# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Preis und Verlockungen des Sieges | |
> Die Erfolge der ukrainischen Armee bei Charkiw haben die Stimmung der | |
> Menschen gehoben. Doch Militärs mahnen einen realistischen Blick auf die | |
> Lage an. | |
Bild: Bombenkrater auf einem Feld nahe dem befreiten Isjum in der Ukraine | |
Luzk taz | Nach den jüngsten Erfolgen der ukrainischen Armee gegen die | |
russischen Besatzer hat Pavel Vyshebaba eine klare Botschaft: „Meine | |
Anweisungen für die Gegenoffensive sind folgende: 1. Freut euch über | |
unseren Triumph. 2. Bedenkt den Preis des Sieges. 3. Bedenkt den Preis des | |
Sieges. 4. Bedenkt den Preis des Sieges“. Vyshebaba ist einer der | |
bekanntesten ukrainischen Kämpfer, er schreibt in sozialen Medien über den | |
Alltag an der Front – dies gab er nun den „Hitzköpfen“ mit auf den Weg, … | |
auf eine schnelle, siegreiche Offensive hoffen. | |
Vyshebaba hat ein gutes Gespür für die Stimmung seiner Mitbürger – sie | |
hinterlassen Hunderte von Kommentaren unter seinen Texten. Und es stimmt, | |
der Vormarsch hat ihre Stimmung gehoben. Ähnlich war es nach dem Abzug der | |
russischen Truppen aus der Region Kyjiw, der Zerstörung des Kreuzers | |
„Moskwa“ und den ersten Anschlägen auf die Stützpunkte der Besatzer auf d… | |
Krim. Aber als in den sozialen Netzwerken die Euphorie über den Sieg im | |
Gebiet um Charkiw und den Vorstoß im Süden begann, warnte Vyshebaba | |
schnell: „Noch ist nicht die Zeit, den Sieg zu feiern, der Preis dafür ist | |
zu hoch.“ | |
Was er damit meint, weiß Oleh Kuch, Vorsteher der Gemeinde Ljubeschow in | |
Nordwolhynien, fast an der Grenze zu Belarus. Er bereitet sich auf die | |
Begräbnisse von gleich vier Soldaten vor. So viele Tote an einem Tag gab es | |
in hier nicht einmal während des schrecklichen Beschusses in den | |
ostukrainischen Städten [1][Sjewjerodonezk und Lyssytschansk] im Mai und | |
Juni. | |
Zu Beginn der jetzigen Offensive im Ort Balaklija äußerten sich auch der | |
Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Waleri Saluschni, und der ehemalige | |
Kommandeur der Luftlandetruppen, Michailo Sabrodski, öffentlich mahnend. | |
Die Generäle schrieben in einem Artikel, dass die Gesellschaft sich von | |
Illusionen verabschieden solle, dass es nun bald vorbei sei – der Krieg | |
werde noch bis 2023 dauern. | |
## In welche Richtung wird die Ukraine die Offensive fortsetzen? | |
Ein Zeichen dafür, dass die Regierung die unbeliebte Mobilisierung | |
verlängern muss. Es gibt wie gesagt auch auf ukrainischer Seite Verluste, | |
und ein Teil der Soldaten muss aus gesundheitlichen Gründen demobilisiert | |
werden. Dem werden schon bald neue Mobilmachungen folgen. Und das bedeutet, | |
dass die Gesellschaft keine Zeit hat, zur Ruhe zu kommen oder gar den Krieg | |
zu vergessen, so wie im Frühling 2015, als es nach der heißen Phase der | |
Mehrheit der Ukrainer so schien, als ob sie ihr Leben einfach weiterleben | |
könnten, und der Krieg nur im Donbass stattfand. | |
Der [2][erstaunliche Vormarsch] der Ukraine zwang die russischen | |
Streitkräfte in der vergangenen Woche zum chaotischen Rückzug und verschob | |
die Frontlinie um einige hundert Kilometer. Es ist schwer abzuschätzen, in | |
welche Richtung die Ukraine ihre Offensive nun fortsetzen wird. | |
Bemerkenswert, dass Wolodimir Selenski und andere hohe Persönlichkeiten | |
sich nicht in die Karten schauen lassen und nur sehr wohldosiert über ihre | |
Absichten berichten. Verständlich aber, denn die ukrainische Armee ist der | |
russischen zahlen- und waffenmäßig immer noch unterlegen. Würde man die | |
ukrainische Armee auf zu vielen Kriegsschauplätzen gleichzeitig einsetzen, | |
wären sie deutlich anfälliger für russische Gegenangriffe. Zugleich klar, | |
dass man Chancen vergibt, wenn sich die Truppen zu langsam oder in die | |
falsche Richtung bewegen. Zu langes Abwarten würde zum Einfrieren der Front | |
im Winter führen. | |
Nach dem Erfolg im Gebiet Charkiw muss die ukrainische Armee jetzt die | |
befreiten Gebiete verteidigen. Auch das ist eine Aufgaben, die viele | |
Ressourcen bindet, etwa bei der Minenräumung und der Suche nach russischen | |
Saboteuren. | |
## Aus militärischer Sicht sei es wichtig, auch die Krim zurückzuholen | |
Die ukrainischen Streitkräfte haben jetzt verschiedene Möglichkeiten: Wenn | |
sie die Russen aus dem Nordosten vertrieben haben, könnten sie jetzt weiter | |
in Richtung Donbass oder stärker nach Süden vorstoßen. Die Bevölkerung | |
unterstützt beide Pläne, das Vertrauen in die Armee ist immens. Aber das | |
Zeitfenster, in dem die Ukraine Möglichkeiten hat, die russische Panik und | |
das Chaos unter den abziehenden russischen Truppen auszunutzen, ist klein. | |
Jeder weitere Tag ermöglicht Russland, seine Truppen zu konsolidieren, um | |
zur Taktik der zermürbenden Artillerieschlachten zurückzukehren. | |
Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, und | |
der stellvertretende Vorsitzende des Komitees für nationale Sicherheit, | |
Michailo Sabrodski, denken schon an die ferne Zukunft. Sie versuchen, die | |
Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es aus militärischer Sicht notwendig | |
sei, auch gleich die Krim zurückzuholen. Dabei gehe es auch um eine | |
Identifizierung von Verrätern, den Übergang und die Integration in die | |
Ukraine. | |
Es gibt noch eine weitere potentielle Möglichkeit, wie sich die Ereignisse | |
entwickeln können. Experten haben schon früher darauf hingewiesen: Russland | |
kann beginnen, systematisch Objekte der ukrainischen Infrastruktur | |
anzugreifen. Am Abend des 11. September führten russische Angriffe dazu, | |
dass fünf Gemeinden im Osten der Ukraine ganz oder teilweise ohne Strom | |
waren. Sie hatten eine Anlage in Charkiw beschädigt, die einen Großteil der | |
Region mit Strom und Wärme versorgt. | |
Einige Tage später schlugen acht russische Raketen in Krywyj Rih ein, der | |
Heimatstadt von Präsident Selenski. Dort trafen sie die Schleusen eines | |
Stausees, was zu Überflutungen in der Stadt und gleichzeitig zu einer | |
Unterbrechung der Wasserversorgung führte. Es war eine deutliche Mahnung | |
von russischer Seite: Trotz der russischen Niederlage in einer Schlacht ist | |
der Krieg noch lange nicht vorbei. Bis dahin hatte es keine gezielten | |
massiven Angriffe auf zivile, strategisch wichtige Infrastruktur gegeben. | |
Eine aktuelle Umfrage des internationalen Kyjiwer Instituts für Soziologie | |
ergab übrigens: 87 Prozent der Ukrainer halten [3][territoriale | |
Zugeständnisse] für inakzeptabel – 3 Prozent mehr als im Juli. Nur 8 | |
Prozent denken, dass man bestimmte Gebiete abtreten solle, um den Krieg zu | |
beenden. Sogar in der Ostukraine, wo zur Zeit die heftigsten Kämpfe | |
stattfinden, sind 85 Prozent gegen Zugeständnisse an Russland. | |
Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey] | |
18 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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