| # taz.de -- Ukraine-Krieg bei der Buchmesse: Imperialer Charakter | |
| > Der russische Angriffskrieg und eine Zukunft ohne Putin, beides war am | |
| > Mittwoch gleich mehrmals Thema auf Podien bei der Frankfurter Buchmesse. | |
| Bild: Wolgograd im August 2023: Jugendliche mit Knarren beim patriotischen Man�… | |
| Es scheint fast unmöglich, während der Buchmesse über die Zukunft Russlands | |
| zu sprechen. Da ist zum einen der Schock des 7. Oktober 2023 in Israel, der | |
| nachhallt und der den Blick weglenkt von der Ukraine. | |
| „Es sieht leider so aus, als habe Putin die Schleusen geöffnet, und jetzt | |
| haben wir Destabilisierung überall auf der Welt. Erst Bergkarabach, jetzt | |
| der Terror gegen Israel“, sagt [1][der im Exil lebende russische Autor | |
| Sergei Lebedew] im Gespräch mit der taz in Frankfurt. Natürlich reiche auch | |
| der lange Arm Russlands bis zur Hamas, über den Iran, meint Lebedew. Die | |
| Verbindungen dieser Achse nutze Russland aus. | |
| Zum anderen scheint es derzeit unmöglich, sich eine positive Zukunft | |
| Russlands auch nur vorzustellen. Selbst wenn – egal in welchem Szenario – | |
| das Putin-Regime irgendwann zusammenbricht, werde „Russland seinen | |
| imperialen Charakter behalten“, meint Lebedew. Diesen zu bekämpfen sei | |
| Mammutaufgabe der russischen Gesellschaft in der Zukunft. | |
| ## Sicherer Nachbar | |
| „Es geht nicht nur um die Beseitigung von Putin, es geht um die Integrität | |
| dieses Staates. Wie man ihn in eine Art Union verwandelt und wie man ihn zu | |
| einem sicheren Nachbarn macht.“ Dies allerdings scheint Zukunftsmusik zu | |
| sein, derzeit steht Russland an einem anderen Punkt und beschwört weiter | |
| seine archaische Vergangenheit. | |
| Das wird beim Talk „Hoffnung für Russland: Irgendwer, irgendwie, | |
| irgendwann?“ deutlich, den der PEN Berlin am Mittwoch veranstaltet. Die | |
| russischen Exil-Schriftsteller Dmitry Glukhovsky und [2][Michail | |
| Schischkin], Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sowie die | |
| Historikerin und [3][Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa (Memorial)] | |
| diskutieren mit Deniz Yücel, der moderiert. | |
| Scherbakowa sieht zunächst die Verpflichtung zur Geschichtsbewältigung: | |
| Russ*innen müssten „mit der Vergangenheit aufräumen“. Von einer Zukunft | |
| zu sprechen fällt auch Glukhovsky, der im August in Russland in Abwesenheit | |
| zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, schwer. „Russland hatte eine Zukunft, | |
| es gab eine jüngere Generation, die die Freiheit wollte“, sagt er. Nur sind | |
| diese Freiheitskämpfer*innen in der inneren Emigration, leben längst | |
| im Exil oder sitzen im Gefängnis. „Russland lebt in Angst und wird von | |
| Konformismus beherrscht“, sagt der 44-Jährige. Das sei die Norm in | |
| Russland, Heroismus die Abweichung. | |
| ## Immer weiter entfernt | |
| Dass ukrainische und russische Künstler*innen sich immer weiter | |
| voneinander entfernen, stellen die Diskutierenden mit Bedauern fest. Nur | |
| wenige ukrainische Schriftsteller*innen seien noch bereit, gemeinsam | |
| mit oppositionellen russischen Kolleg*innen die Bühne zu betreten – | |
| wegen deren Nationalität. „Ich verstehe das, ich kann den Ukrainern nichts | |
| vorwerfen“, sagt Michail Schischkin. „Irgendwann werden wir wieder Brücken | |
| bauen müssen. Wir Schriftsteller stehen doch für die Weltkultur und stellen | |
| uns gegen die Barbarei.“ | |
| Claudia Roth nutzt die Gelegenheit, um sich gegen Kulturboykotte | |
| auszusprechen. Sie erinnert daran, dass es auch „das andere Russland“ gebe, | |
| etwa eine lebendige LGBTQ-Szene und eine starke Umweltbewegung. Nur würden | |
| diese Menschen kriminalisiert. „Wir müssen uns fragen, wie wir diesen | |
| Stimmen eine Plattform geben können.“ Die Frage von Schuld und | |
| Verantwortung ist eine weitere, die russische Exilant*innen bewegt. | |
| Auch über den imperialen Charakter der klassischen russischen Literatur | |
| wird diskutiert, der Name Puschkin fällt. Schischkin meint, die | |
| „Verantwortung der russischen Literatur ist kompliziert“ und brauche viel | |
| mehr Raum, während Glukhovsky glaubt, klassische russische Literatur sei | |
| ganz wesentlich eine humanistische, weil sie oft auf der Seite des | |
| „einfachen Mannes“ stehe. | |
| ## Die Perspektive der anderen | |
| Verständnis herrscht gegenüber denjenigen Ukrainer*innen, die der | |
| russischen Gesellschaft eine (Mit-)Schuld am Angriffskrieg geben. „Dass wir | |
| nicht genug gegen Putin gekämpft haben, ist wahr“, so Scherbakowa. Sie | |
| kritisiert diejenigen im Exil, die in erster Linie darüber sprechen, was | |
| sie selbst verloren haben – statt die viel bitterere ukrainische | |
| Perspektive zu sehen. | |
| Scherbakowa stellt im Rahmen der Messe am [4][Fritz-Bauer-Institut] auch | |
| das von Memorial initiierte Projekt „Stimmen des Krieges“ vor. Die | |
| Menschenrechtsorganisation sammelt seit Beginn des Angriffskriegs Stimmen | |
| von Betroffenen aus der Ukraine, die über ihr Alltagsleben seit dem 24. | |
| Februar 2022 sprechen. Zahlreiche Kriegsverbrechen werden in dieser | |
| Sammlung dokumentiert. | |
| Sergei Lebedew meint derweil, es müsse ein Mentalitätswandel, auch unter | |
| oppositionellen Russ*innen, einsetzen. „Russische Intellektuelle | |
| diskutieren heute viel über ukrainisches Kriegshandeln. Was wurde richtig | |
| gemacht? Was wurde falsch gemacht? Es ist einfach an der Zeit, den Mund zu | |
| halten. Das ist einzig und allein Sache der Ukraine!“ | |
| Wenn man auch nicht viel sagen kann über die Zukunft in Russland, sicher | |
| scheint, dass die imperialen Denkmuster innerhalb aller Kreise der | |
| russischen Gesellschaft aufgearbeitet werden müssen, bevor ein Morgen | |
| denkbar werden kann. | |
| 19 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sergej-Lebedews-Roman-ueber-Giftmord/!5793155 | |
| [2] /Russische-Sprache/!5846598 | |
| [3] /Frankfurter-Buchmesse-und-die-Ukraine/!5887457 | |
| [4] /Fritz-Bauer-Ausstellung-in-Braunschweig/!5818527 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse | |
| Russland Heute | |
| Energiekrise | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Krise der Demokratie | |
| Buch | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Slavic Core“ auf Social Media: Kulturelle Unterschiede wegtanzen | |
| Der Trend Slavic Core übergeht die Diversität Osteuropas. Angesichts des | |
| russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kann er gravierende Folgen | |
| haben. | |
| Buch über Russland nach Putin: Postsowjetische Dämonen | |
| In „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ erzählt Sergei Lebedew von | |
| einem Russland nach Putin. Er setzt auf Vergangenheitsbewältigung. | |
| Reportage aus der Ukraine: Freiheit des Wortes | |
| Unsere Autorin reiste auf Einladung des PEN Ukraine in das vom Krieg | |
| beherrschte Land. PEN-Mitglieder dort bringen sich durch ihre Arbeit in | |
| Gefahr. | |
| AfD und die Frankfurter Buchmesse: Attraktiver Behälter ohne Inhalt | |
| Die Bedrohung der Demokratie von rechts ist auch auf der Buchmesse Thema. | |
| Auf Veranstaltungen wurden wichtige Fragen zum Erstarken der AfD gestellt. | |
| Frankfurter Buchmesse und die Ukraine: Hoffen auf den Sturz Putins | |
| Wie geht Literatur in Zeiten des Krieges? Russische Dissidenten und | |
| ukrainische Schriftsteller sprechen auf der Frankfurter Buchmesse. | |
| Autor Andrej Kurkow im Gespräch: „Wir Ukrainer sind hoch motiviert“ | |
| Andrej Kurkow glaubt fest an den Sieg über Putins Russland. Sein aktueller | |
| Roman „Samson und Nadjeschda“ blickt humorvoll in die Geschichte. | |
| Irina Scherbakowa über Putin: „Donbass ist nicht gleich Krim“ | |
| Russland überfällt die Ukraine. Historikerin Irina Scherbakowa über Putins | |
| Lügen, die Stimmung in Moskau und die Blindheit des Westens. |