jedem Luftalarm nach den gepackten Koffern im Flur umzudrehen.
Ja, jetzt ist es ruhig in der Stadt. Aber der Krieg geht weiter. Ich gehe
immer noch [3][beim Dröhnen der Luftalarmsirenen] mit dem Hund spazieren.
Wir haben immer noch Angst vor lauten Geräuschen.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung].
Ein Sammelband mit den Texten ist unter dem Titel „Krieg und Frieden. Ein
Tagebuch“ Anfang September im [6][Verlag edition.fotoTAPETA] erschienen.
15 Sep 2022
## LINKS
[1] /Rueckkehr-zum-Leben-in-Kiew/!5846339
[2] /Heimkehr-aus-dem-westukrainischen-Exil/!5865346
[3] /Luftalarm-in-Kiew/!5844506
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[5] /!p4550/
[6] https://www.edition-fototapeta.eu/
## AUTOREN
Anastasiia Opryshchenko
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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