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# taz.de -- Alltag in der Ukraine: Ausgangssperren und Maulbeeren
> Kino, Fitnessstudio und der See gehören in der Ukraine noch zum Leben
> dazu – zumindest zwischen den Sperrstunden. Ein Blick in den Alltag in
> Kyjiw.
Bild: Badende im Wasser des Dnipro in Kyjiw bei Sonnenuntergang – kurz vor de…
In einem Witz, der hier im Internet kursiert, heißt es: „Leben, das ist
das, was man zwischen zwei Luftalarmen tut.“ Ich würde es anders sagen:
Leben, das ist das, was man in der Zeit zwischen zwei Sperrstunden tut. In
Kyjiw beginnt sie um 23 Uhr abends und endet um 5 Uhr morgens.
Alles, was tagsüber abläuft – wenn wir das mal oberflächlich betrachten –
[1][unterscheidet sich praktisch nicht von dem, was vor einem Jahr war].
Ich wohne in der Nähe eines Sees und einer Bucht. An beiden Orten ist die
Badesaison in vollem Gange. In der Bucht können Katamarane, Kajaks und
Boote gemietet werden.
Eines Abends ging ich hinaus, um mich ans Wasser zu setzen. Dort hörte ich
folgendes Gespräch: „Es macht dir doch nichts aus, wenn ich die Grenze ein
wenig verschiebe? Bitte warne mich vor, wenn du über mich herfallen willst.
Aber ich habe eine superstarke Luftabwehr“ – zwei Jungen spielten in ihren
Sandburgen.
Sportstudios sind geöffnet. Auch die Kinos haben ihre Arbeit wieder
aufgenommen. Ich habe mir „Der schlimmste Mensch der Welt“ von Joachim
Trier angesehen. Über eine junge Frau in den Dreißigern, die sich selbst
sucht. Vor einem Jahr war dieses Thema auch für mich aktuell. Doch jetzt
scheint es mir, als sei dieses ganze Suchen nach sich selbst etwas aus
einem vergangenen Leben. Die Prioritäten haben sich geändert. Die Ziele
haben sich verengt – darauf, den Krieg zu beenden, unseren Sieg. Für viele
ist das tägliche Ziel einfach nur zu überleben.
Übrigens: Ungefähr zehn Zuschauer verließen das Kino, ohne den Film bis zum
Ende gesehen zu haben. Das heißt nicht unbedingt, dass er ihnen nicht
gefallen hat. Die U-Bahn schließt derzeit früher. Alle müssen jedoch
[2][vor der Ausgangssperre] ankommen. Diese Regel gilt für alle, auch für
Taxifahrer.
Vor der Ausgangssperre kann man jedes Dach, jedes Gebäude betreten. Aber
gegen 22 Uhr herrscht Aufbruchstimmung, die Rechnung kommt und man wird
höflich gebeten, zu gehen. Das Personal muss ja auch noch nach Hause
kommen.
Doch Leute, die dagegen verstoßen, gibt es. Die Kyjiwer Polizei berichtete
Ende Juni über das Ergebnis nächtlicher Razzien: 420 kontrollierte [3][Bars
und Restaurants], zwei von ihnen arbeiteten während der Ausgangssperre. 219
Vorladungen wurden dem Militärregistrierungs- und Einberufungsamt
übergeben. Allerdings führen solche Strafen zu Diskussionen in der
Gesellschaft. Das Militär und sogar der Verteidigungsminister sprachen sich
dagegen aus. „Denn dem Land zu dienen und das Land zu verteidigen, ist
definitiv keine Strafe.“
Inzwischen lerne ich die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Etwa zwanzig
Minuten vor Beginn der Ausgangssperre gehe ich hinaus und esse Maulbeeren
vom Baum. „Ich genieße hier jede Sekunde. Das ist eine ganz andere
Realität“, sagte mir unlängst ein Bekannter. Er ist beim Militär und war
für ein paar Tage von der Front nach Kiew gekommen.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
Finanziert wird das Projekt von der [4][taz Panter Stiftung]. Einen
Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im
September heraus.
20 Aug 2022
## LINKS
[1] /Rueckkehr-zum-Leben-in-Kiew/!5846339
[2] /Treibstoff-Engpaesse-im-Ukraine-Krieg/!5857704
[3] /Alkohol-im-Ukraine-Krieg/!5845767
[4] /!p4550/
## AUTOREN
Olena Makarenko
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ausgangssperre
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