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# taz.de -- Reportage aus der Ukraine: Freiheit des Wortes
> Unsere Autorin reiste auf Einladung des PEN Ukraine in das vom Krieg
> beherrschte Land. PEN-Mitglieder dort bringen sich durch ihre Arbeit in
> Gefahr.
Bild: In den Kopf geschossen: das Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Schew…
Der Krieg in der Ukraine ist noch nicht vorbei. Das ist keine überraschende
Aussage, dennoch so wahr wie erschreckend, nach mehr als anderthalb Jahren.
Die Kämpfe aber haben sich unterdessen auch dank Luftabwehrsystemen fast
ausschließlich in den Osten des Landes verlagert, Medien berichten von
einer Stagnation der Lage.
Nicht mehr in Kyjiw, aber im Donbas sterben noch heute täglich Menschen,
ohne ein Vor oder ein Zurück, in den Schützengräben, beim Treten auf
Mienen, im Artillerie-Feuer. Ein Krieg, der hierzulande großes Entsetzen
auslöste, doch nun, überlagert von zahlreichen anderen Krisen und Kriegen
in der Welt, immer mehr aus dem Fokus rückt, immer weniger präsent ist.
Auch aus diesem Grund hat die [1][Schriftsteller*innenvereinigung
PEN (Poets, Essayists, Novelists)] der Ukraine eine Delegation von
europäischen PEN-Zentren nach Kyjiw eingeladen. Eines der Ziele war, für
die Situation der Schriftsteller*innen, Journalist*innen und
Aktivist*innen in dem Land im Krieg zu sensibilisieren.
Der Einladung gefolgt sind sieben Vertreter*innen europäischer
PEN-Zentren: Ann-Margit Austena aus Norwegen, Per Christian Ohr-gaard aus
Dänemark, Peter Mickwitz aus Finnland, Henrik Sjöberg aus Schweden, Faruk
Sehic aus Bosnien und Herzegowina, Stefan Todorovic aus Montenegro und eben
ich vom PEN Berlin.
Am Bahnhof erwarteten uns Alisa Bondarenko und Maksym Sytnikov,
Mitarbeiter*innen des PEN Ukraine, und mit ihnen fuhren wir schweigend
und staunend das erste Mal durch ein Kyjiw im Krieg. Die Atmosphäre in der
Stadt ist zermürbend, man sieht völlig normal aussehende Menschen, hier und
da einen Soldaten, niemand spricht Englisch, überall neue Häuser gleich
neben auffällig fensterlosen, Sandsäcke vor Kellerfenstern und den
Eingängen zu den Metro-Stationen: „Unsere größten Bunker“, sagt Tetyana
Teren, die Managerin des Mitarbeiter*innen-Teams.
Alles will normal sein, alles konterkariert sich selbst, in einer Ecke
steht ein Pärchen, sie liegt ihm sehr aufgelöst in den Armen, er trägt
einen olivgrünen Rucksack. In der Nacht müssen wir wegen des Luftalarms in
den Bunker des Hotels.
## Wunsch nach Leben
Einige meiner Kolleg*innen waren so gegenwärtig und haben ihr Notizbuch
mit hinunter genommen, eine Frau, die auch in dem Hotel wohnt, sogar ihren
Laptop. Doch es gibt hier unten kein Netz, und ich frage mich dort nun das
erste Mal wirklich, wie kann man schreiben, in diesem Gemisch aus Wunsch
nach Leben, dem Verlust, der Angst, der Freude, noch da zu sein, dem
Abschied, dem Mut, dem Kampf jeden Tag, wo kann da Platz sein für die
Freiheit des Wortes, wie es alle PEN-Zentren der Welt als Motto haben.
Der Kampf für die Freiheit des Wortes, für das Schreibenkönnen, auch wenn
nichts mehr geht, wenn Unterdrückung, Repression und die eigene Angst so
stark sind, dass man doch gelähmt sein müsste, wie kann er geführt werden,
in diesem Land im Krieg?
Krimtartar und PEN-Ukraine-Präsidiumsmitglied Alim Aliev versucht sich
selbst diese Frage zu beantworten: „In der Ukraine ist die Gesellschaft
aktuell zwiegespalten. Entweder man ist Teil der Armee, dann ist die Rolle
ganz klar. Oder man unterstützt die Armee mit den Mitteln, die man hat. Ich
sehe meine Mitgliedschaft im Präsidium des PEN als ein Mittel, den Kampf
meines Landes zu unterstützen. Für etwas anderes hat man keine
Kapazitäten.“
Unterstützung der Armee, aber wie? Der PEN Ukraine leistet ganz praktische
Hilfe, fährt mit Medikamenten an die Front. Aber auch mit Journalist*innen.
„Denn was wir auch sehen, ist die Notwendigkeit, die Schrecken des Krieges
jetzt zu dokumentieren. Nicht erst aus der Erinnerung heraus.“ Und so ist
auch unsere Delegation ein Teil dieses Versuchs. Ausländische
Journalist*innen und Intellektuelle ins Land zu holen, ihnen die Folgen
eines grausamen Krieges zu zeigen, das ist im Moment das, was der PEN
Ukraine hauptsächlich tut, vielleicht auch, weil die eigenen PEN-Mitglieder
keinen Gedanken haben für einen literarischen Text.
## Butscha, Irpin, Borodjanka
Und so folgt unser Zeitplan einem straffen Programm, wir laufen durch
Kyjiw, fahren nach Butscha, Irpin, Borodjanka. In ein Dorf zwei Stunden
entfernt von Kyjiw, Jahidne, gehen dort in den Keller einer Schule, in dem
die 300 Bewohner*innen des Dorfs während der russischen Besatzung leben
mussten. Wir sehen die Zerstörung, führen Gespräche mit Menschen, die die
russische Besatzung überlebten, es ist alles nur schwer auszuhalten.
Wir treffen Roman Koval von Truth Hounds, einer Organisation, die
Kriegsverbrechen untersucht, an den Orten selbst Beweise sammelt, Gespräche
führt, Berichte anfertigt, manchmal auf Gesuch der Regierung, manchmal
durch Tipps und Bitten anderer Ermittler, die selbst zu viel zu tun haben
und jede Hilfe dankend annehmen.
Wir treffen Maria Tomak, die Leiterin der Krim-Plattform der ukrainischen
Regierung, die gekommen ist, um uns zu erzählen, wie es ist, aktuell auf
der Krim zu leben. „Wir haben Narben gesehen“, sagt sie. „Die sahen aus w…
ein Hakenkreuz. Das passiert, wenn man sich weigert, einen russischen Pass
anzunehmen. Sie schneiden dir dieses Zeichen in die Schulter, denn als
Ukrainer*in muss man ein Nazi sein. Oder sie töten dich einfach. Sei
russisch oder tot, darum geht es in diesem Krieg.“
Und wir treffen Oksana Guk, Pressesprecherin des Vivat Verlages, der seinen
Sitz in Charkiw, also schon fast an der Frontlinie hat. „Wir arbeiten
weiter“, sagt sie, „ich selbst im Moment von Kyjiw aus, aber wir hören
nicht auf. Gerade jetzt, wo die Russen unsere Kultur bekämpfen, ist es umso
wichtiger, so viel Literatur wie möglich von ukrainischen Autor*innen zu
publizieren. Wir bei Vivat wollen ein ukrainisches Kulturgedächtnis
anlegen.“
Und viele der Veröffentlichungen sind Neudrucke, die wenigsten wurden im
Krieg geschrieben. Auch aus einem sehr profanen Grund: „Zahlreiche unserer
Mitglieder haben sich freiwillig gemeldet. Sie sind in die Armee gegangen
und kämpfen jetzt an der Front“, sagt Tetjana Teren. „Viele haben wir auch
schon verloren.“
## Festgenommen, verschleppt, ermordet
Die wohl prominenteste Autorin, die in diesem Jahr gestorben ist, ist
[2][PEN Ukraine-Präsidiumsmitglied Victoria Amelina], die noch vor Kurzem
selbst Delegationen von ausländischen PEN-Kolleg*innen organisierte. Sie
wurde am 27. Juni in Kramatorsk bei einem Ausflug mit einer Delegation bei
einem russischen Raketenangriff so schwer verletzt, dass sie wenige Tage
später starb.
Das PEN-Zentrum schenkte uns die neue Anthologie „Nothing Bad Has Ever
Happened“, in dem Journalist*innen und Weggefährt*innen an die
Autorin erinnern. Das Letzte, was Victoria Amelina als Autorin selbst noch
tat, war etwas ganz Ähnliches. Sie gab das Tagebuch des Autoren Wolodymyr
Wakulenko heraus.
Wakulenko wurde Ende März 2022 in seinem Haus in Isjum in der Region
Charkiw als Denunziant von der russischen Armee festgenommen, sein Haus
durchsucht, Manuskripte beschlagnahmt. Nach einem Tag kam er frei, nur um
kurz darauf mit seinem Sohn erneut verschleppt zu werden. Den autistischen
Sohn brachten sie zurück, zu Wakulenko brach jeder Kontakt ab. Er wurde
gefoltert und schließlich ermordet. Gut fünf Monate später, im September
2022, fand man seine Leiche in einem Massengrab, zusammen mit 400 anderen
Personen. Erst ein DNA-Test konnte seine Identität klären.
## Dokumentieren, Berichten, Sichtbarmachen
Das Tagebuch, das Amelina herausgab, hatte Wakulenko kurz vor seiner
Verschleppung in seinem Garten vergraben. Der ukrainische Fotograf Mykhaylo
Palinchak besuchte nun seine Familie und veröffentlichte eine Fotostrecke
über den Autor, sein Tagebuch, seine Geschichte, seine Familie. Alles, was
Wakulenko gewollt hat, war, die Wahrheit über den russischen Krieg seit
2015, über das Leid, über das Leben am Rand der Front zu schreiben. Das hat
ihn das Leben gekostet.
Das ist aber auch, was die Schriftsteller*innen, Fotograf*innen,
Journalist*innen und Aktivist*innen des PEN Ukraine tun, jeden Tag,
von Kyjiw aus. Dokumentieren, Berichten, Sichtbarmachen, sich damit wohl
selbst in Gefahr bringen. „Sei russisch oder tot“, hatte Maria Tomak über
das Leben auf der besetzten Krim gesagt, und so ist es auch und gerade für
ukrainische Künstler*innen. „Es ist ganz klar ein Krieg gegen die
ukrainische Kultur. Gegen unsere Sprache, unsere Kultur, Literatur“, sagt
Olena Odynoka, stellvertretende Direktorin des Ukrainian Book Institute.
So sterben Menschen in diesem Land dafür, Literatur verfasst zu haben. So
fallen Bomben genau in die Mitte des Theaters in Mariupol, so wird dem
Monument des [3][bekanntesten ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko] in
Borodjanka zweimal in den metallenen Kopf geschossen. Wenn man richtig
steht, sieht man, wie ihm die Sonne durch die Stirn fällt.
4 Nov 2023
## LINKS
[1] /Schriftstellervereinigung-PEN/!t5863672
[2] /Nachruf-auf-Victoria-Amelina/!5943160
[3] /Historiker-ueber-Geschichte-der-Ukraine/!5881389
## AUTOREN
Sophie Sumburane
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